11. Kapitel
Es war ein Licht. Oben am Abhang tauchte ein Licht auf.
«Ein Irrlicht?», fragte ich Cedric.
«Ein was?»
«Ein Irrlicht.» Jeder wusste doch, was ein Irrlicht war! Aber Moment, hatten wir Irrlichter nicht in Verteidigung gegen die dunklen Künste behandelt? Die Zauberergemeinschaft nannte sie ... «Ein Hinkepank», fügte ich erklärend hinzu.
«Aber wir sind nicht in einem Sumpf», sagte Cedric.
«Hey! Wer seid ihr?», rief das Irrlicht. «Seid ihr Hogwartsschüler?»
Cedric und ich sahen uns irritiert an. Konnten Irrlichter sprechen? Das Licht zitterte und kam dann hüpfend den Hang herab. Cedric und ich wichen, so schnell es mit einem verstauchten Knöchel ging, zurück. Dann war das Licht unten am Abhang angekommen und hinter dem Licht war auf einmal ein Gesicht zu erkennen. Ein sommersprossiges Gesicht und viel rotes Haar.
«Charlie? Bist du das?», fragte ich piepsig.
«Adrienne?», kam es erstaunt zurück. Das Licht kam näher. Es war tatsächlich Charlie Weasley, der vor uns stand. Das Licht kam von der Spitze seines Zauberstabs. «Und du bist der Junge, dessen Katze wir gefunden haben. Cedric Diggory, richtig?», fragte Charlie.
Cedric nickte stumm. Er schien genauso erleichtert wie ich, auch wenn man ihm deutlich die Schmerzen in seinem Bein ansah.
«Was macht ihr hier? Es ist mitten in der Nacht und ihr treibt euch draussen herum! Im Verbotenen Wald! Was denkt ihr euch eigentlich dabei?», wetterte Charlie. «Jeweils zehn Punkte Abzug für Gryffindor und Hufflepuff!»
«Ähm Charlie?», unterbrach ich seine Standpauke. «Du bist auch gerade im Verbotenen Wald.»
«Ja, stimmt. Aber im Gegensatz zu euch beiden kenne ich mich hier aus und verstehe genug von Zauberei, um mich zu verteidigen», sagte Charlie etwas ruhiger.
«Das heisst, du kannst uns hier rausbringen?», fragte Cedric hoffnungsvoll.
Charlie nickte. Wir nahmen Cedric in die Mitte, Charlie gab die Richtung an. Mit Cedrics verstauchtem Fuss kamen wir nur langsam voran, aber wenigsten wusste Charlie wo es lang ging.
«Wie kommt es eigentlich, dass du dich im Wald auskennst? Du darfst ja auch nicht herkommen», fragte ich.
«Ich helfe öfters Hagrid und Professor Kesselbrand mit den Tieren. Dabei muss man hin und wieder in den Wald. Besonders mit Hagrid war ich schon oft hier drin.»
«Und wieso bist du heute Nacht hier unterwegs?», fragte ich weiter.
«Weil ich versuchen wollte, dieses Monster zu finden, das die Katzen anfällt», sagte Charlie verlegen.
«Wollten wir auch», keuchte Cedric. «Hast du's gefunden?»
Hatte er nicht. Dafür aber uns, was auch gut war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam endlich der Waldrand in Sicht. Inzwischen waren unsere Kleider völlig durchweicht, meine Schuhe waren nass und meine Füsse so kalt, dass ich sie fast nicht mehr spürte. Die kalte Luft verbrannte uns die Lungen. Zu dritt stapften wir durch den Schnee hinauf zum Schloss, das in tiefer Dunkelheit lag. Es musste weit nach Mitternacht sein.
«Wenn ihr nicht wollt, dass einer der Lehrer herausfindet, dass wir im Wald waren, dann gehen wir am besten so schnell wie möglich in unsere Schlafsäle. Das heisst, dass du erst morgen zu Madam Pomfrey gehen kannst, Cedric», sagte Charlie.
Cedric nickte tapfer. «Das geht schon. Ich sag ihr dann, dass ich auf der Treppe umgeknickt bin oder so.»
«Na dann, gute Nacht. Und gute Besserung», sagte Charlie und zog dann leise das Schlossportal einen Spalt breit auf. Wir zwängten uns durch den schmalen Spalt und drückten das schwere Tor wieder zu. Charlie legte den Finger an die Lippen, damit wir auch ja keinen Laut von uns gaben. Dann winkte er Cedric kurz zu und zog mich zu den Treppen. Auf leisen Sohlen schlichen wir uns die Treppen hinauf und durch die Korridore. Es war stockdunkel, nur durch die Fenster fiel milchiges Mondlicht und erhellte kurze Abschnitte unseres Wegs. Ohne behelligt zu werden, gelangten wir zum Portrait der fetten Dame.
«Nikolausstrumpf», nannte Charlie das Passwort und das Gemälde schwang zur Seite.
«Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun?!», fragte eine erregte Stimme hinter uns. Wir fuhren zusammen. Es war Professor McGonagall. «Es ist drei Uhr morgens! Keiner von Ihnen hat um diese Zeit an einem anderen Ort als im Bett zu sein!»
Ein Licht leuchtete am Ende ihres Zauberstabs auf, genau wie bei Charlie vorhin, und sie nahm uns in Augenschein. «Miss Seanorth und Mr Weasley. Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen beiden. Besonders von Ihnen, Mr Weasley. Als Vertrauensschüler haben Sie eine Vorbildsfunktion...» Sie verstummte und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. «Ja, sagen Sie einmal! Waren Sie beide etwa draussen?! Hundert Punkte Abzug, für jeden von Ihnen! Und jetzt Marsch in mein Büro!», fauchte Professor McGonagall und scheuchte uns dann vor sich her.
Charlie und ich sahen uns bestürzt an und gingen vor unserer Lehrerin her zu ihrem Büro. Das war richtig übel. Und es war noch nicht vorbei.
Professor McGonagall stellte sich hinter ihren Schreibtisch und funkelte uns zornig an. «Was in Merlins Namen hat Sie dazu bewogen, sich nachts nach draussen zu begeben!?», fragte sie uns wütend.
Wieder wechselten Charlie und ich einen Blick.
«Nun, ähm, es ist so, Professor McGonagall», begann Charlie, «wir wollten, nun ja, wir wollten ... wir wollten dieses Wesen suchen, das die Katzen angegriffen hat», rückte Charlie schliesslich mit der Wahrheit heraus und starrte zu Boden.
«Sie wollten ein Wesen suchen, das andere Tiere zum Spass tötet? Haben Sie überhaupt kein Hirn im Kopf oder wollen Sie es einfach nicht benutzen? Sie haben nicht nur nachts Ihren Schlafsaal verlassen, nein. Sie gingen auch noch nach draussen, in den Verbotenen Wald und suchten nach einem Monster, das Sie beide ohne zu zögern töten würde. Sind Sie eigentlich vollkommen verrückt geworden? Und Sie Mr Weasley: Hätten Sie nicht einen Ihrer Freunde mitnehmen können? Stattdessen nehmen Sie eine Erstklässlerin mit in den Wald! Nun, Ihnen ist wohl beiden klar, dass das Konsequenzen haben wird. Punkte habe ich Ihnen bereits abgezogen. Sie werden zusätzlich Strafarbeiten bekommen. Ich werde Sie zu gegebener Zeit informieren. Und jetzt ins Bett mit Ihnen!»
Betreten machten Charlie und ich uns auf den Rückweg zum Portrait der Fetten Dame. Vor den Treppen zu den Schlafsälen hielten wir an.
«Danke, dass du nichts von Cedric gesagt hast», sagte ich.
«Ist doch selbstverständlich. Wir Gryffindors verpfeifen niemanden. Gute Nacht, Adrienne.»
«Gute Nacht, Charlie.»
Ich stieg die Wendeltreppe hoch und öffnete die Tür zum Schlafsaal. Alicia und Angelina lagen in ihren Betten und schliefen. Leise schälte ich mich aus meinen durchgefrorenen Kleidern und stellte mich dann, trotz der späten Stunde, unter die Dusche, um wieder warm zu werden. Hundemüde fiel ich eine Viertelstunde später ins Bett.
Wie ich es geschafft hatte, am nächsten Morgen aufzustehen, wusste ich nicht, doch spätestens als ich in der Grossen Halle ankam, um zu frühstücken, bereute ich es, überhaupt aufgestanden zu sein. Alle Gryffindors starrten mich mit finsteren Blicken an, während die Slytherins in Jubel ausbrachen. Auch von den Hufflepuffs und Ravenclaws erntete ich missbilligende Blicke. Ich musste nicht lange überlegen, weshalb alle wütend auf mich waren. Zweihundert Punkte Abzug in einer einzigen Nacht war bestimmt ein Schulrekord. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Es war Charlie, der die Halle in diesem Moment betreten hatte. Die Blicke der anderen ignorierend, schob er mich vorwärts zu einem freien Platz am Gryffindortisch und setzte sich dann neben mich. Die Schüler links und rechts rutschten möglichst weit von uns weg. Als wären wir ansteckend.
Zwei Schüler allerdings kamen begeistert auf uns zu. Fred und George setzten sich Charlie und mir gegenüber. «Was habt ihr gemacht, dass euch zweihundert Punkte Abzug eingebracht hat?», fragten sie neugierig.
Charlie sah seine Brüder mit vernichtendem Blick an und widmete sich dann seinem Frühstück.
«Wir waren im Wald», erzählte ich bereitwillig. «Wir wollten das Monster finden, haben uns dann aber komplett verlaufen. Zum Glück hat Charlie uns gefunden, sonst würden wir wahrscheinlich immer noch dort herumirren.»
«Wer war denn noch dabei?», fragte George.
«Cedric Diggory von den Hufflepuffs.»
«Aber wieso haben die Hufflepuffs dann nicht auch hundert Punkte weniger?», beklagte sich Fred.
«Weil er nicht erwischt wurde», grummelte Charlie.
«Und habt ihr das Monster gefunden?»
«Nein, haben wir nicht», antwortete ich mit einem Seufzen.
An diesem und an den kommenden Tagen versuchte ich, mich aus jeglichem Ärger herauszuhalten. Wohin ich auch ging, warfen mir die anderen Gryffindors böse Blicke zu, während die Slytherins mich angrinsten und dumme Sprüche klopften. Charlie ging es nicht anders, aber er schien besser damit zu Recht zu kommen. Ihn beschimpfte schliesslich auch niemand als Schlammblut. Melanie Cole und ihre Freunde schlossen sich den Slytherins mit grossem Vergnügen an und machten es mir schwer, nicht einfach meinen Zauberstab zu zücken und ihnen einen der wenigen Flüche, die ich kannte, auf den Hals zu hetzen. Wahlweise würde es auch eine Faust auf die Nase tun. Dank viel beruhigendem Zureden von meinen Freunden schaffte ich es zum Glück, niemanden zu verhexen oder auf die Nase zu boxen. Wobei Cole vielleicht gar nicht mal so schlecht aussehen würde mit einer gebrochenen Nase ...
Eine Woche später bekamen Charlie und ich je eine Eule. Im Brief wurden wir über unsere Strafarbeiten informiert. Wir sollten die Pokale im Pokalzimmer polieren, und zwar alle und das ohne Magie. Ganz ehrlich, es hätte schlimmer kommen können. Ich hatte keine Ahnung wie man mit Magie putzte.
Charlie hingegen stöhnte auf: «Alle? Ohne Magie? Das dauert ja ewig. Es sind an die fünfhundert Pokale und Auszeichnungen, wenn nicht noch mehr. Da sind wir Weihnachten noch dran.»
Nun, ganz so lange dauerte es nicht, aber trotzdem verbrachten wir die ganze Woche vom zweiten bis zum dritten Advent jeden Abend bis tief in die Nacht im Pokalzimmer. Wann immer die Pokale, Plaketten, Auszeichnungen und Was-weiss-ich-noch-alles das letzte Mal poliert wurden, es musste schon sehr lange her sein. Nur der Quidditchpokal, den Charlie mir voller Stolz präsentierte, glänzte.
«Das war der beste Moment in meinem Leben», erzählte Charlie leutselig, «als wir vor drei Jahren den Quidditchpokal gewonnen haben. Ich habe damals als Sucher gespielt, weil unser eigentlicher Sucher aufgrund einer Verletzung das ganze Jahr über nicht spielen konnte. Ich finde ja, dass mir die Position des Jägers mehr liegt. Aber es ist wie es ist: Seither hat Slytherin jedes Jahr den Pokal gewonnen. Aber ich denke, dass ich für dieses Jahr ein gutes Team aufstellen konnte. Warst du beim ersten Spiel?»
«Ja, war ich. Aber ehrlich gesagt, so ganz habe ich nicht begriffen, wie Quidditch funktioniert.» Fred, George, Lee, Alicia und Angelina waren zwar allesamt quidditchverrückt, aber so wirklich gut erklären, konnten sie mir das Spiel nicht.
«Na dann, Adrienne, erkläre ich dir jetzt alles nochmals im Detail. Zeit haben wir ja genug», sagte Charlie und begann. An seinen ausschweifenden Ausführungen merkte man, dass Charlie nicht nur als Jäger, sondern auch als Kapitän der Mannschaft von Gryffindor alles gab.
Am Sonntag, dem dritten Advent kam Theo während dem Frühstück mit zwei Briefen an. Mittlerweile hatten sich die meisten Schüler an den Anblick des Mäusebussards gewöhnt, trotzdem sorgte er immer wieder für Aufsehen. Der eine Brief war von Joanne. Etwas schuldbewusst öffnete ich ihn. Ich hatte ihr seit Wochen nicht mehr geschrieben.
Liebe Adrienne
Wir haben uns jetzt schon länger nicht mehr geschrieben. Ich hoffe, dir gefällt es immer noch auf deiner neuen Schule. Wie geht es dir? Versinkst du immer noch in Hausaufgaben und hast kaum Freizeit? Jasmin und Laureen gehen mir tierisch auf die Nerven. Wirklich grosses Pech, dass sie ausgerechnet auf meine Schule gehen mussten. Ich habe mit deiner Ma gesprochen und sie gefragt, ob du Weihnachten nach Hause kommst. Sie wusste es nicht und sagte, sie würde dich in ihrem nächsten Brief fragen. Mich jedenfalls würde es freuen, dich endlich wieder zu sehen. Übrigens kamen deine Ma und ich auch noch auf das Wetter zu sprechen. Stimmt es, dass ihr in Schottland so richtig viel Schnee habt? Wie ist das so? Ich kann mir das gar nicht so richtig vorstellen.
Ganz liebe Grüsse und hoffentlich bis bald
Joanne
Lächelnd legte ich den Brief zur Seite. Ich freute mich auch darauf, Joanne wiederzusehen, auch wenn ich mir bis dahin überlegen musste, was ich ihr erzählen sollte. Ich hatte ihr nicht gesagt, dass ich auf eine Schule für Hexerei und Zauberei ging.
Als nächstes nahm ich Mas Brief zur Hand. Ich schlitzte das Couvert auf und entfaltete das Blatt darin. Wie immer fiel mir als erstes die akkurate Schrift auf; die Buchstaben leicht geneigt und alle schön auf einer Linie, keiner etwas darunter oder darüber.
Liebe Adrienne
Vor ein paar Tagen erhielt ich unverhofft eine Eule von Professor Minerva McGonagall. Es ging darum, dass du nachts draussen im Verbotenen Wald unterwegs warst und versucht hast, ein Monster zu fangen. Wie du auf diese lebensmüde Idee gekommen bist, Adrienne? Es würde mich wirklich interessieren. Ich dachte, du wärest klug genug, ein solches Vorhaben richtig einzuschätzen, aber offenbar habe ich mich hierin getäuscht.
Um zu einem anderen Thema zu kommen: Hast du schon Pläne für die Weihnachtsferien? Du kannst natürlich gerne nach Hause kommen, aber bitte teile mir das früh genug mit, damit ich das mit der Arbeit noch deichseln kann.
Ich wünsche dir einen besinnlichen Advent und hoffe, bald von dir zu hören.
Alles Liebe
Ma
Ein Schnauben entfuhr mir. Alles Liebe, ja sicher. Das war wirklich mal ein erfreulicher Brief. Und es war doch wieder einmal so typisch, dass sie nur ihre Arbeit im Kopf hatte und erst daran dachte, dass ich Weihnachten nach Hause kommen würde, als Joanne sie darauf ansprach. Rabenmutter.
«Was ist los?», fragte Alicia, die mir gegenüber am Gryffindortisch sass.
Wortlos reichte ich ihr den Brief.
«Deine Mutter ist eine sehr charmante Frau», bemerkte Alicia und gab mir den Brief zusammen mit einem mitleidigen Blick zurück. «Ist sie immer so?»
«Falls du fragst, ob sie immer erst an ihre Arbeit und dann an mich denkt: Ja.»
«Du kannst Weihnachten auch hierbleiben. Wenn du möchtest, kann ich meine Eltern fragen, ob es für sie in Ordnung ist, wenn ich auch bleibe», bot Alicia an.
«Lass mich noch etwas darüber nachdenken, Alicia. Meine Freundin hat geschrieben, dass sie sich freuen würde, mich wieder zu sehen. Und ich auch. Ich hab' sie seit Anfang der Sommerferien nicht mehr gesehen und gedacht, dass ich sie erst in einem Jahr wiedersehen würde. Und jetzt kommt sie doch Weihnachten nach Hause. Früher haben wir uns fast jeden Tag getroffen.» Ich vermisste die alten Zeiten, als ich jeden Nachmittag nach der Schule mit Joanne in unserem Baumhaus sass, wo wir unsere Hausaufgaben machten, auf ihrem Kassettenrekorder Musik hörten oder einfach nur quatschten.
Schliesslich entschied ich mich aber, doch in Hogwarts zu bleiben und Alicia und ich trugen uns in der Liste ein, die Professor McGonagall herumreichte. Die Weasley-Zwillinge, Charlie und der vierte Bruder, Percy, würden ebenfalls dableiben, da ihre Eltern ihren ältesten Bruder Bill besuchen würden. Ich schrieb Joanne einen Brief, in dem ich ihr erklärte, weshalb ich Weihnachten nicht nach Hause kam, woraufhin sie mir in ihrer Antwort schrieb, dass sie es genauso unverantwortlich fand wie ich, dass eine Mutter mehr an ihre Arbeit als an ihr eigenes Kind dachte.
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