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𝑾𝒆𝒏𝒏 𝒅𝒖 𝒆𝒊𝒏𝒆 𝒈𝒖𝒕𝒆 𝑨𝒖𝒔𝒓𝒆𝒅𝒆 𝒃𝒓𝒂𝒖𝒄𝒉𝒔𝒕 ...
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Das kann doch alles gerade nicht wirklich passieren ...
Völlig teilnahmslos nahm ich die Treppenstufen nach unten, stieß die Haustür auf, irrte hinaus auf die Straße, dem Treiben dieser komplett ausgesetzt. Nichts um mich herum spielte auch nur im Geringsten eine Rolle.
Als ich mir durch die Haare und über mein Gesicht strich, spürte ich die vielen Schweißperlen, die sich gebildet hatten, obwohl mich im Inneren permanent ein eisiger Schauer durchfuhr, der mir eine unangenehme Kälte sowie ein Zittern des ganzen Körpers bescherte.
Meine Gedanken prasselten kontinuierlich auf mich ein, fuhren Karussell, ließen keinerlei Fokus zu. Sie vermischten sich zugleich mit verschiedensten Gefühlen, die dadurch in mir hervorgerufen wurden und eine zusätzliche Gänsehaut verursachten.
Gott, ich schäme mich so.
Scham für meine Ängste. Scham für meine unbedachten Handlungen. Scham für all den Mist, den ich mir gestern eingebrockt hatte. Wie hatte es nur so weit kommen können? Wie konnte ich derart die Kontrolle verlieren?
Bitte lass es einfach nicht wahr sein. Bitte mach alles ungeschehen.
In diesem Moment wünschte ich inständig, ein gläubiger Mensch zu sein. Es hieß doch, Gott sei ein guter Zuhörer, ein Trostspender. Zugleich konnte er einem nicht durch eine Reaktion verurteilen, zumindest nicht direkt. Gerade brauchte ich genau diese Art von Gesprächspartner.
Eine Flut an Bildern aus vergangenen Zeiten ergriff erneut meinen Verstand, verschlang ihn regelrecht. Sie blitzten einfach vor meinen geistigen Augen auf, sobald ich diese auch nur kurz zum Zwecke des Blinzelns schloss. Warum hörte das nicht endlich auf? Es musste doch irgendwann ein Ende nehmen ...
Einfach vergessen. Ja, ich musste es einfach wieder vergessen. Verdrängen und vergessen.
Den Kopf schüttelnd, versuchte ich jegliche Gedanken zu verscheuchen, die mich momentan aus der Bahn warfen. Die Augen reibend, hoffte ich die Bilder wegzuwischen, welche sich unaufhörlich aufdrängten. In meinem beruhigenden Rhythmus atmend, bekämpfte ich Stück für Stück die beklemmenden und mich übermannenden Gefühle. Dies alles wiederholte ich immer und immer wieder, bis es von einem ohrenbetäubenden Quietschen gefolgt von mehrmaligem Gehupe unterbrochen wurde.
Erschrocken wandte ich mich zum Ursprung des Lärms. „Sag mal, bist du lebensmüde oder hast du einfach nur Tomaten auf den Augen?", schrie mich ein vollbärtiger Kerl mittleren Alters an, während er wütend die Faust aus dem heruntergekurbelten Fenster seines in die Jahre gekommenen Autos nach oben streckte.
Entgeistert blickte ich ihn an und nickte. Unfähig, etwas zu erwidern.
„Beides? Na dann geh deinem Drang zum Sterben doch bitte woanders nach und zieh nicht noch andere Leute mit rein. Es hätte sonst was passieren können!", brüllte der Mann mich weiter an, bevor er seinen Wagen in die richtige Position manövrierte, um weiterzufahren. Als der Motor bedrohlich aufheulte, zeigte er mir demonstrativ den Vogel und fauchte „Dämliche Schrulle", ehe das Auto um die nächste Ecke bog.
Nun pochte mein Herz rasend schnell, wodurch ich zurück ins Hier und Jetzt befördert wurde. Langsam nahm ich die Umgebung wahr, unternahm zugleich den Versuch, mich zu orientieren.
Ich stand unweit von der Innenstadt entfernt mitten auf einer Straße, auf der glücklicherweise gerade äußerst wenig Verkehr herrschte. Rasch eilte ich Richtung Gehweg. Es war nicht meine Absicht, mich in Gefahr zu begeben. Jedoch war ich vorhin dermaßen neben der Spur gewesen, sodass ich nicht mehr Herr über mich selbst zu sein schien. Ich muss mich jetzt dringend beruhigen!
Als Nächstes riss mich ein wohlbekanntes Klingeln aus meinem fragwürdigen Zustand. In meiner Tasche kramte ich das Smartphone hervor und sah direkt in die haselnussbraunen Augen von Andis Benutzerbild. Kurz zögerte ich, denn mir war jetzt schon bewusst, dass dies sicherlich nicht sein erster Versuch, mich zu erreichen, war. Dann drückte ich doch auf den grünen Hörer.
„Elli? Hallo? Bist du das? Elli?" Seine mehr als besorgte Stimme bestätigte meine Vermutung. „Ha-"
„Ja Andi, ich bin's und es ist alles in Ordnung", unterbrach ich sogleich weitere Fragen im ruhigen Tonfall.
Ein Seufzer der Erleichterung drang in mein Ohr, bevor es auch schon aus ihm heraussprudelte: „Ist dir klar, dass ich dich seit Stunden versuche anzurufen? Was war verdammt noch mal los? Wo bist du? Und warum bist du ges-"
„Alles gut. Mir geht's gut. Ich musste lediglich meinen Rausch ausschlafen", entgegnete ich ihm leicht genervt, um zu signalisieren, dass alles in bester Ordnung war.
„Und wo warst du? Anna und ich haben dich überall gesucht! Wir haben dich zigmal angerufen, dir geschrieben. Was war denn los? Wo warst du heute Nacht?" Andi war außer sich, was sich in seinem verzweifelten Ton äußerte.
„Ich hab' bei so 'nem Typen gepennt, nicht der Rede wert. Mein Handy war lautlos und ich hatte gestern ...", kurz erschauderte ich, weil der nächste Teil meiner Ausrede nicht einmal gelogen war, „... andere Dinge zu tun. Wenn du verstehst, was ich meine ... Tut mir leid, dass ich euch solche Sorgen bereitet hab'."
Andi seufzte erneut in den Hörer und ich konnte ihn direkt vor mir sehen, wie er sich die Nasenwurzel massierte, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. „Shit Elli! Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass es dir gut geht. Wo bist du? Soll ich dich irgendwo abholen?"
„Nicht nötig, ich nehme den nächsten Bus. Bin in der Innenstadt und brauch' nicht lang." Während ich sein lieb gemeintes Angebot ausschlug, passierte ich den Torbogen zur Innenstadt, um zum Rathausplatz zu gelangen. Von dort aus fuhren die Öffentlichen in unterschiedlichste Richtungen, unter anderem zu mir nach Hause.
„Na gut", lenkte mein bester Freund ein. „Dann melde dich bitte noch bei Anna und Reinhard, falls du es nicht schon gemacht hast."
„Bei meinem Vater?", platzte es verwundert aus mir heraus.
„Ja sorry, ich hätte nicht gedacht, dass er daheim ist. Nachdem wir dich überall gesucht haben, bin ich nach Hause gefahren und sofort zu dir. Auf dem Weg in dein Zimmer bin ich plötzlich mit ihm zusammengestoßen." Seine zuvor besorgte Tonlage wich zugunsten Unsicherheit. Es war wohl eine für ihn peinliche Begegnung gewesen. „Da ich voll durch den Wind gewesen bin, hab' ich mich wohl ein wenig verplappert." Hundertprozentig kratzte er sich jetzt am Hinterkopf und rieb seinen Nacken, was mich zum Schmunzeln brachte.
Nun fiel mir auch wieder ein, dass mein Vater tatsächlich mal in unserem Zuhause gewesen war. Zusammen mit dieser Kathrin. Das Ganze kam mir zeitlich gesehen schon Wochen entfernt vor. War doch dieses gestrige Abendessen mit ihnen der Auslöser gewesen, weshalb ich mich so sehr auf das gemeinsame Feiern mit Anna gefreut hatte. Und dann ließ ich meine Freundin hängen. Hals über Kopf.
„Ich melde mich bei ihnen. Danke dir, Andi." Mit diesen Worten legte ich auf und überflog zum ersten Mal die unzähligen Nachrichten, die auf dem Bildschirm angezeigt wurden.
Tatsache: Nicht nur Anna und Andi, sondern auch mein Vater hatte mir eine Vielzahl an Anrufen und besorgten Textnachrichten hinterlassen. Das schlechte Gewissen fraß sich durch meinen gesamten Körper. Heute würde mich wohl kein positives Gefühl mehr erreichen.
Im Bus angekommen, tippte ich schnell eine Nachricht an meinen Vater, dass es mir gut ging und er sich keine Sorgen machen sollte. Weitere Erklärungen war ich ihm echt nicht schuldig, schließlich nahm er sonst auch nicht an meinem Leben teil.
Bei Anna gestaltete sich die Antwort allerdings viel schwieriger. Einerseits hatte sie es nicht verdient, dass ich sie anlog. Andererseits konnte ich ihr schlecht den wahren Grund für meine gestrige Flucht erklären. Also entschied ich mich dafür, ihr eine genauso schwammige Ausrede zukommen zu lassen, wie ich es bei Andi getan hatte.
Schande über mich. Ich belog meine Freunde. Das machte das schlechte Gewissen alles andere als besser.
Den Rest der Fahrt versuchte ich mich auf das Radio zu konzentrieren, denn Nachdenken war momentan eine nicht besonders gute Idee. Der Busfahrer hatte irgendeinen Sender am Laufen, der einen Song der 80er nach dem anderen abspielte. Dabei tippelte er zufrieden mit den Fingern auf dem Lenkrad zum Takt der Musik und wippte sogar leicht seinen Kopf hin und her.
Es war ein bekannter Fahrer meiner Buslinie, deshalb hatte ich ab und an mit ihm gequatscht, als ich noch zur Schule gegangen war. Ich schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre und wusste, dass er Vater von vier Jungen war, denn er hatte des Öfteren voller Begeisterung von ihnen erzählt. Allgemein mochte der Mann Kinder und Jugendliche gerne, weshalb er nie geschimpft hatte, wenn es im Bus mal zu laut gewesen war. Stattdessen hatte er amüsiert seinen Glatzkopf geschüttelt und über beide Ohren gegrinst, während das Radio im gesamten Bus auf einmal viel lauter ertönt war – natürlich hatte er die Lautstärke aufgedreht. Daraufhin waren die Schüler mit in den Song eingestiegen und alle hatten ausgelassen gesungen.
„Mädchen, musst du hier nicht raus?", riss mich sein brummiger Tonfall aus meiner Erinnerung, als er gerade bei einer Haltestelle zum Stehen kam.
Einen kurzen Moment brauchte ich, um mich zu vergewissern und erkannte schließlich, dass der Busfahrer recht hatte. „Ja, danke", murmelte ich, während ich eilig aufstand und an ihm vorbeihuschte.
Vor dem Verlassen des Busses, drehte ich mich zu ihm um, schenkte ihm ein Lächeln — auch wenn es schwach war — und verabschiedete mich von ihm, indem ich einen schönen Tag wünschte.
Kaum ein paar Meter gegangen, ertönte eine bekannte Stimme hinter mir: „Stopp, Fräulein! Ich hab' hier nicht gewartet, nur um dann ignoriert zu werden."
Sogleich packten mich zwei starke Arme, die meinen Körper von hinten umarmten. Zunächst war ich wie erstarrt, bis ich mich Sekunden später fallen ließ und anlehnte.
Geborgenheit. Mir dies zu schenken, vermochten nicht viele Menschen in meinem Leben. Aber mein bester Freund war hierzu in der Lage.
„Was machst du nur für Sachen?", flüsterte er leise in mein Ohr. Es war eine rein rhetorische Frage seinerseits und sie klang nicht einmal ansatzweise vorwurfsvoll. Langsam löste Andi die Umarmung etwas auf, um mich sachte zu ihm zu drehen. Dann legte er eine Hand unter mein Kinn, hob es an, damit ich ihm in die Augen blicken musste. Schon jetzt kostete es mich alle Kraft, den Tränen nicht nachzugeben. „Du schuldest mir eine anständige Erklärung."
„Aber ich habe dir do-"
„Du willst also behaupten, dass der Bullshit, den du mir da heute Früh angedreht hast, der Wahrheit entspricht?" Seine braunen Augen durchbohrten meine, eine Antwort suchend, die er jedoch schon längst wusste.
Ich wollte wegsehen, denn wenn ich etwas nicht konnte, dann war es meinem besten Freund eiskalt ins Gesicht zu lügen. Aber keine Chance, er ließ mir keine Möglichkeit, um meine Augen von ihm abzuwenden, sodass mir nach und nach die Tränen darin hochstiegen.
„Komm, wir gehen zu mir. Es gibt deinen Lieblingskuchen. Und Kaffee. Wir gehen zu mir hoch und reden ...", bei den nächsten Worten, die er leise aussprach, umarmte mich Andi erneut, „... oder auch nicht." Dann umfasste er meine Hand und zog mich in Richtung Zuhause.
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Da saßen wir nun. Schweigend. Auf seinem Bett. Nebeneinander mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Wir aßen Angies Brownies, die kein Mensch der Welt hätte besser machen können und hingen unseren Gedanken nach. Eine Minute. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Ich sah ehrlich gesagt nicht auf die Uhr.
Mein Gehirn war plötzlich wie ausgebrannt, als würde es sich vehement dagegen wehren, auch nur ein klitzekleines Detail preiszugeben.
Der heiße Kaffee rann meine Speiseröhre hinab, erfüllte meine müden Muskeln. Erst jetzt spürte ich, wie erschöpft ich eigentlich war und wie sehr mein gesamter Körper schmerzte.
„Okay ..." Andi drehte sich zu mir, sodass er mich von der Seite beobachten konnte. Seine Stimme klang ganz ruhig. Ich wusste, was jetzt folgen würde: ein Verhör.
„Was ist gestern passiert, dass du auf einmal verschwunden bist?" Falsche Frage. Die kann ich dir nicht beantworten, sonst muss wieder meine billige Ausrede herhalten.
Andi kannte mein Schweigen zu gut. „Du behauptest, du seist bei einem Kerl über Nacht gewesen. Irgendwie kann ich dir aber nicht glauben, dass du wegen eines Techtelmechtels abgehauen bist und deine Freundin ohne Vorwarnung stehen gelassen hast. Nicht mal eine Nachricht als Erklärung."
Sein Blick scannte mich erbarmungslos und registrierte jede Regung meinerseits, weshalb ich versuchte, entspannt ein- und auszuatmen. „Auch wenn du gestern betrunken warst, so daneben kannst du gar nicht sein, um das zu machen. Mehr als untypisch. Ergibt null Sinn."
Verdammt, er war mir auf der Spur. Ich drängte den großen Kloß im Hals zurück, indem ich ihn mit einem weiteren Schluck Kaffee herunterspülte.
Es folgte eine endlos lange Pause, in der weder Andi noch ich sprach, bis er laut Luft ausstieß und sich räusperte. Dabei wandte er sich nun direkt an mich, nahm meine Hand vorsichtig in seine und fixierte mich intensiv. Noch traute ich mich nicht, ihn anzusehen.
„Es gibt da eine Sache, die mich seit Längerem beschäftigt und mich nicht mehr loslässt. Es könnte jetzt weit hergeholt sein, dass es mit der gestrigen Aktion von dir in Verbindung steht, aber ich hab' da so ein Bauchgefühl, also spuck ich's aus: Ich hab' den Eindruck, dass es dir seit dem Polterabend alles andere als gut geht." Bravo! Voll ins Schwarze getroffen! „Das ist damals kein normaler Zusammenbruch gewesen. Du standest vollkommen neben dir und diese Tränen ..."
Eine weitere, allerdings kurze Stille brach über uns herein, in der er auf unsere verschlungenen Hände schaute. „Shit Elli, es gab bisher nur einen Moment, in dem ich dich richtig hab' Weinen sehen und das war ..." Andi stockte, denn wir beide wussten ganz genau, worauf er hinauswollte. Es bereitete ihm sicherlich Schmerzen, daran zu denken, es laut auszusprechen.
Als ich ihm damals das Wesentliche anvertraut hatte, war er ziemlich am Boden zerstört gewesen. Ihr könnt euch ja denken, wie es mir dann erst ergangen war ... und ich mich jederzeit wieder fühlen könnte, ließe ich es nah genug an mich heran.
„Das war die eine Sache von vor zehn Jahren ... Wenn es dir deshalb nicht gut geht, ... irgendetwas hochkommt, ... dann rede doch bitte mit mir ... Ich bin für dich da." Vorsichtig hob mein bester Freund bei seinen letzten Worten wieder den Blick, den ich nur flüchtig erwiderte.
Er wusste es. Er spürte es. Er kannte mich einfach durch und durch.
Den nächsten Schritt musste ich mir daher wirklich gut überlegen. Es gab im Grunde nur zwei Optionen: Wahrheit oder Lüge. War ich denn dazu bereit, mit Andi darüber zu reden, was momentan mit mir los war? Konnte ich das überhaupt in Worte fassen? Die ganze Situation überforderte mich jetzt schon.
Was würde also passieren, wenn ich es laut aussprach? Würde es dadurch wieder realer werden? Würden die verblassten Bilder erneut aufflackern und meinen Verstand fluten? Würde ich es schaffen, mich ihnen zu stellen? Oder würden sie mich diesmal übermannen, mich zerstören? Wie hatte ich das damals bewältigen können?
Ja, mein bester Freund wusste einiges darüber, was mir mit zehn Jahren widerfahren war. Mehr als sonst jemand. Selbst die Therapeutin, bei der ich nach den Geschehnissen gewesen war, hatte mich nicht knacken können. Einzig die Übungen gegen die Panikattacken, welche sie mir an die Hand gegeben hatte, erwiesen sich im Nachhinein als hilfreich. Obwohl selbst diese gestern versagt hatten.
Zu allem Übel war nun auch noch meine eigen geschaffene Methode des Vergessens gebrochen. Gerade wusste ich nicht, wie ich es wieder ins Lot bringen konnte, so zerrissen war ich innerlich.
Noch bevor ich die nächsten Worte aussprach, hatte ich mich für eine der beiden Optionen entschieden. Ich war dabei nicht fähig, ihm in die Augen zu sehen. „Andi, es ist nicht so, wie du denkst ..."
Zu viel Ängste waren damit verbunden, wenn ich mich jetzt ihm gegenüber öffnen würde. Ich vermutete, dass ich es dieses Mal nicht so gut wegstecken konnte. Verteufelt mich gerne dafür, denn das verdiente ich. Aber das war mein Schutzmechanismus.
Es folgte wieder eine Stille, in der wir unseren Gedanken hinterherhingen. Dabei fühlte ich mich unsagbar schlecht. Einmal, weil ich zu feige war, ehrlich zu ihm zu sein und auch wegen der Erinnerungen, die sich immer mehr in mein Bewusstsein drängen wollten. Ich musste sie dringend wieder vergessen. Vergessen, vergessen, vergessen ...
Plötzlich nahm er mein Gesicht in seine Hände, damit ich ihn unweigerlich anschauen musste. Sein fürsorglicher Blick durchdrang mich und trieb mir Tränen in die Augen. „Elli, wie ist es denn dann? Was ist los? Rede doch bitte mit mir!"
Andi blickte mich intensiv und hilflos-verzweifelt an, sodass die Panik weiter in mir hochstieg, weil ich jeden nächsten Moment im Begriff war, vor ihm einen emotionalen Zusammenbruch zu erleiden. Dann würde alles aus mir herausbrechen. Aber das wollte ich nicht riskieren. Demnach musste ich Andi von mir stoßen, damit diese elendigen Erinnerungen endlich von mir weichen konnten.
Sämtliche Alarmglocken fingen prompt an, in mir zu läuten, sodass mich auf einmal eine unbändige Wut erfasste. Eine Wut, die ich jetzt brauchte, denn sonst war ich nicht imstande, diesen Schritt zu machen.
„Es reicht, Andi! Verdammt, du hast nicht das Recht, dich in jegliche Belange meines Lebens einzumischen! Die Sache geht dich absolut nichts an!" Es kam ungehalten aus mir heraus, weshalb mich mein bester Freund vollkommen fassungslos musterte. Sein Mund klappte auf, aber kein Ton verließ ihn. „Ich war gestern Nacht bei einem Kerl, es ist kompliziert und macht mir ziemlich zu schaffen. Und jetzt lass mich einfach in Ruhe darüber nachdenken, wie ich weiter damit umgehen möchte! Deine Fragerei macht es nämlich alles andere als besser!"
Erneut fixierte Andi mich stumm, während seine Hände nun gänzlich von meinem Gesicht abließen. In seinem Blick erkannte ich eine tiefe Traurigkeit und Unverständnis. Meine schroffe Zurückweisung hatte ihn getroffen, das war ihm ganz deutlich anzusehen.
„Wir ..." Er flüsterte kaum hörbar. Sein Mund formte Laute, die jedoch nicht nach außen drangen. Ich fühlte mich sekündlich schuldiger, denn ich war der Grund für seine Unsicherheit. „Wir haben uns doch ... wir haben uns immer alles gesagt."
Der Klang seiner gebrochenen Stimme traf mich mitten ins Herz, machte es schwer wie Blei. Dennoch musste ich stark bleiben.
„Es tut mir leid, aber das ist jetzt eben nicht mehr so. Du führst dein Leben überwiegend in Passau, ich in Eichstätt und dazwischen liegen einfach zu viele Kilometer." Leider konnte ich nicht verhindern, dass eine Träne meine Wangen hinunterlief, denn ich stieß meinen besten Freund von mir. Dabei konnte er nichts für meine Situation, sondern wollte mir eigentlich nur helfen und für mich da sein – so wie immer.
Andi saß da wie ein Häufchen Elend. Ich konnte es gar nicht mitansehen. „Du meinst also, wir bewegen uns in verschiedene Richtungen? Habe ich etwa keinen Platz mehr in deinem jetzigen Leben?"
Natürlich war das kompletter Mist, aber was sollte ich ihm denn darauf antworten? Mein Gehirn war wie leer gefegt und ich konnte gerade keinen klaren Gedanken fassen, weil mich momentan alles zu überfordern schien. Also schüttelte ich lediglich den Kopf. Ich wollte ihn nicht noch mehr verletzen, als ich es ohnehin schon getan hatte. „Andi, so ist es auch wieder nicht. Aber die alten Zeiten sind eben vorbei."
Anstatt etwas zu erwidern, nickte er leicht und schluckte merklich. Ich hatte es damit nicht besser gemacht. Aber immerhin ereilte mich gerade keine Panik mehr. Andi würde nicht weiter nachhaken – da war ich mir nun sicher.
Geradeso hatte ich die Kurve gekriegt, allerdings nicht ohne ein Opfer gebracht zu haben. Diese tiefe Verbundenheit mit Andi zu riskieren, war ein enorm hohes Opfer. Über diesen Verlust wollte ich erst recht nicht nachdenken. Dagegen hoffte ich einfach, dass es sich irgendwann, irgendwie wieder einrenken würde.
Schließlich stand mein bester Freund auf und nahm seine große Reisetasche, die neben dem Bett lag. „Ich muss jetzt los. Ich treffe mich heute noch mit ein paar Leuten in einer Bar", erklärte er, würdigte mich jedoch keines Blickes.
Wiederum wurde mir bitter bewusst, wie sehr ihn meine Worte verletzt haben mussten. „Okay ... Dann wünsche ich dir viel Spaß", murmelte ich und erhob mich ebenfalls.
Bevor ich das Zimmer verließ, sah ich ein letztes Mal in seine Bambiaugen, die mich mit einem leeren Ausdruck anschauten.
Die Bilanz dieses Tages war grandios. Am besten strich ich ihn schnell von meinem Kalender. Doch scheinbar wollte mich der Lauf des Lebens heute noch weiter quälen ...
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