
12.
Die goldenen Sonnenstrahlen erkämpften sich mühsam ihren Weg durch den dichten Nebel, der am nächsten Morgen den Wald in ein gespenstisches Leuten hüllte.
Die Luft war kalt und klar, wie in den Bergen, das Gras kalt und nass.
Es war still.
Kein Vogel sang und kein Farn bewegte sich.
Auf der weiten grünen Wiese suchte sich ein kleines, buschiges Wesen seinen Weg ins Freie.
Ein Eichhörnchen.
Mit aufmerksam gespitzten Ohren krabbelte es von einer Eiche auf den feuchten Boden und über die großen Wurzeln.
Mit den Pfoten kratzte es an einer weichen Stelle hinter einer Wurzel und grub ein kleines Loch.
In dieses Loch ließ das Eichhörnchen etwas fallen.
Es schien die Gefahr nicht zu bemerken, die auf es lauerte und in jenem Moment vom Himmel hinab auf die Lichtung fiel.
Ein Habicht, groß und schnell, stürzte sich auf das kleine Tier und packte es mit seinen langen Klauen.
Das Quieken des Eichhörnchens hallte durch die Stille des Waldes.
Doch noch lauter schien der plötzliche Lärm, der aus einer anderen Richtung drang.
Ein ohrenbetäubender Knall und das dumpfe Geräusch, als die kleine silberne Kugel durch das Fleisch des Habichts fuhr und das Tier augenblicklich zusammensackte.
Ich drehte den Kopf, weg von den beiden toten Tieren und sah in die Richtung, aus der die Kugel gekommen war.
Ich war nicht sonderlich überrascht, als ich Eyeless Jacks blaue Maske erblickte.
Der braunhaarige Mörder hielt einen silbernen Gegenstand in seiner Hand und bei genauerer Betrachtung erkannte ich eine Pistole.
Benutzte man für die Jagt nicht normalerweise Gewehre?
,,Morgen, Eve." sprach er plötzlich.
Ich war etwas überrascht von dieser plötzlichen Gesprächssituation, doch ich hielt meine Verwunderung im Zaum.
,,Guten Morgen." erwiderte ich schließlich.
,,Wie lange stehst du schon hier?" fragte der braunhaarige, der zuvor auf einem morgendlichen Rundgang gewesen war.
Diese Info hatte ich von Jane erhalten, weshalb ich mich bereits nach draußen begeben hatte, um auf ihn zu warten.
,,5 oder 10 Minuten. Ich genieße die Ruhe des Morgens." erwiderte ich schließlich.
Eyeless Jack blickte in die Richtung, in der er die Kugel geschossen hatte.
,,Die habe ich wohl gerade gestört." meinte er.
Ich wog leicht den Kopf.
,,Vielleicht ein wenig."
Der braunhaarige Killer kam zu mir, zog seine Maske ab und setzte die Kapuze runter.
Er wirkte wach und konzentriert von seinem Rundgang.
Auch jetzt hatte er keine glatten Haare, sondern die wellig lockige Haarstruktur vom Vorabend.
Es passte zu ihm und ließ ihn schon etwas mehr wie ein Mensch wirken.
Sanfter.
Vertrauter.
,,Ich wollte dir kurz demonstrieren, mit was wir es heute zu tun haben." sagte er und mein Blick fiel wieder auf die Pistole in seiner Hand.
,,Mit Waffen." erwiderte ich.
,,Mit einer Waffe." korrigierte er mich, was mich ein wenig überraschte.
Benutzten Mörder nicht verschiedene Waffen?
Die Pistole in Eyeless Jacks Hand wirkte so normal, wie jede andere Pistole.
Hatte er mit Slenderman abgemacht, dass ich Pistolen verwenden sollte?
Sie hatten definitiv ihre Vorteile.
Kontaktloser Mord mit wenig Schaden am Körper und eine angenehme Handlichkeit.
Doch auch Nachteile schimmerten einem entgegen.
Pistolen musste man gut beherrschen können und ein Angriff aus einer zu weiten Entfernung war oft nicht möglich, wegen der Ungenauigkeit.
Außerdem konnte man die Pistole lautstark wahrnehmen.
So würden andere Opfer schnell fliehen können.
Ich sollte mir deswegen keine Gedanken machen.
Allgemein nicht, wie ich eine Person am besten umbringen konnte.
Ich war schließlich selbst ein Opfer.
Ein Hund, der mit den Wölfen jaulte.
Das war doch verrückt.
,,Delight ist nicht einfach irgendeine Pistole. Sie gehörte ursprünglich Doll und verfügt über die Kraft, sich in jede beliebige Waffe zu verformen. Ihre Ursprungsform ist unbekannt aber Doll hatte sie immer in dieser Gestalt. Vielleicht bevorzugst du sie ja auch." erklärte Eyeless Jack.
Das war tatsächlich ein wenig interessant.
Eine Pistole, die ihre Form ändern konnte?
Das konnte durchaus nützlich sein.
So würde man in einem Gefecht schnell zwischen verschiedenen Waffen wechseln können und hätte einen enormen Vorteil.
,,Lass uns zu einer anderen Lichtung gehen. Die Waffe nehme erst einmal noch ich. Nicht, dass du auf die Idee kommst mich abzuknallen." meinte der braunhaarige Killer und lief voran.
Als ob ich das könnte.
Ich wusste nicht einmal genau, wie ich diese Waffe verwenden sollte.
Und ich konnte nicht einfach jemanden töten, im Gegensatz zu ihm.
Er schien Spaß daran zu haben, doch bei mir stellte sich direkt eine Wand auf, wenn ich nur daran dachte jemanden töten zu können.
Ich konnte es einfach nicht.
Und genau deswegen würde dieses ganze Training kein Spaziergang werden.
Ich folgte Eyeless Jack schweigsam und in Gedanken versunken.
Ich fragte mich, wie diese Leute denken konnten, dass es für mich so einfach werden würde einen Menschen zu töten.
Jeder normale Mensch musste doch auch diese Blockade fühle, die man nicht, oder eher selten, überwinden konnte.
Diese Leute hier waren krank.
Allesamt.
Ein mörderisches, krankes Pack.
Es war zum erschaudern.
,,Du wirkst müde. Konntest du nicht schlafen?" riss mich Eyeless Jacks Stimme aus meinen Gedanken.
War meine Müdigkeit so offensichtlich?
Ich schüttelte leicht den Kopf.
,,Es ist etwas schwierig mit einem beschwippsten Geist im Kopf zu schlafen." erwiderte ich, womit ich eindeutig Doll meinte, die noch seelenruhig wie ein Baby schlief.
Doch Doll war nicht der einzige Grund gewesen, warum ich nicht schlafen konnte.
Jeff.
Jeff der Mörder, der mir gesagt hatte, mein Blut würde an seinen Händen kleben.
Doch davon sollte ich Eyeless Jack besser nichts erzählen.
Sonst würde er mich noch für ein kleines Kind halten.
Der braunhaarige Killer nickte leicht vor sich hin.
,,Sie sollte ihren Alkoholkonsum beschränken." meinte er.
Mir kam dieser Smalltalk etwas unangenehm und erzwungen vor.
Als ob es ihn wirklich interessieren würde, wie es mir ging und was ich dachte.
Er fragte das sicher nur, damit keine unangenehme Stille auftrat.
Wobei die Stille zwischen unseren Gesprächen viel unangenehmer waren, als wenn wir durchgehend schweigen würden.
Ich betrachtete den vor mir laufenden jungen Mann mit meinen blauen Augen.
Er wirkte angespannt.
Auch wenn er die Hände entspannt in den Taschen seiner Jacke hielt, waren seine Schultern gestrafft, als würde er darauf warten, dass jemand oder etwas uns angreifen würde.
Eine Erwartungshaltung.
Augenblicklich spannte sich auch mein Körper ein wenig an.
Dieser Wald wirkte so düster und verflucht, sodass sich hier mystische und gefährliche Kreaturen neben den Creepypasta wohl fühlen würden.
Verbarg dieser Wald vielleicht noch mehr Gefahren, als die Mörder in dem Haus?
Dieses seltsame Wesen Seedeater war sicher nicht die einzige mörderische Kreatur hier.
Bei dem Gedanken hier auf irgendwelche Monster treffen zu können, breitete sich eine Gänsehaut auf meinem Körper aus.
Ich konnte die rot, halbtoten, glühenden Augen schon vor mir sehen und ihre Schreie in meinen Ohren hallen hören.
Schreie, lang und qualvoll.
Gespenstisch mit der Dunkelheit und dem, aus einen Bach aufsteigenden Nebel, der allmählich die Bäume und Büsche nach und nach verschlang.
Schreie, die den Tod ankündigten.
Ich wurde aus meinen düsteren Gedanken gerissen, als mich Eyeless Jack wieder mit meinem Namen ansprach.
Mit noch geweiteten Augen blickte ich ihn an.
Er hatte mir seinen Kopf zugedreht und sein Ausdruck wirkte ein kleines bisschen besorgt.
,,Du bist manchmal so...abwesend." meinte er.
Ich zuckte leicht mit den Schultern, während wir vom Wegesrand abbogen.
,,Ich verliere mich manchmal in meinen Gedanken." erwiderte ich.
Jetzt, wo Doll noch schlief und nicht wie ein Wasserfall mit mir sprach, konnte ich schnell und viel Nachdenken.
Das war verlockend mich in tiefe Gedankengänge zu stürzen und in ihnen zu ertrinken.
,,Du solltest dich auf das Training konzentrieren." sagte der braunhaarige und wandte den Kopf wieder ab.
Er wirkte nicht verärgert oder frustriert, sondern eher neutral.
Ich nickte leicht.
,,Mach ich." erwiderte ich, jedoch konnte ich spüren, wie sich meine Gedanken langsam wieder anfingen im Kreis zu drehen.
Also widmete ich mich einem anderen Thema, um nicht wieder abwesend zu sein.
,,Wie war es für dich, als du hierher kamst?" fragte ich Eyeless Jack vor mir.
Unterhaltungen mit ihm fühlten sich oft nicht wirklich freiwillig an, doch ich musste mich irgendwie beschäftigen.
Und er würde sicher einige Dinge hier anders erlebt haben, als ich.
,,Nicht besonders. Ein wenig anders, wie du es gerade erlebst, aber so anders nun auch wieder nicht."
Er wollte nicht wirklich darüber reden, das wurde mir direkt klar.
Er musste sich denken:
Was will sie jetzt von mir?
Warum will sie das wissen?
Hat sie nichts besseres zu tun?
Nein, hatte ich nicht.
Also harkte ich weiter nach.
,,Du hast gesagt, du wurdest von einer Sekte für etwas geopfert. Wie kam es dazu?"
Eyeless Jack wandte mir wieder sein Gesicht zu.
Es hatte einen neutralen, ruhigen Ausdruck.
,,Warum willst du das wissen?" fragte er zurück.
Ich zuckte wieder mit den Schultern.
,,Nur so. Du hattest davor doch sicher ein normales Leben, oder? Oder wurdest du geboren um geopfert zu werden?" erwiderte ich und die Neugier in mir wuchs.
Der Killer musste etwas schmunzeln.
,,So eine Horror-Sekte war es nicht. Dafür waren sie alle viel zu jung." meinte er.
Interessiert sah ich ihn an.
Zu jung also.
Wann wurde er geopfert?
Wie lange war es her und wie alt war er überhaupt?
Eyeless Jack bemerkte meinen Blick und seufzte kurz.
,,Du willst jetzt sicher alles hören, was?" fragte er.
Ich hob ein wenig die Mundwinkel.
,,Du wirst nicht drum herum kommen." erwiderte ich.
Hätte der Killer noch seine Augen, hätte ich ihn ihnen ein belustigtes Funkeln erblicken können.
,,Ich merk schon, du kannst dich durchsetzten." meinte er und kurz hatte ich das Gefühl, dass etwas zwischen uns aufblühte.
Vertrauen?
Vertrautheit?
Es fühlte sich warm an.
Wie, wenn die goldenen Sonnenstrahlen durch die dunklen Wolkendecken stachen und einen die Haut erwärmten.
Eyeless Jack senkte leicht den Kopf.
,,Ich war vor meiner Opferung ein ganz normaler und ruhiger Schüler. Na gut, einmal haben meine Freunde und ich echt Mist gebaut, wofür wir eine Woche von der Schule suspendiert wurden. Doch ich wusste genau, was ich im Leben erreichen wollte." begann er.
Gespannt hörte ich zu.
Er ging also wirklich zur Schule, bevor er geopfert wurde.
Wie Nina es gesagt hatte.
,,Was wolltest du denn erreichen?" fragte ich und bekam auch direkt meine Antwort, die mich ein wenig überraschte.
,,Medizin studieren. Mein Vater war Arzt und demnach hatte ich die Nase immer in seinen Medizinbüchern oder verbrachte meine Zeit bei ihm in der Praxis. Meine Freunde hielten mich für einen Streber, waren dann aber immer die ersten, die zu mir kamen, um ihre Skateboard-Wunden verarzten zu lassen." erklärte er.
Das passte zu ihm.
Ich konnte mir gut vorstellen, wie er auf dem Pausenhof der Schule ineiner Ecke saß und in den Büchern stöberte.
,,Meine Opferung hat tatsächlich ein wenig was mit Doll zu tun."
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz an ihn, als er den Namen der glühenden Frau erwähnte.
Mit Doll?
,,Inwiefern?" fragte ich.
Kurz schien Eyeless Jack zu zögern und zu überlegen, ob und wie viel er mir darüber verraten sollte.
,,Ich glaube jetzt ist noch nicht der richtige Zeitpunkt, dir davon zu erzählen. Im Endeffekt war meine Opferung der Grund, warum ich jetzt diese Person hier bin. Es war hart für mich zu verstehen, was mit mir geschehen war, doch nach und nach kam die Akzeptanz. Wir alle hier können nur akzeptieren, was uns widerfahren ist, weil wir nichts mehr daran ändern können. Wir können nur weiterleben." meinte er.
Ich war enttäuscht.
Warum war es noch nicht der richtige Zeitpunkt, mir von Dolls Anteil an seiner Geschichte zu erzählen?
War Dolls Anteil so grausam, dass ich es nicht ertragen könnte?
Was hatte sie ihm angetan?
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