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𝑾𝒆𝒏𝒏 𝒅𝒖 𝑩𝒂𝒖𝒔𝒕𝒆𝒍𝒍𝒆𝒏 𝒖𝒎𝒇𝒂̈𝒉𝒓𝒔𝒕 ...
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Mein Borstenpinsel fuhr über die Leinwand und hinterließ eine von vielen gelben Spuren, die sich von rechts oben nach links unten durchschlängelten. Ich drehte ihn immer wieder, sodass die Linie mal dünner, mal dicker verlief, während er sich durch ein Meer an blauen und orangen Farben einen Weg bahnte. Dann tauchte ich wieder in die Farbe, setzte dieses Mal im unteren Bereich an und ließ mich treiben. Beobachtete lediglich, was meine Spur gerade kreuzte, ehe ich fortfuhr.
Wie ich es liebte, dem Ganzen seinen Lauf und mich dabei überraschen zu lassen, was am Ende entstehen würde. Das machte für mich den Reiz beim Malen aus. Etwas Unerwartetes und Einzigartiges aus meinen Gefühlen heraus schaffen.
Und falls mir irgendetwas nicht mehr gefiel, konnte ich ja wieder übermalen.
Wäre es in meinem Leben nur auch so einfach. Den Dingen seinen Lauf lassen. Und wenn etwas nicht so klappte, wie ich es wollte, dann einfach überspielen. Als wäre es nie passiert. Lange Zeit hatte ich das gemacht. Oder eher versucht. Ich hatte diesen allesverändernden Moment aus meinem Gedächtnis und Leben verbannen wollen, sodass er niemals wiederkehren sollte. Ich hatte ihn weggesperrt, um ihn zu vergessen. Ich hatte alles getan, damit ich mich nicht mehr daran erinnern musste.
Als hätte man eine Leinwand radikal mit weißem Lack überzogen. Was sich darunter verbarg, konnte man nicht mehr erkennen. Es nicht mehr abrufen. Denn es war nicht mehr da. Bis es einen Schlag machte, der Lack aufgebrochen wurde und den Untergrund wieder freigab. Man versuchte die Schwachstelle zu reparieren, aber es ging nicht. Das, was durch den Schaden freigelegt worden war, hatte Erinnerungen geweckt und plötzlich war da wieder ein Teil des Bildes präsent.
Die Oberfläche bröckelte immer weiter. Nichts ließ sich mehr verstecken. Und plötzlich war man wieder mit dem gesamten Chaos konfrontiert, das man versucht hatte, zu vergessen. Alles sah beschissen aus. Die ganzen Baustellen auf der Leinwand, mit der man so sehr gekämpft hatte, waren wieder da und sie verschwanden nicht von alleine.
Was also tun? Erneut übermalen und vergessen und von Neuem anfangen? Hoffen, dass niemals wieder ein Riss entstehen konnte, der Vergangenes offenbaren konnte? Weiter mich selbst betrügen und belügen?
Nein, es gab kein Übermalen mehr. Es musste eine Lösung her. Und diese Lösung lag darin, am Bild zu arbeiten. So lange bis es passabel aussah. Bis man damit zufrieden war. Es musste nicht perfekt sein und auch nicht jedem gefallen, aber man selbst sollte glücklich damit sein. Dahinter stehen. Jeder Pinselstrich, egal ob gut oder schlecht gesetzt, führte unweigerlich zu dem Punkt, an dem man sich am Ende befand. Die Frage war nur, ob es dieses Bild am Ende auch wert war, aufgehängt zu werden. Hatte sich der ganze Kampf mit der Leinwand gelohnt?
Um das herauszufinden, musste ich – um es mit Annas Worten zu sagen – etwas tun. Ich musste daran arbeiten. Nicht nur an dem Gemälde vor mir. Sondern vor allem an meinem Leben. An mir. Musste diese ganzen Baustellen nach und nach beheben, sodass eine Besserung auftreten konnte.
Eine Herausforderung davon wartete gleich heute auf mich. Beim Gedanken daran, meinen Vater zu sehen, zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen. Wie sollte ich ihm nach dem Weihnachtsdesaster begegnen? Seither hatte er mich mehrmals angerufen. Und ich? Ich hatte jedes Mal die Sekunden verstreichen lassen, bis er aufgelegt hatte.
»Elli?« Kira stupste mich an und ich ließ vor Schreck fast Palette und Pinsel fallen. Sie schenkte mir als Entschuldigung ein Lächeln und strich mir sanft über den Arm. »Dein Handy leuchtet. Du wirst gerade angerufen, glaube ich.«
Innerlich verdrehte ich die Augen, wenngleich sich ein Stechen in meinem Bauch bemerkbar machte. Nicht schon wieder. Wir würden uns doch später sowieso sehen. Was wollte er jetzt? Oder rief er gerade an, um abzusagen? Das wäre zumindest typisch.
Mit dieser Hoffnung hetzte ich zu meinem Smartphone und erstarrte. Es war nicht Reinhard.
»Weißt du was? Ich hole mir jetzt mal 'nen Kaffee für uns«, sagte Kira und lächelte mich erneut an. Wenn das mal nicht der Wink Ich-lass-dich-mal-allein-damit-du-in-Ruhe-telefonieren-kannst war. Flink schnappte sie sich ihr Portemonnaie und verschwand aus dem Saal, während ich ihr geistesabwesend hinterherschaute.
Meine Augen fixierten aufs Neue die Buchstaben auf dem Bildschirm. Scheiße. Nächste Baustelle. Ich will nicht. Wie immer ließ ich die Gelegenheit zur Klärung einfach vorüberziehen ... Aber ich wollte doch kämpfen, oder nicht?
Mit schwitzigen Händen griff ich nach dem Handy. Aber ehe ich mich dazu durchringen konnte, auf Annehmen zu sliden, brach der Anruf ab. Na ja, der Wille war zumindest kurz da gewesen. Warum fühlte ich mich dann dennoch absolut schäbig?
In der nächsten Sekunde ploppte eine Nachricht auf und ich klickte schneller darauf, als ich bis drei zählen konnte und überflog die Worte.
Jenni:
Hey Queen Elli – zumindest bist du genauso schwer wie sie zu erreichen! 😂
Wie gehts dir? Kommst du morgen Abend auch zu Reiners Geburtstag? Ich würde mich so freuen, wenn wir uns endlich wiedersehen würden! Melde dich, auch wenn es nur über deinen königlichen Sekretär möglich sein sollte. 😜
Drück dich ❤️
Dass ich damit einen Fehler begangen hatte, wurde mir erst bewusst, als das Gebimmel ein weiteres Mal losging. Sie hatte natürlich gesehen, dass ich online bin – ich Depp. Was blieb mir also anderes übrig?
»Wow, hey, Elli – du lebst! Ich habe schon gedacht, dich gibts nicht mehr oder die Nummer ist neu vergeben. Moment – ist hier denn überhaupt Elli am Ende der Leitung?« Es war überraschend schön, Jennis Stimme zu hören. Obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte, eingeschnappt zu sein, weil ich sie wochenlang ignoriert hatte, klang sie kein bisschen seltsam. Einfach herzlich wie immer.
»Nein, königlicher Sekretär am Apparat«, sprach ich mindestens eine Oktave tiefer und konnte mir gerade so das Lachen verkneifen. »Queen Elli ist wie immer schwer mit künstlerischen Angelegenheiten beschäftigt, deswegen ...«
Und schon brach das Gelächter aus. Es war so befreiend und plötzlich kam ich mir absolut bescheuert vor, dass ich Jenni so lange aus dem Weg gegangen war. Aber ich hatte Angst gehabt. Diese scheiß Angst. Die machte mir ständig einen Strich durch die Rechnung.
»Okay, Herr Elli-Sekretär ...« Jennis Gegluckse ließ sie unterbrechen. »... dann richten Sie ihr doch bitte aus, dass die Angelegenheit äußerst dringlich ist!«
Ich biss mir auf die Lippe, aber das Lachen hörte nicht auf. Dann atmete ich ein paar Mal durch. »Nun, ich werde es an die Durchlauchtheit weitergeben ... Aber versprechen kann ich nichts.« Der letzte Teil klang stimmlich schon wieder viel zu hell, weil ich das Kichern einfach nicht ganz unterdrücken konnte. Jenni ging es da wohl genauso, denn sie stieg erneut beim Lachen mit ein.
»Elli, im Ernst jetzt! Ich kann nicht mehr ... Eine Minute mit dir und mein Bauch tut weh. Ich habe dich wirklich so was von vermisst! Die Uni hat dich ziemlich eingespannt, oder?«, fragte Jenni nun tatsächlich mit ernsthafterem Tonfall.
»Das trifft's«, erwiderte ich, wobei ich den Lernmarathon absolut freiwillig jeglichen Freizeitaktivitäten vorgezogen hatte. Das musste echt was heißen ...
»Wie gehts dir? Wie läufts so?«
Das willst du nicht wissen ...
»Alles gut so weit. Die Prüfungen sind fast alle rum, aber es stehen noch ein paar Hausarbeiten an«, sagte ich und überlegte krampfhaft, wie ich schnellstmöglich wieder von mir ablenken konnte.
»Oje, du Arme! Ich hoffe, du hast gute Themen, sonst sind die Recherche und das Schreiben echt grausig«, entgegnete Jenni mitfühlend und seufzte.
»Bisher gehts. Literatur habe ich mir schon besorgt und grobe Gliederungen erstellt. Aber der Löwenanteil wartet noch sehnlichst auf mich.« Ich räusperte mich, um weiter Zeit zu schinden. Small Talk war nicht unbedingt meine Stärke, also musste echt die Standardfrage herhalten. »Wie gehts dir so?«
»Danke, auch ganz gut! Ich habe dieses Semester tatsächlich nicht ganz so viel Stress am Ende. Das hat Emilia natürlich gleich genutzt, um mich für die Vorbereitungen zu Reiners Geburtstag einzuspannen. Ich bin gestern fünf Stunden mit ihr und Angie unterwegs gewesen. Essen, Dekozeugs und noch ein paar unnütze Sachen, in denen wohl nur meine perfektionistische Schwester einen Mehrwert sieht.«
»Wow, das klingt ...«
»Furchtbar? Ja, das war es ... Ich bin gespannt, was ihr morgen einfallen wird, was ich spontan noch schnell übernehmen soll.« Jenni stieß hörbar die Luft aus. »Es ist ja wirklich toll, dass sie Angie so unterstützt, aber dafür stellt sie halt gleich mal eine Hand voll Leute als persönliche Sklaven ein.«
Das kann ich mir zu gut vorstellen.
»Möchtest du mich in meinem Leid wieder einmal unterstützen? So wie bei den Luftballons?«
Wenn Joshua nicht wieder spontan ihren Part übernimmt ...
Hoffentlich kam der morgen nicht. Aber bei meinem überragenden Glück. »Ich weiß noch nicht, wann ich morgen komme. Aber ich denke, ich werde bei der Feier mit Andi zusammen bei den Getränken helfen. Wir wollen eine Art Tresen als Bar draußen aufstellen.«
»Ja, davon hat er mir schon erzählt. Eine wirklich tolle Idee!«, sagte Jenni mit Begeisterung, sodass ich sofort ihr Lächeln vor Augen hatte. Dann räusperte sie sich und es wurde einen Moment lang still.
Oh, oh ... Der Alarm schlug schon aus, aber es war zu spät.
»Joshua wird morgen auch kommen.«
Was hab' ich gesagt? Super, das wird dann wohl morgen ein grandioser Abend!
»Schön«, presste ich gerade so hervor, während mein Mund sich auf einmal ganz trocken anfühlte, weil ein Kloß die Speichelzufuhr blockierte.
»Schön?«, wiederholte sie ungläubig.
Erneute Stille. Aber was sollte ich sagen? Dass ich absolut keinen Bock hatte, den Kerl zu sehen, der mir gerade zusätzlich das Leben schwer machte? Er war schließlich ihr Bruder. Taktgefühl und so ...
»Hör zu, Elli. Eigentlich möchte ich mich da nicht einmischen und es geht mich streng genommen auch nichts an.« Da stimme ich dir zu. »Aber ... seit ich euch bei Was-auch-immer in Joshuas Wohnung gestört habe, ist er irgendwie nicht mehr derselbe.«
Sofort fand ich mich in der Situation wieder, als Joshua und ich endgültig einen Schlussstrich unter unsere Sache gesetzt hatten. Und als ich hatte gehen wollen, war die Tür aufgegangen, die mich zum Abschluss noch mal schön in seine Arme befördert hatte.
»Wie du eventuell bereits bemerkt hast, ist er nicht so der Typ, der vor Glückseligkeit strahlt. Aber seit Weihnachten habe ich den Verdacht, dass er dauerhaft Aggro-Pillen schluckt. Und ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass seine miserable Laune mit diesem Tag zu tun haben könnte. Ich möchte nicht sagen, dass du schuld an irgendwas bist — wirklich nicht! Aber ich bin eine Schwester, die sich um ihren Bruder sorgt. Es geht ihm nicht gut. Das spüre ich.« Ach, echt? Ihm gehts nicht gut? Das sehe ich aber ganz anders! »Allerdings bekommt man aus diesem Sturschädel nichts raus. Deswegen dachte ich, ich frag jetzt einfach mal direkt bei dir nach. Nachdem ihr ja irgendwie in Kontakt steht.«
»Tja, das tut mir echt leid, aber ich kann dir auch nicht sagen, warum es ihm scheinbar nicht so gut geht. Wir haben keinerlei Kontakt. Aber ich sehe ihn hin und wieder auf dem Campus und da macht er einen supertollgelaunten Eindruck ... Na ja, keine Ahnung. Aber vielleicht liegt's an seiner neuen Freundin? Ärger auf Wolke Sieben oder so?«, plapperte ich mal wieder absolut ungefiltert. Toll gemacht!
»Welche Freundin?«, fragte Jenni hörbar verwirrt.
»Na, die von der Uni. Kennst du die nicht? Mit der hängt er zumindest neuerdings ständig ab und strahlt dabei wie ein Honigkuchenpferd.« Super, Elli! Mach einfach weiter so! Am besten sagst du ihr gleich noch, wie eifersüchtig du bist!
»Er hat eine Freundin? Also, eine richtige? Und das bist nicht du?«
»Bitte, was? Nein! Sie heißt Linda!«
Wieder Stille. Dann brach Jenni einfach in lautes Gelächter aus. Was war denn daran jetzt so lustig? Dass ihr feiner Bruder eine Freundin hatte, von der sie nichts wusste? Ich verstand es nicht. Und allmählich kochte etwas in mir hoch, das unbedingt Dampf ablassen wollte.
»Linda, ja! Natürlich kenne ich die! Sogar besser, als du denkst. Aber sie ist nicht diese Art von Freundin für Joshua. Genauer gesagt ist sie eigentlich meine Freundin. Meine feste Freundin.«
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Hallo meine Lieben! ♡
Das Update hat leider länger gedauert, obwohl es eigentlich schon zur Hälfte stand, aber ich habe hier mal wieder ein wenig an der Einteilung der Story rumgebastelt. Deswegen gibt es jetzt wieder einen »Prolog«. »Teil 2« schlummert erst einmal. Dafür habt ihr den »Interlog« zu lesen bekommen, der einen direkten Bezug zum Prolog hat. Sie gehören thematisch zusammen.
Aber warum das Ganze? Ich hoffe, es wurde deutlich, dass sich etwas in Elli ändert. Sie möchte etwas ändern. Bisher hatte sie immer an der Verdrängung festgehalten. Aber es scheint so, als wolle sie jetzt einen neuen Weg wagen. Dieses Umdenken hat mit Joshua zu tun, denn er hat etwas in ihr geweckt, das sie nicht zulassen wollte: Gefühle.
Begleitet Elli gerne weiterhin und erfahrt, ob sie ihre Baustellen umfahren oder sie nach und nach angehen wird. Es wird auf jeden Fall kein leichter Weg. Aber ich verspreche euch jede Menge Herz(schmerz)momente, Humor und Spannung.
Es geht langsam ins Eingemachte und auch wenn noch viele Kapitel vor mir liegen, führt jetzt alles unweigerlich zum Ende.
Lasst mir gerne euer Feedback zum Kapitel da — und wenn es nur ein Sternchen ist. Jegliche Rückmeldung ist absolut wertvoll für mich und motiviert mich, hier am Ball zu bleiben. Ich freue mich immer so sehr über jegliche Leserlebenszeichen und bin sehr dankbar dafür.
Vor allem weil mir momentan das Schreiben immer noch schwerfällt. Meine perfektionistische Ader ist tierisch genervt, weil der Anfang des Buches dringend überarbeitet werden muss. Aber davor wird diese Geschichte erst einmal beendet und ich schiebe so lange meine Selbstzweifel weg.
Danke euch für alles — wir lesen uns bald wieder!
Fühlt euch gedrückt und genießt den Abend! ♡
Eure Teresia
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