31. Kapitel
Es dauerte einige Tage, bis Madam Pomfrey mir endlich erlaubte, den Krankenflügel zu verlassen. Ich war mir sicher, dass sie es insgeheim nur tat, weil sie keine Lust mehr hatte, sich mit meinen Freunden zu befassen, die in gefühlt jeder freien Minuten bei Kaspar und mir herumhingen. Sie hatten den Finjarelle-Schüler und ehemaligen Obscurial ohne zu zögern in unsere Gruppe aufgenommen und erzählten ihm mit Freuden von den Errungenschaften, die sowohl die magische Welt als auch die Muggelwelt seit dem elften Jahrhundert gemacht hatte. Ich wusste mittlerweile, dass meine Zeit, die ich in der Vergangenheit verbracht hatte, mit der, die in meiner Zeit vergangen war, übereinstimmte. Das hiess auch, dass die Jahresabschlussprüfungen bevorstanden und da ich dieses Jahr kaum Erfahrungsnoten gesammelt hatte, hing alles von ihnen ab. Professor McGonagall, meine Hauslehrerin – irgendwie war es schräg wieder eine Gryffindor zu sein – hatte mich darüber aufgeklärt, dass sie für mich eine Sonderregelung für die Prüfungen hatte herausschlagen können: Ich musste nur die Hälfte der Fächer bestehen, anstatt drei Viertel, und auch die Regelung mit dem genügenden Schnitt war für mich dieses Jahr aufgehoben.
«Ihre Lehrer werden Sie vor den Prüfungen noch auf Ihren Wissenstand prüfen, Miss Seanorth», hatte sie mir erklärt und so streng geguckt, wie nur sie es konnte. «Bei Bedarf werden sie versuchen, sich extra für Sie etwas Zeit freizuräumen, um Ihnen Nachhilfe zu geben, also seien Sie aufgeschlossen.»
Was mit Kaspar geschehen sollte, war ebenfalls eine Frage, die sich uns stellte. Dumbledore tauchte eines Nachmittags ganz plötzlich zusammen mit meiner Ma im Krankenflügel auf und zauberte zwei bequeme Sessel aus dem Nichts herbei, damit sie sich zu uns setzten konnten, um das Thema zu erörtern.
«Ich würde mir wünschen, dass sie in Hogwarts bleiben, Mr Shade», hatte der Schulleiter das Gespräch eröffnet, «aber selbstverständlich steht es Ihnen frei zu gehen.»
Kaspar hatte auf diese Worte hin gelacht. «Professor, Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich nirgendwo sonst hinkann. Ich habe keine Familie – hatte nie eine ausser Professor Finjarelle und meinen Freunden aus meinem Haus – und ausserdem bin ich mit der Welt da draussen komplett überfordert. Mir schwirrt bereits der Kopf, wenn Cedric, Jessie, Fred, George und all die anderen mir davon erzählen.»
«Dann bleiben Sie also hier?», fragte Dumbledore hoffnungsvoll und schaute Kaspar mit Hundeblick an.
Dieser seufzte. «Ja, ich werde wohl hierbleiben.»
«Sehr gut! Ich bin mir sicher, Sie werden für uns alle eine Bereicherung sein.»
«Wohl kaum», murmelte Kaspar; allerdings so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte.
«Sehr schön, dann kommen wir zum zweiten Punkt, den ich mit Ihnen besprechen möchte», sagte Dumbledore eifrig. «Es ist leider nicht möglich, dass Sie über den Sommer hier im Schloss bleiben –»
«Ich muss zurück in die Muggelwelt!?», fiel Kaspar dem Schulleiter aufgebracht ins Wort.
«Ähm ... zurück? Ich kann ihnen nicht ganz folgen ...», stammelte der Schulleiter aus dem Konzept gebracht und beobachtete Kaspar neugierig.
«Nicht ganz», sprang meine Ma ein. «Ich habe mit Alb- Professor Dumbledore bereits darüber gesprochen, und wenn du möchtest, dann nehme ich dich gerne bei mir auf», bot sie an und ich glaubte, mich verhört zu haben. «Du wirst nicht zurück müssen in die Muggelwelt», versicherte Ma ihm und ich sah sie verwirrt an. Nicht zurück in die Muggelwelt? Wie meinte sie das? Wir wohnten doch in London.
«Ich bin umgezogen», verkündete sie grinsend, «und zwar nach Londinium!»
«Londinium ist doch eine Muggelstadt», bemerkte Kaspar, während ich meine Ma nur verständnislos ansah.
«Nicht mehr», sagte meine Ma vergnügt. «Ihr werdet es lieben, versprochen.»
Ratlos guckten Kaspar und ich uns an.
«Gut, wenn das dann geklärt ist, dann möchte ich mit Ihnen über Ihre schulischen Leistungen sprechen, Mr Shade. Haben Sie das Angebot meiner Kollegin an Miss Seanorth hier mitbekommen?», fragte Dumbledore. Kaspar nickte. «Das gleiche Angebot möchte ich Ihnen unterbreiten, wobei ich noch etwas weitergehen möchte: Da Sie aus einer anderen Zeit stammen und sich die Zauberei seither doch ziemlich verändert hat, müssen Sie die Prüfungen dieses Jahr nicht bestehen, auch wenn es natürlich wünschenswert wäre. Wir werden Sie jetzt schon in Hogwarts aufnehmen, ihre Leistungen aber offiziell erst ab dem nächsten Schuljahr bewerten, damit sie bis dahin Zeit haben, den verpassten Stoff nachzuholen.»
«Aber Professor, wie soll Kaspar das machen, wenn wir ausserhalb der Schule nicht Zaubern dürfen?», unterbrach ich Dumbledore.
«Oh, habe ich vergessen, das zu erwähnen? In Londinium wird es euch möglich sein zu zaubern. Es ist wirklich ein wunderbarer Ort, dieses Londinium, ihr werdet es lieben», sagte Ma fröhlich.
Nach diesem doch sehr verwirrenden Gespräch hatte meine Ma von Madam Pomfrey die Erlaubnis erwirkt, mit mir einen Spaziergang über die Ländereien zu machen – allein – und ich wusste, dass nun der Zeitpunkt gekommen war und ich meine Antworten bekommen würde. Schweigend gingen wir nebeneinander her hinunter zum Schwarzen See. Ma schlug einen Pfad ein, von dem ich wusste, dass er um den ganzen See herumführte – es würde wohl ein längeres Gespräch werden.
«Also, Adrienne, was weisst du über mich?», stellte Ma schliesslich die erste Frage und damit ausgerechnet eine, mit der ich im Leben nicht gerechnet hätte.
«Was ich ... über dich weiss?»
Ma nickte. «Ja, genau. Ich habe bereits gestanden, dass ich in vielen Dingen gelogen habe. Es nimmt mich Wunder, was du alles selbst herausgefunden hast.»
«Naja, also, du bist ein Fey», begann ich aufzuzählen, «eine eher junge, weil du noch nicht so viele Feymerkmale entwickelt hast, wie zum Beispiel die spitzen Zähne und die spitzen Ohren, aber wahrscheinlich doch schon etwas älter wegen der schrägstehenden Augen.» Die hatte Xameria nämlich auch noch nicht gehabt. «Dann ... ich glaube nicht, dass du eine gewöhnliche Bankangestellte bist, wie du immer behauptet hast ... und ich bin überzeugt, dass du weisst, wie man mit einem Schwert umgeht und sehr viel über die magische Welt weisst, auch wenn du mir nie etwas darüber erzählt hast.»
Ma nickte wieder und sah dabei nachdenklich in die Ferne. «Dann weisst du schon einiges ... wo soll ich beginnen? Nun, mein Alter hast du jedenfalls schon einmal falsch geschätzt», sagte sie und grinste mich plötzlich mit spitzen Zähnen an und auch ihre Ohren waren spitz geworden. «Zauber, die einen Teil meines Aussehens verschleiern», erklärte sie, «nur für die Augen habe ich keine gefunden, die nicht gleichzeitig meine Sicht trüben, also hab' ich es sein lassen. Die meisten Leute schrecken vor einem zurück, wenn man ihnen spitze Zähne zeigt, und da ich dich in der Muggelwelt habe aufziehen wollen ...»
«Wie alt bist du?», fragte ich schüchtern dazwischen.
Meine Ma lächelte mir zu. «Ich wurde 1598 geboren, also bin ich 392 Jahre alt.»
Fast vierhundert also, boah, das war viel.
«Ja, die Zeiten damals waren ganz anders als heute», erzählte Ma und driftete dabei in Erinnerungen ab, während wir weiter und weiter dem Pfad um den schwarzen See folgten. «Die magische Welt hatte sich noch nicht von der der Muggel getrennt ...» Sie schüttelte den Kopf und riss sich von ihren Erinnerungen los. «Wie auch immer ... Also deine Vermutungen darüber, dass ich sehr wohl über die magische Welt Bescheid weiss und auch mit einem Schwert umgehen kann – meisterhaft übrigens und ich würde bei Gelegenheit gerne herausfinden, wie viel du gelernt hast – das kann ich bestätigen.»
Eine Weile herrschte Stille zwischen uns, bevor ich eine Frage stellte, die mich seit jenem Abend in den Sommerferien beschäftigte: «Wenn du keine Bankangestellte bist ... als was arbeitest du dann? ... bist du eine ... Assassine?»
Ma lachte amüsiert auf. «Das hast du dir zusammengereimt?», fragte sie und konnte sich kaum mehr einkriegen. «Nun, wahrscheinlich hat es für dich so ausgesehen, was?» Sie kicherte wieder und es dauerte eine ganze Weile, bis sie es schaffte, sich wieder zusammenzureissen. «Tatsächlich habe ich einen sehr seriösen Job beim Innenministerium», erklärte sie mir dann und ich sah sie ungläubig an. Meine Ma arbeitete für die britische Regierung? Wollte sie mir gerade einen Bären aufbinden?
«Nein, diesmal ist es absolut die Wahrheit, obwohl ich das wohl etwas präzisieren muss: Im Innenministerium gibt es eine geheime Abteilung, die das Zusammenleben der Muggel und der verschiedenen magischen Gesellschaften regelt: die Abteilung für die Zusammenarbeit der magischen Gemeinschaften Grossbritanniens, oder kurz: AZMGUK.»
Wahrscheinlich sah ich meine Ma jetzt an, als hätte sie sich ganz plötzlich in einen flauschigen Hasen verwandelt, jedenfalls lachte sie wieder, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. «Nun ja, wahrscheinlich muss ich noch etwas weiter ins Detail gehen, obwohl es eine Geheimabteilung ist, was? Das AZMGUK befasst sich vor allem damit, das friedliche Zusammenleben zwischen den verschiedenen Gemeinschaften zu erhalten oder, wenn das nicht möglich ist, sie voneinander zu trennen. Es ähnelt in gewisser Weise der Abteilung des Zaubereiministeriums, die für die Muggelabwehr zuständig ist und nach magischen Umfällen die Gedächtnisse der Muggelzeugen verändern. Mein persönliches Ressort ist die Katastrophenabteilung, wir werden eingeschaltet, wenn es zum Äussersten kommt und man mit Worten allein den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen nicht mehr Einhalt gebieten kann. Meine Leute stammen aus den verschiedensten Gemeinschaften – Hexen, Zauberer, Fey, Dryaden, Nymphen, Unsterbliche, Begabte und natürlich auch Muggel – und sie sind allesamt erfahrene Krieger.»
«Also, dass im Sommer, dieser Notfall im Geschäft, wegen dem du deine Ferien hast sausen lassen ...», setzte ich an.
«Eine ziemlich unschöne Geschichte. In Wales haben einige Drachen einen Wald in Brand gesteckt, in dem viele Dryaden lebten. Viele von ihnen sind dabei gestorben, also haben sie sich mit einigen Nymphen zusammengeschlossen und weiteren Naturwesen, die ebenfalls etwas gegen die Drachen hatten. Die ganze Sache ist in eine Art Kleinkrieg ausgeartet und ich musste mit meinen Leuten schliesslich hart durchgreifen. Wir hatten schlussendlich keine andere Möglichkeit, als den Anführer der Drachen, der sich vollkommen uneinsichtig und stur zeigte, zu töten. Ich tu sowas nicht gern, aber wahrscheinlich haben wir jetzt für eine Weile Ruhe.»
Sprachlos hatte ich Ma's Erzählungen gelauscht. Drachen und Dryaden, die sich in Wales bekriegten? Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es in Grossbritannien noch Drachen gab. Oder Dryaden, was meine Gedanken zu William brachte. Was wohl aus ihm geworden war und aus Elaine und Xameria?
«Was hat es eigentlich mit diesem Londinium auf sich», schnitt ich schliesslich ein neues Thema an und entlockte meiner Mutter damit erneut ein breites Lächeln. Ich glaube, ich hatte sie in den letzten Tagen öfters Lächeln sehen als in den ganzen Jahren davor. Ausserdem schien sich auch unsere Beziehung zueinander wieder einzurenken und endlich zu einer normalen Mutter-Tochter-Beziehung zu werden.
«Londinium ist fantastisch», eröffnete Ma. «Es ist vom Prinzip her wie die Winkelgasse, ein vor den Muggeln verborgener Stadtteil von London, nur dass man dort die verschiedensten Arten von magischen Geschöpfen antrifft und es viel grösser ist. Londinium entspricht dem London aus dem fünften und sechsten Jahrhundert nach Christus, als die Stadt selbst noch so geheissen hat, also der Zeit von Merlin, König Artus und den Tafelrittern.» Die Augen meiner Mutter leuchteten während sie erzählte. «Es wird also sowohl für Kaspar als auch für dich eine vollkommen neue Erfahrung sein.»
«Wieso warst du eigentlich einfach so bereit, Kaspar bei uns aufzunehmen?», fragte ich sie.
«Einfach so», Ma gluckste erheitert. «Einfach so würde ich das nicht nennen. Ich wusste, dass er irgendwann auftauchen würde.»
«Moment ... du wusstest es!?», fragte ich verwirrt und blieb wie angewurzelt mitten auf dem Pfad stehen.
«Nun, ich habe es zumindest vermutet. Oder besser gesagt: Xameria hat vermutet, dass er mit dir zusammen in deine Zeit gereist ist, als ihr ganz plötzlich verschwunden wart.»
Jetzt guckte ich nur noch verwirrter. Ma hatte mit Xameria gesprochen? Hiess das etwa, meine Freundin war noch am Leben? Nun, so unmöglich war das eigentlich auch gar nicht; Xameria war schliesslich eine Fey und somit unsterblich.
«Nein, sie lebt nicht mehr, sie starb im Dreissigjährigen Krieg», beantwortete Ma meine unausgesprochene Frage.
Oh. «Aber du kanntest sie?»
«Ja, Xameria war meine Grossmutter. Sie hat mir immer Geschichten erzählt. Die Geschichte von euren Ermittlungen zum Mord an Finëa di Finjarelle war immer eine meiner Lieblingsgeschichten, vor allem, da sie noch nicht zu Ende war. Xameria war immer davon überzeugt, dass du die Lösung des Rätsels gefunden hast und deswegen verschwunden bist und ich habe immer darauf gebrannt, zu erfahren, wer es denn nun war. Ich hatte den Glauben daran, dass ich die Lösung je erfahren werde, schon aufgegeben und mir nichts gross dabei gedacht, als ich den Namen Seanorth annahm – nach einer Heldin aus den Geschichten meiner Grossmutter», meine Ma zwinkerte mir zu und mir wurde klar, dass sie mich meinte. «Aber als du dann plötzlich da warst ... auf einmal war da wieder die Möglichkeit, dass ich die Auflösung des Mordes doch noch erfahren würde.»
Ich lächelte in mich hinein, während meine Mutter von Xameria erzählte. Es war schade, dass sie nicht mehr lebte, doch irgendwie war sie doch noch da; in meiner Mutter, die ihr in ihrem Temperament und ihrer Begeisterung so unglaublich ähnlich war. Der Kreis hatte sich geschlossen. Aber dann machte mich etwas stutzig.
«Was meinst du damit, dass ich plötzlich da war?»
Ma's Wangen färbten sich rot und sie schlug sich die Hand vor den Mund, als habe sie etwas gesagt, was sie gar nicht hatte sagen wollen.
Und da dämmerte es mir plötzlich und ich spürte, wie alle Farbe aus meinem Gesicht wich. «Das hat nicht zufällig etwas damit zu tun, dass Finëa mir hat ausrichten lassen, ich sei keine Fey?», fragte ich tonlos.
Ma sah betreten aus, nickte dann aber. «Komm.» Sanft zog sie mich zu einem grossen, sonnenwarmen Felsen am Ufer des schwarzen Sees.
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