Kapitel 4 | Riat
Jetzt
Ihre grünen Augen geisterten noch lange, nachdem ich den Blick von ihr abgewendet hatte, durch meinen Kopf, und entflammten meine Wut. Ein Jahr lang hatte ich jede Erinnerung an sie aus meinem Kopf verbannt. Nun kamen all die unterdrückten Emotionen mit einem Schlag zurück. Ohne Pierson Carnegie hätten wir niemals die Stadt verlassen müssen und alles wäre nie so weit gekommen. Ein Blick auf sie genügte, um die ausgebrannten Flammen des Hasses in mir auflodern zu lassen.
Diese hypnotisierenden grünen Augen, die in der Vergangenheit so oft von Tränen benetzt waren. Das dunkle, fast schwarze Haar, durch das ich viel zu gerne die Finger wandern ließ, um ihren Kopf daran in den Nacken zu ziehen. Die vollen, pinken Lippen, die so einfach zum Zittern zu bringen waren. Und alles nur meinetwegen. Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Sie hatte keine Ahnung, was sie getan hatte. Genauso wenig wie meine ehemaligen Freunde. Doch ich hatte selbst nach einem Jahr nicht vergessen, was in der Nacht, die alles änderte, passiert war. Wenn sie damals dachte, dass ich sie hasste, hatte sie keine Ahnung, was nun auf sie zukam.
„Hast du Carsons Schwester mit Pierson gesehen?", mein Kopf schnellte zur Seite, als Crestans getuschelte Worte an meine Ohren drangen. Er hatte den Kopf in meine Richtung geneigt und hielt die Stimme gesenkt, als wollte er verhindern, dass die Umstehenden etwas davon mitbekamen.
„Mhm", ich presste die Lippen zu einer dünnen Linie aufeinander. Das war eine weitere Tatsache, die ich am liebsten verdrängt hätte. Wie war es Pierson gelungen Freunde zu finden, nachdem wir so hart daran gearbeitet hatten ihren Ruf irreparabel zu zerstören? Und dann auch noch ausgerechnet Madden Vaylor. Carsons kleine Schwester, die bereits im letzten Jahr auf dem besten Weg gewesen war, in seine Fußstapfen zu treten.
Wenn sie sich ausgerechnet Pierson als Freundin ausgesucht hatte, konnte das nur eines von zwei Dingen bedeuten. Entweder war sie so weit abgestürzt, dass Pierson die Einzige war, die noch mit ihr befreundet sein wollte, oder Pierson war auf mir unerklärliche Weise an die Spitze geraten. Letzteres rief in mir das Verlangen hervor, ihr erneut die Tränen in die Augen zu treiben und ihr zu zeigen, wo ihr Platz war.
Crestans Blick huschte in Carsons Richtung, der zwar neben uns her ging, uns aber keinerlei Beachtung schenkte. Für mich war das keine Überraschung mehr. Schließlich hatte er auf dem Internat das ganze Jahr über so getan, als würden wir uns nicht kennen. Nur wenn ich ihn provoziert hatte, hatte er sich dazu herabgelassen, mir seine Aufmerksamkeit zu schenken. Gewundert hatte mich das kaum. Schließlich gab es mir die Schuld für unsere Lage. Dass er Crestan und Lasse mit der gleichen Arroganz begegnen würde, hatte ich aber nicht erwartet.
Creighton Thorne war das Einzige, den er noch mit seiner Aufmerksamkeit beehrte. Wenn man bedachte, wie eng die beiden früher schon zusammen gehangen hatten, war das wenig verwunderlich. Dabei war ich mir fast sicher, dass Carson keine Ahnung hatte, dass Creighton seit Ewigkeiten mehr als nur eine leichte Schwärmerei für Madden hatte. Lange hatte nicht einmal ich etwas davon gewusst, doch spätestens als er sich im letzten Jahr wegen seiner Obsession mit ihr vor der halben Schule blamiert hatte, war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Carson hatte davon jedoch bis heute nicht erfahren. Vielleicht sollte ihm das mal jemand stecken? Das klang doch ganz nach einem Job für mich.
Bevor ich den Mund aufmachen konnte, kommandierte uns die Lehrerin, die uns am Parkplatz abgefangen hatte, vorwärts: "Bitte etwas schneller, die Herrschaften. Wenn Sie hier einen guten Neustart haben wollen, schlage ich vor, dass Sie sich beeilen und ihn nicht warten lassen."
Sie klatschte demonstrativ in die Hände, als könnte sie uns damit ernsthaft dazu bewegen ihren Worten Folge zu leisten. Ich musste mir ein Lachen verkneifen. Niemand sagte uns, was wir zu tun hatten, außer uns selbst.
Und wer sprach überhaupt von einem Neustart? Wenn es nach mir ging, machte ich genauso weiter, wie vor einem Jahr. Wieso sollte man ein altbewährtes System ändern, wenn es doch immer so phänomenal funktioniert hatte? Zumal eine andere Rolle als die des Leitwolfes für mich alles andere als akzeptabel war. Früher hatte ich mir diesen Titel mehr oder weniger freiwillig mit Carson geteilt. Schließlich waren wir fünf damals eine Einheit gewesen und ich war froh gewesen manche Aufgaben an ihn abzutreten.
Langsam beschlich mich aber das Gefühl, das es nicht mehr so sein würde. Vielleicht versuchte er noch nicht bewusst mich zu sabotieren, doch mich beschlich das Gefühl, dass er mir nicht mehr den Rücken freihalten würde. Dabei war es nicht einmal verwerflich, was im letzten Jahr passiert war. Wir hatten geschworen, dass wir im Ernstfall zusammen untergehen würden, wenn es jemals so weit kommen sollte. Woher sollte ich wissen, dass er plötzlich nicht mehr bereit war mit uns unterzugehen, wenn der Fall tatsächlich eintrat? Klar, ich hätte ihn da nicht mit reinziehen müssen. Dann hätte ich allerdings zugeben müssen, wieso das Feuer ausgebrochen war, und das wollte ich damals genauso vermeiden wie heute.
„Das Herumkommandieren ist irgendwie geil", flüsterte Crestan mir unter vorgehaltener Hand zu. Zwischen seinen Finger erkannte ich, wie sich seine Lippen zu einem amüsierten Grinsen kräuselten, während seine Augen dem Saum des Rockes der Lehrerin, deren Name mich zu interessierte, um ihn mir zu merken, folgten.
„Meinst du, die würde mich ranlassen?", in seinen Augen glitzerte der Schalk, der uns mehr als einmal ins Unglück zu stürzen gedroht hatte.
„Hat dir der Ausflug gestern nicht gereicht?", entgegnete ich kopfschüttelnd, während ich den Blick schnell über ihn huschen ließ, ohne dass er Gelegenheit hatte es zu merken. Nach seiner Nachricht hatte ich mich mit ihm auf einem alten Rastplatz außerhalb der Stadt getroffen, wo hin und wieder von Schülern aus der Nachbarstadt Partys veranstaltet wurden. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass er sich dort ausreichend ausgetobt hatte. Offensichtlich lag ich damit falsch.
Zwar hatte Crestan schon immer einen Hang zum Exzessiven gehabt. Dabei war er früher jedoch eher was Alkohol und Drogen anging über die Stränge geschlagen. Nachdem sein Vater ihn auf Carsons Gepetze im letzten Jahr hin allerdings für ein Jahr in einen Entzug gesteckt hatte, war ich davon ausgegangen, dass sich das erledigt hatte. Stattdessen schien er nun aber in Sachen Frauen loszulegen. Würde ich behaupten, mir keine Sorgen zu machen, würde ich lügen. Möglicherweise war das aber auch nur sein Versuch, sich in dieser Stadt wieder wie er selbst zu fühlen. Wenn das einer verstand, dann ich.
„Vergiss er", erwiderte ich letztendlich: "Bleib lieber erstmal in deiner eigenen Altersgruppe."
Dafür erntete ich mir ein Schmollen seinerseits, worauf ich jedoch wenig gab. Natürlich wollte ich Schlagzeilen machen, doch nicht mit sowas. Mein Fokus lag darauf den Mann, der für unser Exil verantwortlich war, büßen zu lassen und dafür waren unüberlegte Einzelgänge leider völlig nutzlos. Wir brauchten unsere alte Stellung und eine Möglichkeit Bürgermeister King unbeobachtet näherzukommen und da fiel mir nur eine Sache ein, die beide Fliegen mit einer Klappe schlug. Astervile Falls brauchte eine weitere Fire Night.
Dafür musste ich jedoch erst einmal den Besuch beim Direktor überstehen, eine Chance bekommen, mit den Anderen ungestört zu sprechen und verdammt nochmal herausfinden, welche Rolle Pierson hier plötzlich spielte. Denn eins war mir jetzt schon klar. Ich brauchte diese Mindgames mit ihr. Und was eignete sich dafür besser als diese eine Nacht im August, in der wir tun konnten, was wir wollten? Allein der Gedanke ließ meine Fingerspitzen kribbeln.
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Meine Stimmung verdunkelte sich immer mehr, je länger sich dieser gottverdammte Tag hinzog. Direktor Larkham lief pausenlos vor uns auf und ab, völlig gefangen in seiner Schimpftirade. Offensichtlich hatte sich da viel aufgestaut, seit wir seine Schule bei der letzten Fire Night fast bis auf den letzten Stein heruntergebrannt hätten. Ich würde ja sagen, dass es mir für ihn leid tat, aber ich blieb lieber mal bei der Wahrheit.
Gelangweilt trommelte ich mit den Fingern der rechten Hand auf der Lehne meines viel zu tiefen Stuhles herum, streckte meine langen Beine locker aus und sah dabei zu, wie sein Kopf mit jedem Wort röter anlief. Ob das gesund war? Die Ader, die an seiner Stirn hervortrat, ließ nicht darauf schließen. Wie wäre es mit einer frühzeitigen Rente? Ob er mich wohl gleich wieder verweisen würde, wenn ich ihm das vorschlug? So verlockend die Antwort auf diese Frage auch war, erinnerte ich mich daran, was ich Crestan noch vor einer Stunde gesagt hatte. Reiß dich zusammen!
So gerne ich meiner Familie mit einem Verweis auch den Mittelfinger gezeigt hätte, stand zu viel auf dem Spiel. Schließlich bedeutete ein Rausschmiss auch, dass Pierson sicher vor mir wäre und das konnte ich nicht riskieren. Nirgendwo war es so einfach wie hier, sie in die Finger zu bekommen. Zumindest war es früher so gewesen. Ob es mir nach wie vor gelang meine Mitschüler auf meine Seite zu ziehen, würde sich zeigen.
Mit einem langen Seufzer ließ ich den Kopf in den Nacken sinken und ließ den Blick über meine ehemaligen besten Freunde wandern. Creighton und Carson hatten sich links von mir positioniert, während Crestan und ich rechts saßen. Wie immer machte Lasse die Mitte aus. Neutral wie immer. Es war zum Kotzen. Wenn er wollte, könnte er uns dazu zwingen uns zusammen zu raufen. Doch so wie ich den Bastard kannte, wollte ich erstmal sehen, ob wir es auch so schafften. Ich würde meinen ganzen Treuhandfonds darauf verwetten, dass sich Carson aktuell lieber ein Bein ausreißen würde, als sich wieder mit mir zusammenzutun.
So wie er sich demonstrativ von uns weg lehnte und stattdessen immer wieder wortlos Blicke in Creightons Richtung warf, war unübersehbar, was er von uns hielt. Creighton sah ihm dabei zwar zu, ließ sich aber nur hin und wieder zu einer kaum hörbaren Antwort hinreißen. Allerdings wunderte mich das kaum. Der Schwarzhaarige war nie ein Typ großer Worte gewesen. Nicht zuletzt deshalb konnten die wenigsten ihn einschätzen und der größte Teil unserer Mitschüler hielt einen ehrfürchtigen Abstand zu ihm, als könnten sie nicht ganz abschätzen, ob in dem stillen Jungen nicht doch ein Psycho lauerte. Früher hätte ich einen solchen Vorwurf lachend zurückgewiesen. Wenn ich ihn nun ansah, war ich mir damit jedoch nicht mehr so sicher. In den wenigen Momenten, in denen seine metallgrauen Augen meine gestreift hatten, hatte ich darin etwas entdeckt, was mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. So sehr ich ihn auch fragen wollte, was im Laufe des vergangenen Jahres mit ihm passiert war, bezweifelte ich, dass ich eine Antwort erhalten würde.
Das Krachen von Direktor Larkhams Faust gegen das dunkle Holz seiner Schreibtischplatte riss mich aus meinen Gedanken. Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte ich den Kopf in seine Richtung und stellte fest, dass sein Blick auf mir haftete.
„Haben wir uns verstanden, Mister Malvaine?", fragte er, als hätte ich irgendeinem seiner Worte zugehört. Zu blöd, dass ich das nicht getan hatte. Das Zucken seiner Mundwinkel verriet mir, dass er das ebenfalls wusste. Doch ich weigerte mich, mich davon aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Natürlich, Mister Larkham", antwortete ich deshalb nonchalant und schenkte ihm ein braves Lächeln: "Sie können von meiner Seite nur mit den besten Manieren rechnen."
Zu meiner Linken erklang ein kollektives, verächtliches Schnauben und ich presste die Kiefer aufeinander, während ich die drei Männer aus dem Augenwinkel beobachtete. Arschlöcher! Als wäre ich das einzige schwarze Schaf unter uns. Unsere kleine Gruppe hatte sich schließlich erst geformt, weil wir alle gleichermaßen verdorben waren. Gleich und gleich zogen einander eben an. Das würde keiner von uns ernsthaft leugnen können.
„In Ordnung", gab sich der Direktor mit einem resignierten Seufzen geschlagen. Offensichtlich hatte er immer noch keine Befugnisse gegen uns, wenn wir nicht ausgerechnet direkt vor seiner Nase die Welt niederbrannten. Diese Information speicherte ich in Gedanken für später ab, während ich mir ein Grinsen verkniff.
„Dann entlasse ich Sie nun in Ihren Unterricht", er nahm einen Stapel Papiere vom Schreibtisch, die er der Reihe nach an jeden von uns verteilte. Dann ließ er sich in seinen Stuhl sinken, als wäre mit einem Mal alles Leben aus ihm heraus gewichen.
„Halten Sie sich nicht an die Regeln, sind sie schneller wieder aus dieser Stadt verschwunden, als sie denken. Vergessen Sie das nicht."
Seine Worte ausblendend mustere ich den herumgereichten Stundenplan für einen Moment, erhob ich mich dann von meinem Platz und war im nächsten Moment aus dem Büro verschwunden. Crestan folgte dich hinter mir und legte mir brüderlich einen Arm um die Schulter, als wir auf den Flur hinaus traten.
„Also, was ich dein Plan?", sein wissender Blick verriet mir, dass er sich bereits denken konnte, was ich wollte. Ob er dabei war, musste ich gar nicht erst fragen.
„Wir holen uns zurück, was rechtmäßig uns gehört", die kryptischen Worte ließen ein schelmisches Grinsen über meine Lippen huschen: "Und ich würde sagen, wir fangen damit an, in dem wir denen, die ihren Platz vergessen haben, zeigen, wohin sie gehören."
„Mir gefällt, wie du denkst", das Lächeln auf Crestans Gesicht spiegelte meines: "Und ich glaube, wir wissen beide, mit wem du anfangen willst."
Oh ja, das wussten wir tatsächlich. Meine Worte ließ mein Herz beinahe schmerzhaft schnell gegen meinen Brustkorb schlagen, während eine Adrenalinwelle über mich hinwegrauschte.
Das Spiel hat begonnen. Mach dich bereit für Runde Nummer Eins, Pierson.
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