9.
Der nächste Morgen brach schneller heran, als erwartet.
Konnte möglicherweise daran liegen, dass ich nur 30 Minuten geschlafen hatte, wegen den geschehenden Ereignissen und der Aufregung, sowie wegen der Sorge, die mich wach gehalten hatte.
Und wegen Doll.
Sie hatte die ganze restliche Nacht damit verbracht, mir irgendwelche Gedanken einzureden.
Sobald ich die Augen nur ansatzweise geschlossen hatte, fing sie an zu reden.
Sie redete.
Und redete.
Und redete.
Ununterbrochen.
Aber nicht nur ihr Gerede hielt mich wach, sondern auch die Befürchtung, dass tatsächlich einer der Creepypasta auf die Idee kommen würde, mir durch mein Fenster einen Besuch abzustatten.
So wie Mei es angekündigt hatte.
Doch es kam nicht dazu, was eine Erleichterung war.
Dennoch war ich müder, als je zuvor.
Ich beschloss, meine Müdigkeit zu verbergen und streckte mich, eher ich aufstand und verwundert meinen Blick auf den Nachtschrank neben meinem Bett richtete.
War etwa doch jemand mitten in der Nacht in meinem Zimmer gewesen?
Leicht verstört nahm ich den Gegenstand hoch in meine Hand.
Es war ein Handy.
Ich hatte mein altes Handy im Haus meines Vaters vergessen, weshalb ich überrascht war ein neues bekommen zu haben.
Es war genauso groß, wie mein altes und hatte eine durchsichtige Hülle.
Der Sensor am Rückteil scannte sofort meinen Fingerabdruck ein und entsperrte das Handy.
Das war gruselig.
Ich konnte mich nicht erinnern, dass es jemand dort hingelegt, geschweige denn, meinen Finger eingescannt zu haben.
Einen Augenblick sah ich auf den Bildschirm.
Uhrzeit.
Datum.
Eine Bildergalerie.
Die Kontaktsammlung.
Ein Notizblock.
Wirklich mehr gab es nicht.
Neugierig tippte ich auf die App mit den Kontakten.
Unbekannte, nicht eingespeicherte Nummern sprangen mir sofort entgegen.
Nur eine war eingespeichert.
Meine, unter den Namen Eve aber auch die von diesem Eyeless Jack, was mich komplett verwirrte.
Erst nach einigen Gedankengängen kam ich zu der Schlussfolgerung, dass seine Nummer eingespeichert war, weil er mein Mentor war.
Das war um einiges verständlicher.
In der Bildergalerie fand ich leider nicht wirklich was spannendes, also schaltete ich das Handy auf stand-by und beschloss mich anzuziehen.
Nachdenklich erhob ich mich, lief durch den etwas kalten Raum öffnete den Kleiderschrank.
Viel Auswahl gab es nicht.
Was erwartete ich auch?
Ich war nicht zum Vergnügen hier.
Ich konnte froh sein, überhaupt mit sauberen Sachen versorgt zu werden.
Stumm holte ich einige Stoffstücke aus dem Schrank.
Ich entwirrte ein recht groß geratenes Shirt, welches so ziemlich dem Geschmack mancher Väter beschrieb, sowie ein weiteres Oberteil, welches sehr sommerlich wirkte.
Eine Strickjacke dazu wäre sicher praktisch.
Nach langem Suchen fand ich schließlich auch eine Hose, Socken und den Rest.
Nicht wirklich, was ich sonst tragen würde, doch besser als nichts.
In meinem Kopf machte sich ein leichter Druck bemerkbar, als Doll zu erwachen schien.
Sie hatte natürlich wunderbar geschlafen, als sie mit ihrem Gerede fertig war.
Nach einigen Minuten, in denen Doll wieder anfing so viel zu Reden, dass ich sie am liebsten aus meinem Kopf geschlagen hätte, war ich umgezogen, hatte gekämmte Haare und geputzte Zähne.
Nun hieß es:
Runter gehen und Eyeless Jack an der Treppe treffen.
Schließlich begann bereits heute schon das Training.
Ich wusste nicht genau, was ich erwarten sollte.
Ich konnte nur vermuten, dass das Training den Schwerpunkt auf mentalen und körperlichen Aufbau legte.
Es brauchte Überwindung einen Menschen zu töten.
Für die einen mehr, für die anderen weniger.
Tief im Inneren wusste ich, dass ich viel Überwindung brauchen würde.
Ich konnte nicht einfach das Messer heben und jemanden umbringen.
Dagegen stellte sich mein Verstand.
Mein, noch sehr guter und gesunder, Menschenverstand.
Ich verließ mein Zimmer, an das bevorstehende Training denkend.
Das Handy hatte ich in die Seitentasche meiner Strickjacke gelegt.
Man könnte es ja irgendwann einmal brauchen.
Das Gebäude wirkte still und leer.
Wahrscheinlich waren einige der Creepypasta bereits aufgebrochen und erledigten die Aufgaben, die der Slenderman ihnen gegeben hatte.
Menschen töten.
Die Grenzen am Wald bewachen.
Schauen.
Unheimlich.
Keine Menschenseele kam mir auf meinem Weg zur Treppe entgegen.
Noch immer konnte ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, für immer hier zu leben, als wäre das alles hier völlig normal.
Denn das war es nicht.
Es fühlte sich an, als wäre ich in einem schlechten Traum gefangen.
Oder in einem falschen Film.
Doch bisher hatte ich ich noch keine Kameras oder Mikrofone gefunden.
Auch das ständige Zwicken in meinen Arm, holte mich nicht in eine andere Realität zurück.
Also schien das alles hier ziemlich echt zu sein.
Die Mörder.
Alles.
,,Wenn du weiter herum wunderst und dir immer wieder die selbe öde Frage stellst, kommen wir nie unten an." ertönte Dolls Stimme in meinem Kopf.
Schade, ich hatte sie beinahe vergessen.
Ich schüttelte leicht den Kopf.
Sie hatte recht, ich sollte mich nicht ständig im Kreis drehen, sondern mich beeilen.
Oben auf der Treppe erkannte ich Eyeless Jack auch schon, der geduldig an einer kleinen Säule lehnte und auf sein Handy starrte.
Das blau-weiße Licht ließ seine Maske leuchten.
Der braunhaarige Mörder sah auf, als er mich bemerkte, wie ich die Treppe hinunter lief.
,,Du bist früh dran." meinte er ein wenig überrascht.
Seine Stimme klang gedämpft unter der Maske, wie sonst auch.
Ich nickte kurz.
,,Ich dachte mir, ich bin besser zu früh dran, als zu spät." erwiderte ich.
Mein Blick fiel auf die Handyhülle des braunhaarigen.
Sie war schwarz und schlicht, zeigte jedoch einen weißen Sticker.
Ein Sticker, von einer Band.
,,Du hörst Three Days Grace." stellte ich erstaunt fest.
Eyeless Jack nickte und würde ich unter seine Maske sehen können, hätte ich ein leichtes Lächeln bemerkt.
Als ich jünger war, hatte ich die Band ebenfalls gehört, weshalb nun so einige Erinnerungen an meine Phase mit 13 Jahren hochkamen.
Die Band war gut gewesen.
Warum hatte ich aufgehört sie zu hören?
Kurz erinnerte ich mich, dass ich in meinem Zimmer bei meiner Tante ein Poster von ihnen zu hängen hatte, es jedoch runter nehmen musste, da es für meine Tante nichts für ein Mädchen war.
Absoluter Blödsinn.
,,Ich mochte Fallen Angel immer sehr." ergänzte ich noch.
Meine Finger spielten nervös an der durchsichtigen Hülle meines eigenen Handys.
,,Animal I Have Become,war immer mein Favorit." meinte Eyeless Jack und lief voran.
Kurz konnte ich ein warmes Gefühl in meiner Brust vernehmen.
Ich hatte ein Thema gefunden, über das wir reden konnten, ohne das es seltsam wurde.
Ich folgte dem Mörder, der inzwischen das Gebäude verließ.
Ein kalter Hauch wehte mir entgegen, als ich ihm nachlief.
Leichter Nebel war aufgestiegen.
Die leichten Tröpfchen benetzten meine Haut und Haare mit Feuchtigkeit.
Eyeless Jack öffnete eine kleine Zauntür in den Hintergarten des Gebäudes.
Grünes Gras wuchs auf der weiten Fläche, die von einem dunklen Metallzaun umrandet wurde.
Wesentlich gepflegter und schöner, als der Vorgarten meines Vaters.
Während ich mich neugierig umsah, drehte sich Eyeless Jack zu mir.
Einen Moment lang, konnte ich seinen Blick auf mir spüren.
Lang, intensiv.
Mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten konnte.
,,Fallen Angel passt zu dir." hörte ich ihn murmeln.
Ich wandte meinen Blick zu ihm und sah ihn fragend an.
Wie meinte er das?
Ich wollte ihn fragen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen und lenkte vom Thema ab.
,,Dein Training hier, wird besonders wichtig für dein Überleben in diesem Haushalt und unter den Creepypasta sein. Ich glaube zwar nicht, dass irgendwer noch versuchen wird dich zu töten, doch es wäre sicherer, wenn du dich verteidigen kannst." hob er an.
Das schien einleuchtend zu sein.
Eyeless Jack zog seine azurblaue Maske ab.
Jetzt, im leichten nebeligen Licht, sah er noch einmal ganz anders aus.
Aber nicht schlechter.
Er sah gut aus, das musste man akzeptieren.
Anders, als man es erwarten würde, von einem Mörder und Kannibale.
Fast hätte ich ihn nur stumm angestarrt, doch der braunhaarige streckte seine Hand aus und hielt sie mir entgegen, als würde er mich stoppen wollen.
,,Schlag zu." forderte er mich auf.
Ich sah ihn verwirrt an.
Warum sollte ich ihn schlagen?
Die Antwort wurde mir direkt gegeben.
,,Ich muss mir ein Bild von deiner Kraft machen, bevor wir den Trainingsplan aufbauen. Sonst verschwenden wir Zeit an Übungen, die nichts bringen." ergänzte er.
Ich nickte kurz.
Also tat ich was er tat.
Ich ballte meine Hand zu einer Faust, holte aus und steuerte sie auf seine Hand zu.
Ich glaubte, meine ganze Kraft in diesen Schlag gelegt zu haben und erwartete eine Wucht, doch Eyeless Jack erwartete den Schlag und konnte meine Hand einfach mit seiner packen.
Ohne mit der Wimper zu zucken hielt er meine Faust in seiner Hand, während leichter Schmerz durch meine Knöchel lief.
Die Kraft war zurück auf meine Finger befördert worden und schmerzte nun.
Und Eyeless Jack hatte sich nicht mal ein bisschen gerührt.
,,Nicht schlecht aber noch nicht richtig. Mit deiner Haltung würde ich dir
leicht den Arm brechen können, würde ich ihn jetzt drehen. Auch dein Stand ist ein wenig unsicher aber daran arbeiten wir." meinte er.
,,Wenigstens kommt keine sexistische Bemerkung, von wegen, dass wir ja Frauen und somit schwach sind." sagte Doll in meinem Kopf.
Ich teilte ihren Gedanken.
Eyeless Jack hatte nicht meine Fähigkeiten als Frau kritisiert, sondern gute und logische Argumente für meinen unsicheren Schlag genannt.
Jemand anderes hätte sicher gesagt:
Du schlägst schwach, wie ein Mädchen oder wie ein kleines Kind.
Er hatte es nicht getan, was für ihn sprach.
Der Mörder ließ meine Hand los.
Er hatte einen recht starken aber sanften Griff gehabt.
Seine Hand selbst, hatte sich weich angefühlt, als meine Finger leicht über die graue Haut strichen.
Und warm.
Eyeless Jack ging kurz um mich herum.
,,Stelle dein linkes Bein etwas weiter nach vorn. Verlagere dein Gewicht auf beide Beine, dann bekommst du einen besseren Halt. Bewege deinen Körper beim Ausholen etwas nach hinten, damit du Schwung bekommst. Spanne beide Arme an und konzentriere dich auf einen Punkt, den du treffen willst." korrigierte er meine Haltung und Position.
Dann stellte er sich wieder vor mich und streckte seine Hand wieder aus.
,,Versuche es noch einmal." forderte er mich auf.
Ich ließ seine Worte noch einmal durch meinen Kopf gehen.
Ich richtete meinen Blick auf seine Hand und fixierte genau die Mitte.
Dann stellte ich mein eines Bein etwas weiter nach vorne, holte wieder mit der Hand aus, spannte meine Arme an und donnerte sie mit einer noch größeren Wucht als zuvor in Eyeless Jacks Hand.
Der braunhaarige konnte sie auch dieses Mal wieder schnappen, jedoch zuckte seine Hand ein Stück nach hinten und zitterte leicht.
Durch meine Hand fuhr kein Schmerz.
Er hatte die Energie abbekommen.
,,Sehr gut." sagte er.
Bei diesem Lob klopfte mein Herz etwas schneller.
Es war keine große Sache, nur ein Schlag und noch weit entfernt von dem, was er mir beibringen würde.
Doch sein Lob freute mich, was wahrscheinlich daran lag, dass ich zuvor nie gelobt wurde.
Aber es konnte auch daran liegen, dass ich mich mit ihm ein wenig verbunden fühlte.
Ich vertraute ihm, auch wenn das völlig verrückt war.
Schließlich war er ein Mörder.
Und ein Kannibale.
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