6. Kapitel
Auch wenn ich kaum fassen kann, dass ich das sage: Nach dem ersten, miesen Tag wurde die Schule tatsächlich besser.
Am nächsten Morgen verschlief ich nicht und war pünktlich mit den anderen zum Frühstück in der Grossen Halle. Die Auswahl an Essen war gigantisch. Es gab Bohnen, gebratenen Speck, geröstete Tomaten, Würstchen, Toast, Porridge und so weiter. Leider aber kein Brot wie das meiner Mutter. Trotzdem langte ich begeistert zu und tat mir mehr auf, als ich wahrscheinlich würde essen können. Aber ich hatte schliesslich das Frühstück von gestern nachzuholen.
Auf einmal war das schrille Kreischen eines Vogels zu hören. Irritiert sah ich auf, aber ich konnte nichts erkennen – bis plötzlich mit lautem Krachen ein grosses Päckchen beinahe auf meinem Kopf landete. Erst da kam es mir in den Sinn, nach oben zu schauen. Duzende Eulen flogen durch die Halle, liessen Päckchen und Briefe fallen oder brachten sie direkt zu ihren Empfängern.
«Hast du etwa noch nie eine Eule gesehen?», fragte Alicia, die meine erstaunte Miene gesehen hatte.
«Doch natürlich», verteidigte ich mich, «die Eule, die den Hogwartsbrief gebracht hat.»
«Aber ich dachte, bei Muggelstämmigen kommt immer ein Lehrer vorbei, der den Eltern alles erklärt», bemerkte Fred irritiert.
«Bei mir nicht», sagte ich. «Aber wahrscheinlich lag das daran, dass meine Mutter mich für Hogwarts angemeldet hat.»
«Moment mal, deine Mutter – eine Muggel – hat dich für Hogwarts angemeldet. Bist du sicher?», war es jetzt an George zu fragen.
Verwirrt nickte ich.
«Aber wenn deine Mutter keine Hexe ist und keiner der Lehrer dich in die Winkelgasse mitgenommen hat, wie bist du dann dorthin gekommen?», kam es von Alicia.
«Nun, ich war zusammen mit meiner Ma dort, ...», sagte ich, dann sah ich die Mienen der anderen. «Stimmt was nicht?»
«Nun, deine Ma dürfte eigentlich gar nicht wissen, wie man in die Winkelgasse kommt, geschweige denn, dass sie eigentlich gar nicht dahinkommen kann, jedenfalls nicht, ohne dass ein Zauberer oder eine Hexe ihr dabei hilft», sagte Fred.
George erklärte, was sein Bruder meinte: «Zuerst einmal können nur Hexen und Zauberer den tropfenden Kessel sehen. Und dann musst du mit dem Zauberstab auf einen bestimmten Stein in der Mauer im Hinterhof tippen.»
Meine Ma hatte einfach mit dem Finger auf besagten Stein getippt. Aber das machte keinen Sinn. Irgendetwas stimmte hier nicht.
«Wir müssen los», unterbrach jetzt Angelina unser Gespräch und gemeinsam machten wir uns auf die Suche nach dem Klassenzimmer für Zauberkunst.
Wir kamen nur eine Minute zu spät – was schon ein beträchtlicher Fortschritt war – und verteilten uns auf die noch freien Plätze. Ich setzte mich neben Jessie – wir hatten Zauberkunst zusammen mit den Slytherins. Professor Flitwick, der Lehrer für Zauberkunst, war ein sehr kleiner Zauberer, der auf einem Stapel Bücher stand, um die ganze Klasse zu überblicken. Er begann mit uns einen Schwebezauber zu üben, allerdings schaffte es keiner von uns bis zum Ende der Stunde die Federn, die wir als Übungsobjekte benutzten, schweben zu lassen.
Danach hatten wir Verwandlung bei Professor McGonagall. Wieder kamen wir nur wenig zu spät, doch im Gegensatz zu Professor Flitwick strafte uns McGonagall mit einem strengen Blick. Schon am vorigen Morgen, als ich zu spät in die Grosse Halle gekommen war, hatte ich bemerkt, dass Professor McGonagall sehr streng war; dieser Eindruck bestätigte sich nun. Nachdem sie ihren Schreibtisch in ein Schwein und wieder zurück verwandelt hatte, hielt sie uns erst einmal einen Vortrag über die Disziplin, die es brauchte, um in Hogwarts erfolgreich zu sein und die Verantwortung, die ein jeder von uns als Hexe und Zauberer trug. Danach verteilte sie Streichhölzer, die wir in Nadeln verwandeln sollten. Ähnlich wie in Zauberkunst zuvor konnte am Ende der Stunde kaum einer einen Erfolg vorweisen. Zwar waren einige Streichhölzer ganz spitz geworden oder glänzten silbern, aber keiner hatte eine Nadel zu Stande gebracht.
Nach dem Mittagessen ging es mit Verteidigung gegen die Dunklen Künste weiter, dem Unterrichtsfach, das wir alle mit grösster Spannung erwartet hatten. Professor Otkins enttäuschte unsere Erwartungen nicht. Er begann seinen Unterricht mit einem kleinen Vortrag über einen dunklen Zauberer mit dem komischen Namen Lord Voldemort, der die Zaubererwelt vor einigen Jahren in Angst und Schrecken versetzt hatte und der schliesslich von einem einjährigen Jungen besiegt worden war. Eine ziemlich haarsträubende Geschichte, die scheinbar alle, die aus einer Zaubererfamilie stammten, bereits kannten.
«Voldemort – Der-dessen-Namen-nicht-genannt-werden-darf oder Du-weisst-schon-wer, wie die meisten Hexen und Zauberer ihn nennen – ist ein gutes Beispiel dafür, weshalb es ungemein wichtig ist zu lernen, wie man sich gegen die Dunklen Künste verteidigt», schloss Professor Otkins seine Erzählung.
Ich hob meine Hand. «Gab es denn seit diesem Lord Voldemort weitere dunkle Zauberer?», fragte ich neugierig. Ich registrierte, dass wie schon vorher viele zusammenzuckten, als ich den Namen 'Voldemort' aussprach.
«Nein, Miss Seanorth. Zum Glück gab es seither keinen solchen Zauberer mehr», antwortete Professor Otkins, «Allerdings gibt es viele, die glauben, dass Voldemort nicht endgültig besiegt ist und er eines Tages zurückkehren wird. Meine Aufgabe ist es, Sie auf diesen Tag – oder ein ähnliches Ereignis – vorzubereiten.»
Er liess seinen Blick über die Klasse schweifen und sprach dann weiter: «Da Sie alle noch sehr wenig Erfahrung mit der Zauberei haben, werden wir das Thema Flüche und Gegenflüche auf die zweite Hälfte des Schuljahrs vertagen und uns erst einmal den schwarzmagischen Geschöpfen zuwenden. Diese können uns genauso gefährlich werden wie Flüche.»
Ein leises Murren ging durch die Klasse ob der Nachricht, dass die Flüche leider noch warten mussten. Trotzdem lauschten wir gebannt Professor Otkins Schilderungen über Hinkepanks – oder Irrlichter, wie sie bei den Muggeln genannt wurden – und machten uns eifrig Notizen. Als Professor Otkins uns Ende der Stunde erklärte, dass wir demnächst eine praktische Übung mit Hinkepanks durchführen würden, waren wir alle hellauf begeistert. Einstimmig ernannten wir Professor Otkins zum besten Lehrer, den wir bis jetzt hatten und Verteidigung gegen die Dunklen Künste zu unserem Lieblingsfach.
An diesem Abend hatten wir unsere erste Doppelstunde in Astronomie – von elf Uhr bis um eins – für die wir die unzähligen Treppenstufen zur Spitze des Astronomieturms hinauf klettern mussten. Oben angekommen erklärte uns Professor Sinistra, die Lehrerin für Astronomie, wie wir unsere Teleskope richtig einstellen mussten und zeigte uns die Sternbilder des grossen und kleinen Wagens und den Polarstern – etwas, dass ich bereits zu Hause in meiner alten Schule gelernt hatte; nebst anderen Methoden herauszufinden, wo Norden war.
Am nächsten Morgen hatten wir glücklicherweise frei und konnten ausschlafen, bevor es nach dem Mittagessen mit einer Doppelstunde Zaubertränke weiterging. Das Klassenzimmer für Zaubertränke war in den Kerkern und Alicia und ich verliefen uns einige Male, bevor wir es fanden. Die anderen Gryffindors und die Ravenclaws waren bereits da und wir unterbrachen den Zaubertranklehrer mitten in seinem Vortrag, als wir die Tür zum Kerker aufstiessen.
«Sie sind dann wohl Miss Spinnet und Miss Seanorth», schnarrte er und durchbohrte uns mit finsteren Blicken, die einem angst und bange werden liessen. «Setzen! Und fünf Punkte Abzug für Gryffindor.»
Wir setzten uns schnell, um den düsteren Professor nicht noch mehr zu verärgern, und holten unsere Hefte heraus. Gewissenhaft notierte ich mir, was er über die korrekte Zubereitung der Zutaten sagte, doch ich war nicht ganz bei der Sache. Der Mann verhielt sich so völlig anders als bei unserer Begegnung in der Winkelgasse. Irgendetwas an diesem Mann irritierte mich, etwas, dass mir damals nicht aufgefallen war. Er war gross, hatte schwarze Augen und schwarzes Haar, einen blassen Teint und trug wieder ausschliesslich schwarz.
«Miss Seanorth», knurrte der Lehrer, der plötzlich direkt vor meinem Pult aufgetaucht war und sich nun bedrohlich vor mir aufbaute, «Brauchen Sie eine extra Einladung, damit Sie mit dem Brauen ihres Zaubertranks anfangen?»
Ich zuckte zusammen und starrte den Professor wie paralysiert an – wie eine Maus Auge in Auge mit einer Katze. Raubkatzenaugen! Das war es! Derselbe Blick, den auch meine Ma absolut perfekt draufhatte. Waren sie deshalb so gut miteinander ausgekommen? Ich spürte wie ich rot wurde und senkte meinen Blick auf das Pult.
«Na los!», knurrte Professor Snape und ich stand hastig auf und eilte zum Zutatenschrank. Auf halbem Weg blieb ich schon wieder stehen und drehte mich um, um auf der Tafel nachzulesen, was ich überhaupt brauchte. Professor Snape folgte jeder meiner Bewegungen mit seinen unheimlichen, dunklen Augen.
Der Trank, den wir in dieser Stunde brauen sollten, war ein Heiltrank gegen Furunkel. Snape schritt währenddessen bedrohlich durch die Klasse, schaute in die verschiedenen Kessel und hatte bei allen etwas auszusetzen.
«Miss Seanorth, diese Giftzähne sind viel zu grob gemahlen. Wenn Sie diese so ihrem Trank beigeben, werden sie ihrem Patienten die inneren Organe zerfetzen», belehrte er mich, als ich gerade mein Giftzähne-Pulver in den Trank kippen wollte. Schnell zog ich die Schale zurück und griff erneut zum Mörser.
Am Ende der Stunde wies Snape uns an, eine Probe unseres Trankes in ein Fläschchen abzufüllen und dieses nach vorne zu füllen. Ich tat wie geheissen und stellte meinen Zaubertrank skeptisch aufs Lehrerpult. Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich alles richtig gemacht hatte, so viel wie er an meiner Arbeit kritisiert hatte, allerdings hatte mein Trank im Gegensatz zu vielen anderen die gewünschte Farbe.
Bereits nach der ersten Schulwoche türmten sich die Hausaufgaben zu Bergen und ich verbrachte den ganzen Samstag in der Bibliothek und schlug in Büchern Informationen für die verschiedenen Aufsätze nach. Jessie leistete mir Gesellschaft und wir arbeiteten zusammen an einem Aufsatz über Mondsteine für Snape. Jessie hatte mir erzählt, dass er der Hauslehrer der Slytherins war und diese immer bevorzugte. Ich fragte mich, wieso die anderen Lehrer ihm dieses Verhalten durchgehen liessen, fand aber keine Antwort.
Während wir zusammen in der Bibliothek sassen, musste ich an Joanne denken. Wir hatten oft zusammen Hausaufgaben gemacht, hatten generell sehr viel zusammen unternommen. Praktisch jede Minute meiner freien Zeit hatte ich mit Joanne verbracht, wir waren bei ihr Zuhause, meistens verschanzten wir uns in der Baumhütte, die ihr Vater mit uns beiden gebaut hatte und redeten oder spielten. Bei mir Zuhause waren wir selten. Meine Ma war fast immer weg und unser Haus war nicht halb so gemütlich und einladend wie das von Joannes Eltern. Beim Gedanken an diese glücklichen Stunden musste ich seufzen, wenn ich Joanne doch wenigstens schreiben könnte...
Mir kam eine Idee. «Jessie, kann ich mir deine Eule leihen, um einer Freundin zuhause zu schreiben?», fragte ich sie.
«Klar, kannst du», willigte sie ein. «Aber meinst du nicht, dass es seltsam wirkt, wenn eine Eule deiner Muggelfreundin einen Brief bringt?»
Jessie hatte Recht. «Hm, dann schicke ich den Brief eben Ma, sie kann ihn dann an Joanne weiterschicken. Ma musste ich sowieso noch schreiben, damit sie meinen Walkman reparieren lässt», überlegte ich.
«Was ist ein Walkman?», fragte Jessie verwirrt.
«Du weisst nicht, was ein Walkman ist?»
Jessie schüttelte den Kopf. «Ist das irgendeine Muggelerfindung?»
Ich nickte und freute michdarüber, dass sie genauso wenig über die Muggelwelt wusste, wie ich über die Zaubererwelt. Dann erklärte ich ihr, was es mit der genialen Erfindung des Walkmans auf sich hatte, mit dem man immer und überall Musik hören konnte.
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