12. Kapitel
Weihnachten in Hogwarts war einfach wunderbar. Der einzige Wermutstropfen war, dass ich Joanne nicht sah. Seit Anfang Dezember hatte es immer wieder geschneit und nun lag auf den Ländereien mehr Schnee, als ich in London jemals gesehen hatte. Am Tag bevor die anderen Schüler abreisten, stellte Hagrid in der Grossen Halle zwölf riesige Tannen auf, die Professor Flitwick mit dem Wingardium Leviosa schmückte. An diesem Abend gab es ein vorweihnachtliches Festessen, das wieder einmal vorzüglich schmeckte.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Angelina schon abgereist. Alicias Bett war ebenfalls verwaist und ich machte mich auf den Weg in die Grosse Halle zum Frühstück. Nicht viele Schüler hatten sich entschieden, über Weihnachten in Hogwarts zu bleiben; die meisten wollten die Festtage mit ihren Familien verbringen. Dementsprechend schlecht besetzt waren die Haustische. Nebst Alicia, den Weasleys und mir waren nur noch eine Hand voll weiterer Gryffindors dageblieben und bei den Ravenclaws, Hufflepuffs und den Slytherins zeigte sich ein ähnliches Bild. Mit Erleichterung stellte ich fest, dass Melanie Cole ebenfalls nach Hause gefahren war.
Immer noch etwas verschlafen quetschte ich mich auf die Bank zwischen Alicia und Fred, pardon George, und schenkte mir ein Glas Milch ein.
«Und, was machen wir jetzt so in den Ferien? Das Schloss und all seine Geheimgänge erkunden?», schlug ich vor, während ich mir ein Stück Brot mit Butter und Honig bestrich.
Fred und George warfen sich verschmitzte Blicke zu.
«Oder wir könnten einen Schneetroll bauen oder eine Schneeballschlacht veranstalten oder schlitteln gehen ...», zählte Alicia auf.
«Oder wir gehen auf die Suche nach diesem Monster», sagten die Zwillinge unisono.
«Nein! Kommt nicht in Frage!», sagte Alicia heftig.
Ich sagte nichts. Immer noch verspürte ich kein Bedürfnis, nochmals ausserhalb meines Bettes ertappt zu werden.
«Was ist mit dir, Adrienne? Du bist doch sicher noch hinter dem Monster her», sagte Fred und zwinkerte mir zu.
George fügte an: «Und mit uns wirst du auch garantiert nicht erwischt werden. Grosses Indianerehrenwort.»
Wütend starrte Alicia die Beiden abwechselnd an, während ich voller Konzentration auf meinen Teller blickte und aus meinem simplen Honigbrot ein Kunstwerk machte. Die Zwillinge hatten Recht, dieses Monster liess mir keine Ruhe. Ich wollte wissen, was die Katzen angriff. Jede Katze schwebte in Gefahr, solange dieses Wesen frei herumlief – auch wenn es gerne Mrs Norris verspeisen durfte. Bisher war Filchs Katze allerdings – leider – verschont geblieben. «Wir könnten das Untier ja mit Mrs Norris ködern.»
Die Zwillinge brachen in Gelächter aus und auch Alicia fiel nach einem tadelnden Blick mit ein.
Trotz des Vorschlags der Zwillinge verbrachten wir die nächsten Tage mit normalen Winteraktivitäten oder hingen einfach im Gemeinschaftsraum herum, lasen, spielten Zaubererschnippschnapp oder genossen es, einfach einmal gar nichts zu tun. Da die anderen Schüler alle zu Hause waren, konnten wir uns so richtig schön ausbreiten und sogar die besten Sessel direkt vor dem Kamin belegen.
Die Wintersonnenwende kam und ging und ich hielt eine einsame Nachtwache, die ich sonst immer mit Ma verbracht hatte. Während die Stunden langsam dahinzogen, dachte ich an die vergangenen Jul-Nächte. Es war ein alter Brauch, die Nacht der Wintersonnenwende zu durchwachen. Ma hatte mir viel über solche alten Feste beigebracht und besonders während der Nachtwachen erzählte sie mir viele Geschichten – Märchen, Sagen, Legenden, aber auch wahre Begebenheiten. Meinerseits las ich aus meinen Lieblingsbüchern vor, da ich nicht so viele Geschichten auswendig kannte. Um Mitternacht waren wir dann immer nach draussen gegangen und hatten im Garten ein Feuer angezündet. «Das ist die Nacht, in der das Licht neu geboren wird. Heute kehrt der Lichtkönig zurück und die Tage werden wieder heller», hatte meine Ma dann immer gesagt und nachdenklich in die Flammen gestarrt. Dieses Mal hatte mein Feuer lediglich aus einer Kerze bestanden.
Auch Heilig Abend verstrich, ohne dass jemand Notiz davon zu nehmen schien, obwohl doch in dieser Nacht der Lichtkönig der Christen geboren wurde. Aber scheinbar waren Hexen und Zauberer nicht gläubig. Schliesslich brach der Weihnachtsmorgen an. Ein Kissen, das mir ins Gesicht geworfen wurde, weckte mich unsanft.
«Aufwachen, Schlafmütze! Es gibt Geschenke!», rief Alicia begeistert.
Murrend und blinzelnd öffnete ich die Augen. Ich hatte Ferien! Wieso konnte Alicia mich nicht einfach ausschlafen lassen? Doch als mein Blick auf den Stapel mit Geschenken an meinem Bettende fiel, war ich gleich hellwach. Alicia hatte sich schon durch die Hälfte ihres Geschenkbergs gekämpft, als ich das erste Päckchen vom Stapel nahm und das Geschenkpapier aufriss. Es war ein Buch über Quidditch mit dem Titel Quidditch im Wandel der Zeiten. Die Geschenkkarte verriet mir, dass es von Charlie war. Der Quidditchkapitän von Gryffindor konnte natürlich nicht zulassen, dass ich mein Wissen über seinen Lieblingssport – und den Lieblingssport der gesamten Zauberergemeinschaft – vernachlässigte.
Das nächste Päckchen war von Ma und enthielt ebenfalls ein Buch: Die Märchen von Beedle dem Barden. Die Nachricht auf dem beigelegten Brief war kurz:
Liebe Adrienne
Ein verspätetes Geschenk zum Jul-Fest. Ich hoffe, du hattest eine schöne Nachtwache.
Ich wünsche dir nachträglich einen schönen Jul und ein gutes neues Jahr.
Alles Liebe
Ma
«'Die Märchen von Beedle dem Barden'», las Alicia den Titel vor. «Wer schenkt dir denn die? Die hat doch jedes Kind im Bücherregal stehen. Sind schliesslich die bekanntesten und beliebtesten Märchen, die es gibt. Oder hast du eine Tante, die eine totale Märchenfanatikerin ist.»
«Ich habe noch nie von diesen Märchen gehört. Ich dachte immer, die Märchen der Gebrüder Grimm sind die bekanntesten und beliebtesten.»
«Was für Brüder?», fragte Alicia unwissend.
«Na, die Gebrüder Grimm. Aschenputtel, Rotkäppchen, Schneewittchen, Schneeweisschen und Rosenrot, Tischlein deck dich, ... du weisst schon, all diese Märchen eben.»
Alicia starrte mich an, als spräche ich Chinesisch, dann aber hellte sich ihr Gesicht auf. «Das sind Muggelmärchen, richtig? Nun, die Märchen von Beedle dem Barden sind Märchen aus der Zaubererwelt.»
Stirnrunzelnd betrachtete ich das Buch. Wie kam meine Ma an ein Buch mit Zauberermärchen? Doch es war Weihnachten und ich hatte keine Lust, mir lange darüber den Kopf zu zerbrechen und so nahm ich mir die anderen Geschenke vor. Von Angelina, Fred und George bekam ich Süssigkeiten und Alicia schenkte mir ein Set explodierender Karten, mit denen wir immer Zaubererschnippschnapp spielten.
Als wir am Abend zum Festessen die Grosse Halle betraten, waren die Haustische und der Lehrertisch verschwunden, stattdessen stand ein einzelner, grosser Tisch in der Mitte der Halle. Die Christbäume waren näher an den Tisch herangezogen und der Rest der Halle mit wärmeresistentem Schnee bedeckt worden. Sogar die Schneetrollfamilie, die wir in den letzten Tagen gebaut hatten, hatte auf mysteriöse Weise ihren Weg in die Halle gefunden und stand nun dort, wo sonst der Lehrertisch stand.
Wir setzten uns und als alle da waren, erhob sich Dumbledore: «Ich fand es irgendwie unpassend, wenn fünfzig Leute sich zum weihnachtlichen Festessen auf fünf unendlich lange Tische verteilen, deshalb dieses Arrangement hier. Und nun, schöne Weihnachten und guten Appetit.»
Von einem Moment auf den anderen erschien das Essen auf dem Tisch. Nebst den zahlreichen, verschiedenen Speisen waren auch eine Vielzahl an Knallbonbons aufgetaucht. Anders als die Knallbonbons der Muggel, enthielten diese richtig gute Geschenke und vor allem solche, die so gross waren, dass es definitiv nur mit Magie möglich gewesen war, sie in den kleinen Bonbons unterzubringen. Anstatt des Konfettis waren weisse Mäuse drin, was mich kurz erschreckt hatte aufschreien lassen – nicht, weil es Mäuse waren, ich hatte keine Angst vor Mäusen, sondern weil sich diese Dinger bewegt hatten und ich nicht erwartet hatte, dass etwas Lebendiges aus den Bonbons kommen würde.
Auch die Tage nach Weihnachten verbrachten wir damit, uns im Schnee auszutoben oder uns im Gemeinschaftsraum zurückzulehnen. Alicia und ich erkundeten gemeinsam mit den Zwillingen das Schloss, wobei man wohl eher sagen musste, dass sie uns herumführten, denn sie kannten sich sehr viel besser aus als wir, obwohl wir doch alle erst seit diesem Herbst hier waren. Irgendwann in der langen Zeit zwischen Weihnachten und dem Ende der Ferien wurde uns dann aber tatsächlich – und ich kann nicht glauben, dass es wirklich so war – langweilig. Da kamen die Weasley-Zwillinge auf die Idee zurück, die sie bereits anfangs der Ferien aufgebracht hatten und ja, obwohl es eine total blöde, unkluge, hirnrissige und gefährliche Idee war, gingen Fred, George und ich in den Verbotenen Wald, um erneut nach dem Monster zu suchen. Es geschah nichts. Rein gar nichts. Wirklich überhaupt nichts. Wir wurden nicht erwischt oder aufgehalten, fanden aber auch nichts. Okay, zwei erwähnenswerte Dinge gab es dabei schon. Zum einen trafen wir im Wald auf ein paar Zentauren, die uns freundlich begrüssten und etwas mit uns plauderten, uns dann aber für verrückt erklärten, als wir ihnen erzählten, dass wir das Monster jagten, das die Katzen frass. Sie rieten uns dringend davon ab, weiter nach dem Untier zu suchen. Wir taten es trotzdem. Zum anderen war da diese Karte. Fred und George hatten dieses überaus nützliche Stück Pergament aus Filchs Büro geklaut. Es zeigte das ganze Schloss und das Gelände und es zeigte auch, wer sich gerade wo aufhielt. Dank diesem genialen Pergament verirrten wir uns kein einziges Mal im Wald, und ja, der Karte hatten wir es auch zu verdanken, dass uns weder Filch, noch Mrs Norris oder einer der Lehrer erwischte.
Die Ferien gingen zu Ende und die anderen Schüler kamen zurück ins Schloss. Mit Faulenzen war es nun vorbei, denn die Lehrer hatten auch im neuen Jahr keine Nachsicht mit uns und erteilten bergeweise Hausaufgaben. Besonders viel gaben McGonagall und Snape auf; McGonagall, weil Verwandlung ein äusserst schwieriges, komplexes Fach war und Snape, weil er uns das Leben schwer machen wollte. Der Januar ging in den Februar über. Mitte Februar setzte ein typisch britischer Dauerregen ein, der den Himmel tage- und wochenlang in grau tauchte. Es gab keine weiteren Angriffe auf Katzen. Vielleicht war das Monster weitergezogen oder es hielt Winterschlaf. Die meisten gingen davon aus, dass es keine weiteren Angriffe geben würde, obwohl wir alle sehr bedauerten, dass das Monster Mrs Norris nicht erwischt hatte.
Es war ein gewöhnlicher Morgen Mitte März. Wir sassen in der Grossen Halle und Frühstückten, über uns der mit grauen Wolken verhangene Dachstock. Immerhin fiel der Regen nicht bis zu den Tischen hinab. Plötzlich hörten wir einen Schrei aus der Eingangshalle. Alle sprangen auf, um zu sehen, was los war. Fred, George, Lee, Alicia, Angelina und ich drängelten uns unter Einsatz unserer Ellenbogen nach vorn. Mitten in der Eingangshalle kniete Jessie und vor ihr lag, Blut überströmt und das Fell völlig zerfetzt, eine Katze. Wir drängten uns näher um sie, alle versuchten einen möglichst guten Blick auf das Geschehen zu bekommen.
«Zur Seite, bitte. Zur Seite!», erklang die herrische Stimme von Professor McGonagall und die Schüler machten ihr einen Durchgang frei. «Miss Silver, was ist geschehen?», fragte McGonagall Jessie.
«Dieses Monster hat Minky erwischt», schluchzte Jessie. «Sie war doch noch ganz jung. Dad hat sie mir zu Weihnachten ...» Der Rest des Satzes ging in einem lauten Schluchzer unter. Jessies Bruder Jeremy drängte sich durch die Menge und legte seiner Schwester tröstend einen Arm um die Schulter. Professor McGonagall beugte sich über die Katze.
«Sie ist tot. Es tut mir leid, Miss Silver», stellte unsere Verwandlungsprofessorin fest. «Bitte gehen Sie jetzt alle in den Unterricht», scheuchte sie uns weg und hob die tote Katze hoch.
«Wo bringen Sie sie hin?», fragte Jessie.
«Zu Hagrid. Er wird sie begraben.»
«Ich komme mit!»
«Nein, Miss Silver», sagte Professor McGonagall und sah Jessie streng an. «Sie gehen wie alle anderen in den Unterricht. Wenn Sie möchten, kann ich Hagrid bitten, bis heute Abend zu warten, dann können Sie dabei sein.»
Jessie zögerte, willigte dann aber ein.
In den ersten zwei Stunden an diesem Morgen hatten wir Zauberkunst – zusammen mit den Slytherins. Professor Flitwick liess uns Ausdehnungszauber üben, wofür er uns – wie so häufig – Kissen verteilte, die wir vergrössern sollten. Wahrscheinlich würden wir in einer Woche oder so genau die gleichen Kissen wiederbekommen, um sie schrumpfen zu lassen. Allerdings war ich heute nicht bei der Sache. Während der ganzen Doppelstunde sah ich immer wieder zu Jessie, die sich verstohlen Tränen vom Gesicht wischte. Erst, als mein Kissen explodierte und Flitwick mir tadelnd ein neues gab, riss ich meine Gedanken mit Gewalt von Jessie und ihrer Katze los.
Nach Zauberkunst fing ich Jessie im Gang ab. «Ähm, Jessie? Also, ich wollte dir nur sagen ... es tut mir leid, was mit deiner Katze passiert ist», druckste ich herum.
Jessie nickte traurig. «Danke Adrienne. Und mir tut es leid, dass ich dich nicht verteidigt habe, als die anderen dich Schlammblut geschimpft haben. Du hattest Recht, so verhält sich keine Freundin. Kannst du mir verzeihen?»
Erleichtert lächelte ich Jessie an und gemeinsam gingen wir den Korridor entlang. Bevor wir uns trennten, fasste Jessie mich am Arm. «Adrienne, was ich dich noch fragen wollte – du hast doch nach diesem Monster gesucht – hast du die Suche aufgegeben? Weil ich mitkommen will, wenn ihr euch das nächste Mal rausschleicht», sagte Jessie grimmig.
Ich kaute nachdenklich auf meiner Unterlippe. Eigentlich wollte ich mich nicht schon wieder rausschleichen. Was wenn ich wieder erwischt wurde? Andererseits wollte ich immer noch herausfinden, was die Katzen angriff. Nachdem wir heute Jessies Katze gefunden hatten mehr denn je. Und Fred und George hatten ja diese nützliche Karte... «Ist gut, ich geb' dir Bescheid», sagte ich. Dann trennten wir uns. Jessie ging Richtung Kerker und ich machte mich auf den Weg zu Verwandlung.
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