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𝑾𝒆𝒏𝒏 𝒆𝒔 𝒏𝒊𝒆 𝒑𝒂𝒔𝒔𝒊𝒆𝒓𝒕 𝒘𝒂̈𝒓𝒆 ...
━━ ♡ ━━

Und ich dachte, dass ich letztes Wochenende schlecht geschlafen hatte. Die letzten zwei Nächte hatte ich absolut kein Auge zugemacht. Immerzu musste ich an diesen dämlichen, dämlichen Kuss denken.

Verdammt, es war nur ein Kuss!

Okay, vielleicht war es ein wenig mehr als nur ein einziger Kuss gewesen, aber allzu lange hatte das Geknutsche auch nicht gedauert. Obwohl ich das wiederum nicht richtig beurteilen konnte, da sich mein Raum-Zeit-Gefühl in diesem Augenblick komplett abgeschaltet hatte. Wie so ziemlich alles, während wir uns geküsst hatten.

Wieso konnte Degenhardt auch so verdammt gut küssen? Allein der Gedanken, wie es sich angefühlt hatte, wie seine Lippen meine berührten, wie seine Zunge mit meiner tanzte und wie er meinen Hals liebkoste, versetzte meinen Körper wieder in jenen Zustand, als er all diese Dinge mit mir gemacht hatte.

Ich gebe es ja zu: Insgeheim hatte ich mir das alles schon einmal vorgestellt, wie es sein könnte — verbotenerweise. Aber dass es so dermaßen gut sein würde. Er hatte mich mit seinen Küssen in einen regelrechten Rausch versetzt. Dabei waren seine Küsse meine ganz persönliche Droge gewesen, von der ich nicht genug bekommen konnte. Einmal gekostet und man kam sozusagen nicht mehr davon los.

Das Schlimmste war allerdings, dass mir diese Küsse nicht gleichgültig waren. Sie beschäftigten mich viel zu sehr. Sie riefen Gefühle in mir hervor, die ich bisher noch nie zuvor verspürt hatte. Empfindungen für einen Kerl, der es definitiv nicht wert war und die es zudem überhaupt gar nicht geben dürfte. Allein dafür konnte ich mich millionenfach ohrfeigen, bis ich wieder zu klarem Verstand kommen würde.

Eigentlich gab es nur eine Option, um ihn mir wieder aus dem Kopf zu schlagen und jegliche Gefühle im Keim zu ersticken: Ich musste mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, was für ein riesengroßes Arschloch Degenhardt war. Das war mir doch von Anfang an bewusst gewesen und sein Verhalten nach unserem Kuss war die eindeutige Bestätigung dafür. Ich wollte dich lediglich zum Schweigen bringen. So etwas sagte doch nur ein absoluter Arsch, oder? Die Akte Degenhardt konnte demnach als abgeschlossen erachtet werden. Warum noch einen weiteren Gedanken an diesen schnöseligen Idioten verschwenden?

Ach richtig! Da gab es dieses klitzekleine Problem, dem ich mich stellen musste: das Seminar bei ihm. Nicht hinzugehen, kam nicht infrage. Das würde nämlich vermuten lassen, dass ich aufgrund des Vorfalls nicht teilnahm. Aber wie sollte ich mich Degenhardt gegenüber verhalten? Konnte ich ihn überhaupt noch so nennen? Es war irgendwie komisch, wenn man bedachte, dass ich seinen Vornamen am Samstagabend gleich zweimal unter lustvollem Stöhnen hervorgebracht hatte. Allerdings würde das diese eine Barriere, die mich noch davon abhielt, im nächsten Moment über ihn herzufallen, zunichtemachen, wenn ich ihn in Zukunft als Joshua in meine Gedanken ließ.

Wieso war diese Situation nur so verdammt verquer? Warum konnte ich einfach nicht aufhören, das Ganze zu zerdenken?

Es lag vielleicht schlicht an der Tatsache, dass ich ihm sein Verhalten nicht ganz abkaufte. Wie konnte jemand einen derartig küssen und dann behaupten, man hätte im Affekt gehandelt? Das kam mir einfach mehr als seltsam vor.

Aber leider konnte ich nicht in seinen Kopf schauen. Ich wusste nicht, ob er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte. Ich wusste nicht, wie er über die Vorkommnisse zwischen uns dachte. Ich wusste leider gar nichts.

Mit diesem Nichtwissen brodelten einige Fragen in meinem Kopf, deren Antwort ich zu gerne bekommen wollte. Was gewesen wäre, wenn ich ihn nicht unterbrochen hätte? Hätte er aufgehört? Oder hätten wir weitergemacht? Wäre das Ganze in eine bestimmte unanständige Richtung eskaliert?

Herrgott, was dachte ich mir da? Das waren alles ungelegte Eier. Lediglich Vermutungen. Bestimmt hätte er es so oder so bereut.

Als das hässliche Geräusch des Weckers ertönte, dankte ich still, denn es bedeutete, dass ich meine wirren Gedanken beiseiteschieben musste. Ich wälzte mich noch mal im Bett und schloss meine schmerzenden Augen, die ich die gesamte Nacht offen gehalten hatte.

Verdammt, ich will nicht aufstehen und diesen ganzen beschissenen Tag vor mir haben müssen. Warum kann man die nächsten Stunden nicht einfach überspringen? Vielleicht wird es eine ordentliche Ration Koffein richten?

Da kam mir in den Sinn, dass ich vergangene Woche in der Cafete mit Degenhardt zusammengestoßen war und dadurch seinen Kaffee über ihn geschüttet hatte. Währenddessen durchfuhr mich sowohl ein Kribbeln im Bauch als auch ein gehöriger Schauer über den Rücken. Diese Anzeichen kehrten immer wieder, wenn ich an ihn dachte und mich dabei erwischte. So viel zum Thema Gefühle und Akte Degenhardt geschlossen. Wem machte ich hier eigentlich etwas vor?

_____

Bezeichnet mich als Feigling, aber ich mied am heutigen Morgen geflissentlich die Cafete, weshalb ich mir mein Wunderelixier von daheim in einem Thermobecher mitnahm. Anna sagte ich, dass ich verschlafen hatte und es deshalb erst kurz vor Vorlesungsbeginn zum Saal schaffen würde.

Als ich den Raum betrat, winkte sie mir schon von Weitem und ich gesellte mich zu ihr.

„Guten Morgen!" Anna begrüßte mich gleich mit einer Umarmung.

„Hey!", sagte ich mit einem Seufzer begleitet, bevor ich mir noch mal einen Schluck Kaffee gönnte. Hoffentlich zeigte das Koffein bald seine Wirkung.

„Montage sind nicht so deins", stellte meine Freundin grinsend fest.

Ja, wegen einer gewissen Veranstaltung an diesem Tag ...

Sie beäugte mich etwas besorgt. „Du siehst aus, als hättest du kaum ein Auge zugemacht."

Wie recht du hast ...

„Ist alles in Ordnung? Willst du darüber reden?"

Um Gottes willen, nein!

Ich schüttelte lediglich den Kopf und schloss kurz meine brennenden Augen. Offensichtlich konnten nicht einmal die Tonnen von Make-up meinen extremen Schlafmangel verstecken. Oder Anna kannte mich inzwischen schon so gut?

„Wie war die Hochzeit?", fragte sie nun mit leuchtenden Augen und rutschte dabei auf ihrem Stuhl herum.

Wieder einmal versuchte meine Freundin, mich mit diesem Thema auf andere Gedanken zu bringen. Fehlanzeige.

Mein Magen verkrampfte sich und die Bilder von leidenschaftlichen Küssen zwischen Degenhardt und mir schossen unkontrolliert vor meine Augen. Daraufhin schüttelte ich mich und blinzelte, um sie schnell abzuschütteln. Doch die dadurch hervorgerufene Gänsehaut erfasste schon wieder jeden Millimeter meines Körpers.

Diese Reaktion schien Anna nicht entgangen zu sein. „Hat es was mit der Hochzeit zu tun, dass du so bescheiden aussiehst?"

Volltreffer!

Mein Blick musste Bände sprechen, denn sie lachte nun und tätschelte mich an der Schulter. „Etwa zu tief ins Glas geschaut?"

Schön wär's!

„Später", flüsterte ich ihr zu und widmete mich Schnieglinger, der soeben die Vorlesung eröffnet hatte.

Anna nickte, gähnte einmal herzhaft und blätterte dann lustlos in ihren Notizen.

Sollte ich ihr später wirklich erzählen, was gerade bei mir los war? Ich musste ihr ja nicht unbedingt alles erzählen. Zum Beispiel könnte ich gewisse Details auslassen, die darauf hindeuteten, dass Degenhardt mein Dozent war. Das konnte ich ihr unmöglich mitteilen.

Aber falls es doch irgendwie herauskommt ... Und eigentlich ist ja nicht viel passiert ... Er will schließlich nichts von mir ...

Am besten vergaß ich einfach alles, was zwischen ihm und mir passiert war. Die langen schlaflosen Nächte am Wochenende lagen schlicht daran, dass ich mir mal wieder zu viele Gedanken machte.

Was diese seltsamen Gefühle in Bezug auf ihn anging: Die konnte man getrost außer Acht lassen. Ich wusste ohnehin nicht, was sie zu bedeuten hatten, also warum sollte ich mir weiter den Kopf darüber zerbrechen?

In der Regel war ich doch ein Ass im Vergessen. Alles in eine Kiste sperren und hinter mir lassen. Wäre schließlich nicht das erste Mal, dass ich das machen würde. Einfach vergessen und ignorieren. Das war eindeutig die beste Lösung. Am besten sollte ich sie gleich umsetzen.

Deshalb stupste ich Anna an und erzählte ihr im Flüsterton: „Die Hochzeit war einfach genial. Absolut leckeres Essen, nette Leute und witzige Hochzeitsspielchen. Nicht zu vergessen, die gute Musik. Ich hab' selten so ausgelassen gefeiert, weshalb mir seltsamerweise schon wieder das ein oder andere Detail der Feier entfallen ist. Aber dann kann es ja nicht so wichtig gewesen sein."

Meine Freundin unterdrückte das Lachen, indem sie ihre Strickjacke vor den Mund hielt. Es war so witzig mitanzusehen, wie sie sich zusammenreißen musste, dass ich mich selbst kaum halten konnte. Nachdem wir einige böse und verständnislose Blicke von anderen kassiert hatten, versuchten wir uns zu beruhigen und uns auf die Inhalte der Vorlesung zu fokussieren. Ob das unter diesem extremen Schlafmangel in Schnieglingers Veranstaltung möglich war, wagte ich zu bezweifeln.

_____

Mehr als lustlos, mit einem drückenden Gefühl im Bauch und einem viel zu schnell hämmernden Herzen näherte ich mich dem gefürchteten Vorlesungssaal.

Es sind lediglich eineinhalb Stunden. Was ist das denn schon? So was vergeht wie im Flug!

Aber es war eben ausgerechnet das Seminar bei Degenhardt. Mit dem ich verboten gute Küsse am Samstag getauscht hatte. Bei diesem Gedanken wurde mir gefühlt zwanzig Grad wärmer und mein drückendes Gefühl im Bauch begann verräterisch zu flattern. Doch mein Gehirn erinnerte mich daran, zu welchem Schluss ich heute Morgen gekommen war: ihn einfach möglichst zu ignorieren. Beziehungsweise wollte ich die Tatsache von mir schieben, dass jemals mehr zwischen uns gewesen war, als hätte sein dürfen.

Also bläute ich mir erneut ein, dass ich imstande war, ihn so zu behandeln, als wäre nie etwas Unangebrachtes zwischen uns vorgefallen. Angefangen bei der ersten Begegnung in der Tankstelle, dann die ungeplanten privaten Zusammentreffen, bis hin zu den unglaublich heißen Küssen, die wir uns gestohlen hatten. Das würde ich alles vergessen. Ausblenden. Denn das alles war nie passiert. Nie und nie und nie.

„Heute gar kein Kaffee aus der Cafete?", fragte mich eine bekannte Stimme, was ich mit einem viel zu lauten „Nie!" beantwortete.

Dann sah ich Adrian vor mir stehen, der mich mit einem süß-verwirrten Lächeln empfing. Dadurch kamen seine beiden Grübchen, welche ich bisher nicht bemerkt hatte, zum Vorschein. Irgendwie niedlich ... Insgesamt war er äußerlich alles andere als verachtenswert. Wieso war mir das bisher entgangen?

„Nie wie nie wieder, oder was? Du holst dir keinen Kaffee mehr von dort?" Er musterte mich mit hochgezogenen Brauen, während sich sein Grinsen verbreiterte.

„Nie wie ..." Wie soll ich mich denn jetzt sinnvoll rausreden? Schier unmöglich. „... Wie nie wieder Entkoffeinierter! Habe ich versehentlich letztens erwischt." So ein Stuss kann auch echt nur von mir kommen.

„Okay, alles klar. Du leidest wohl tatsächlich an Koffeinmangel, wie mir scheint. Bist du bereit? Vielleicht zerlegt dich unser werter Herr Degenhardt heute mal wieder." Adrian seufzte, bevor wir den Saal gemeinsam betraten. Seine Motivation hielt sich wohl auch in Grenzen.

Mein erster Blick fiel natürlich auf das Rednerpult, an dem er bereits stand, um die Technik einzurichten. Ein weiteres Mal schossen mir unkontrolliert Bilder von Samstag in den Kopf. Hörte dabei sein tiefes Knurren und Stöhnen vor Erregung. Fühlte seine leidenschaftlichen Küsse sowie Berührungen an meiner Haut.

Wie auf Knopfdruck ging das volle Programm bei mir los: trockener Mund, schwitzige Hände, Ganzkörperzittern, Herzrasen. Alles ausgelöst durch ihn. Vielen Dank auch. Dabei war doch nie irgendetwas passiert. Das musste ich mir nur lange genug eintrichtern.

Als ich mich an meinen gewohnten Platz niederließ, atmete ich mehrmals beruhigend ein und aus, bis sich zumindest mein Puls wieder halbwegs normal anfühlte. Währenddessen vermied ich jeglichen Augenkontakt nach vorne, kramte deshalb konzentriert in der Tasche meine Stifte und die vorbereiteten Texte für heute hervor. Zum Glück hatte ich das in weiser Voraussicht am Donnerstag gelesen. Sonst wäre ich heillos aufgeschmissen gewesen.

Schließlich eröffnete Herr Degenhardt — ja, ich nannte ihn jetzt äußerst förmlich, weil es absurd wäre, ihn anders zu nennen, da prinzipiell nie etwas passiert war — das Seminar.

Wir sprachen heute weiter über das Verhältnis zwischen Vincent und seinem Bruder Theo. Lasen einige Briefe von ihnen und redeten über deren Inhalte sowie versteckten Bedeutungen. Gingen auf die Bilder ein, über die van Gogh darin berichtete. Nahmen Bezug auf seine damalige Lebens- und Denkweise. Unterdessen ließ Herr Degenhardt eine Liste durch die Reihen gehen, in der man das gewählte Thema für das Referat beziehungsweise die Hausarbeit eintragen sollte.

Da unser Dozent sein Handwerk mehr als gut beherrschte, verflog die Zeit tatsächlich schnell. Wie gesagt: Was waren denn schon eineinhalb Stunden?

Dabei hatte ich es sogar geschafft, ihm nicht ein einziges Mal in die Augen zu schauen, selbst wenn ich mich meldete und zu einem Themenpunkt äußerte. Richtig professionell. So wie es eben sein sollte. Wie, als wenn absolut nie etwas zwischen uns vorgefallen wäre.

Pünktlich um dreiviertel vier schloss Herr Degenhardt die Veranstaltung und ich packte hastig mein Zeug zusammen. Nebenbei fragte ich Adrian, ob er Zeit für einen schnellen Kaffee hatte, was er erfreut bejahte. Gerade wollte ich den Saal verlassen, da wurde ich auch schon aufgehalten.

„Frau Wiesinger, ich hätte da noch eine Frage zu Ihrem Referatsthema. Hätten Sie kurz Zeit?" Verflucht, allein beim Klang, wie er meinen bescheuerten Nachnamen aussprach, fing mein Herz verräterisch an zu pochen.

Ich wandte mich augenverdrehend an Adrian. „Keine Ahnung, warum mir die Pause jetzt nicht gleich vergönnt ist. Wartest du in der Cafete und lässt mir einfach einen Kaffee raus? Ich komme gleich nach."

Nachdem er sein Einverständnis gegeben hatte, drückte ich ihm meinen Thermobecher und meine Mensakarte in die Hände, ehe ich zurück in den Seminarraum ging, der nun von den letzten Studenten verlassen wurde.

Die Tatsache, dass ich mit ihm wieder einmal allein war, ignorierte ich. Die Tatsache, dass ich verdammt aufgeregt war, ignorierte ich. Und die Tatsache, dass mich Herr Degenhardt mit seinen ozeanblauen, viel zu wunderschönen Iriden fixierte, ignorierte ich. Zumindest versuchte ich es. Doch ich wagte es nicht, seinen Blick zu erwidern. Zu große Angst hatte ich davor, was das mit mir anstellen konnte.

„Stimmt etwas nicht mit meinem Thema?", fragte ich mit möglichst fester Stimme, meine Augen stur auf die Tischkante gerichtet.

„Doch. Ich wollte nur wissen, ob Sie sich dabei mit dem Genie oder mit dem Wahnsinn näher beschäftigen?" Verdammt, wieso konnte ich nicht eine verzerrte Spur über diese sexy Tonlage spielen? Oder warum sprach er nicht wie Donald Duck? Alles besser als das, was ich hörte, denn es ließ jedes einzelne Härchen an mir aufstellen.

„Ist das nicht offensichtlich?" Na toll, da kam direkt meine Gegenfrage, die ich eigentlich nicht hätte stellen dürfen. Aber mein Körper drehte schon wieder durch und diese unüberlegten Handlungen übernahmen das Ruder. Dummer Fehler. Jetzt durfte ich ihn nur nicht weiter ansehen, weshalb ich die Tafel hinter ihm näher begutachtete.

„Ach ja? Was ist denn so offensichtlich?", hakte Degenhardt nach und ich konnte im Augenwinkel sehen, dass er um das Pult herum auf mich zutrat.

„Das sollten Sie doch als Dozent wissen, oder nicht?" Nächste schnippische Gegenfrage. Perfekter Lauf. Nun sollte ich aber schleunigst verschwinden, mir eine Ausrede einfallen lassen.

„Sie verfallen in alte Muster, Frau Wiesinger", sprach er leise. In einem Tonfall, der schon fast drohend klang. Nicht drohend im Sinne von angsteinflößend, sondern drohend im Sinne von dominant. Eine Dominanz, die meinen Körper erneut zum Beben brachte und mir damit die Kontrolle entzog.

Denn als Nächstes begann ich einen dritten Fehler. Ich sah ihn an. Registrierte, dass er weniger als einen Meter von mir entfernt stand. Atmete seinen verführerisch herben Duft ein. Nahm die elektrisierende Spannung zwischen uns wahr. Wanderte mit meinem Blick über sein markantes Kinn, weiter zu seinen sinnlichen Lippen, die so verflucht gut küssen konnten.

Schließlich sah ich in seine Augen, in denen ein Tsunami aus Verlangen und Erregung wütete. Noch hielt er sich zurück, aber es fiel ihm sichtlich schwer, was sich in seiner verkrampften Körperhaltung widerspiegelte. Es fehlte vermutlich wenig, bis er seine Beherrschung verlor.

„Von welchen alten Mustern sprechen Sie, Herr Degenhardt?", fragte ich im Unschuldston, wagte indes einen kleinen Schritt in seine Richtung und blickte ihn unverwandt an. Zu meiner Verteidigung: Ich war wirklich nicht Herr meiner Sinne und Handlungen!

„Das weißt du ganz genau", raunte Degenhardt und schloss somit den letzten Abstand zwischen uns, sodass unsere Gesichter nur noch einen Hauch voneinander entfernt waren.

Ehe ich ihn mit einer weiteren Aussage reizen konnte, umfasste er mich fordernd an der Taille und küsste mich. Der Kuss war verzweifelt, wild, leidenschaftlich. Er strotzte vor Verlangen und Entschlossenheit.

Dementsprechend konnte ich nicht anders, als ihn zu erwidern. Mit all der Verzweiflung und Sehnsucht, die ich seit dem letzten Kuss empfunden hatte, gab ich meine Antwort. Der Moment raubte mir wieder den Atem sowie den Verstand. Meine Hände vergruben sich in seiner gestriegelten Frisur, wühlten darin und zogen sein Gesicht näher an das meine. Seine Bartstoppeln kratzten sanft an meiner Haut, hinterließen ein süßes Brennen. Unsere Zungen fanden sich, wandten sich, rangen miteinander.

Doch auf einmal wurde mir schlagartig bewusst, was gerade passierte, sodass ich ihn abrupt von mir stieß. Wie gerne hätte ein gewisser – ziemlich dummer – Teil von mir einfach weitergemacht, sich diesen stürmischen Küssen hingegeben. Aber es war nicht richtig!

Als ich in Degenhardts Gesicht blickte, flackerte immer noch die Begierde in seinen Augen. Doch dann erreichte wohl die Vernunft sein Gehirn und sein Ausdruck wechselte zu vollkommenem Entsetzen.

Bevor Degenhardt erneut einen verletzenden Spruch verlauten ließ, kam ich ihm flüsternd zuvor. „Jetzt sag nicht, dass das nicht hätte passieren dürfen! Verdammt, die Tür steht noch offen! Wenn das jemand gesehen hätte ... Das darf und wird schlichtweg nie mehr passieren!"

Starr den Boden vor sich fixierend, rückte er die Krawatte zurecht und strich einige verirrte Strähnen seines Haares wieder glatt. Als wollte er alle Indizien, die für diesen verbotenen Kuss zeugten, von sich streifen. Das war allerdings zwecklos, denn seine Lippen waren nicht weniger verräterisch geschwollen als meine.

Dieses Mal wagte Degenhardt es nicht, mich anzuschauen und ich erlebte ihn erstmals sprachlos. Keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging. Zu gerne würde ich es wissen. Aber er musste vermutlich dasselbe denken wie ich: Wir dürfen das nicht. Wir sollten das nicht. Und es darf nie wieder so weit kommen.

„Um achtzehn Uhr in meinem Büro", platzte es plötzlich aus ihm heraus.

„Wa-was? Nein! Ich werde nicht kommen!", widersprach ich energisch, während ich ihn mit entgeisterter Miene betrachtete.

Ist er jetzt vollkommen verrückt geworden?

„Wir sollten das in Ruhe klären", sprach Degenhardt in einer nüchternen Tonlage, sodass jegliches Blut in meinen Adern gefror. „Und nun geh zu deinem Kurs. Wir sehen uns später."

„Ich wüsste nicht, was wir zu klären hätten!" Dies waren meine letzten Worte, ehe ich aus dem Saal trat. Ich würde definitiv nicht um achtzehn Uhr in seinem Büro erscheinen.

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