Kapitel 3 | Pierson
Ein Jahr zuvor
In den zwei Jahren, die ich erst an dieser Schule überstanden hatte, hatte ich begonnen, das Bimmeln der Schulklingel zu verabscheuen. Den Blick fest auf die Uhr über der Tür fixiert, wackelte ich unaufhörlich mit dem Bein auf und ab, als hätte ich verlernt still zu sitzen. Mit jedem Zentimeter, den der Zeiger weiter voran tickte, wurde das Warten unerträglicher.
Denn obwohl ich am liebsten für immer hier sitzen geblieben wäre, wo sich niemand traute seine hässliche Persönlichkeit vor den Lehrern herauszulassen, wusste ich, dass diese Sicherheit früher oder später enden würde. Das tat sie immer. Dass es keine Orte gab, an denen ich mich einfach sicher fühlen konnte, hatte ich schmerzlich lernen müssen. Irgendwann waren auch meine naiven Vorstellungen davon, wie das Leben sein sollte, zerbrochen und der Realität gewichen.
Menschen waren Monster, wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Jeder hungerte auf seine Weise nach der Dunkelheit, als bräuchte er sie wie Luft zum Atmen. Dieses Adrenalin, das uns durchschoss, wenn wir den Sprung in das Ungewisse wagten und uns einfach von unseren tiefsten Instinkten leiten ließen. Es gab ein französisches Sprichwort dafür. L'appel du vide. Der Ruf der Leere. Wir alle spürten ihn. Der einzige Unterschied war, dass Manche das Monster, das danach gierte, verbargen, während andere darin aufgingen es herauszulassen.
Und dann gab es noch die Psychopathen, die ich für Mythen gehalten hatte, bis ich ihnen tatsächlich begegnet war. Meine Mitschüler feierten sie als Kingmaker als wären sie irgendwelche Götter. Doch ich hatte von Anfang an das Pech gehabt, ihre wahren Gesichter zu sehen. Seit ich hier war, hatten sie dafür gesorgt, dass mein Leben an dieser Schule die reinste Hölle war.
Vom ersten Moment an, als sich unsere Blicke trafen, hatte Riat Malvaine mich gehasst. Endgültig und abgrundtief. Ohne jegliche Verhandlungsmöglichkeit. Ich sah es in seinen Augen, als sich unsere Blicke gekreuzt hatten und damit konnte ich nicht die Einzige gewesen sein. Denn am Ende meines ersten Schultages hatten sich die Neuigkeiten so weit verbreitet, dass sich sein Hass in den Augen aller spiegelte. Mit einem einzigen Blick hatte Riat mich zu einer Außenseiterin gemacht und seine hochverehrten Freunde hatten nichts getan, um ihn aufzuhalten. Psychopathen gaben sich immerhin nur mit anderen Psychopathen ab.
Als die Klingel endlich ertönte, griff ich blitzschnell nach meiner Tasche und sprang regelrecht von meinem Platz auf. Bevor sich meine Mitschüler überhaupt ans Zusammenpacken machen konnten, war ich bereits aus dem Raum geflüchtet. Wenn ich Glück hatte, war ich die Erste, die aus dem Unterricht kam, und konnte die Pause in erleichternder Einsamkeit verbringen.
Zwar konnte ich die Zahl der Plätze, an denen man alleine sein konnte, an einer Hand abzählen, doch ich war froh über jeden Einzigen. Nachdem ein paar Footballspieler gemerkt hatten, dass ich mich in den ersten Wochen in meinem Auto versteckt hatte, war das Versteck unbrauchbar geworden. Nun konnte ich nach dem Unterricht nicht einmal mehr ungestört dorthin gehen. Irgendein Minion lauerte dort nahezu immer.
Deshalb wählte ich nicht den Weg in Richtung des Parkplatzes, sondern bog in den Gang ab, der zum Sportplatz führte. Obwohl dort das Gebiet der Footballspieler lag, hatte mich dort bisher keiner von ihnen entdeckt. Wenn es nach mir ging, konnte es auch so bleiben.
Mit schwitzigen Fingern fuhr ich an den Trägern meines Rucksacks auf und ab, während ich, im Tunnelblick gefangen, die Gänge hinabeilte. So merkte ich erst, dass die Türen der anderen Klassenzimmer mittlerweile weit offen standen, als eine verspottende Stimme durch den Nebel zu mir hindurchdrang: "Na, wer läuft denn da vor uns weg, Lasse?"
Im nächsten Moment knallte ich geradewegs in die harte Brust des Jungen, der mit seinen Worten die Aufmerksamkeit aller Umstehenden auf mich gerichtet hatte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten um meine Träger und ich machte instinktiv einige Schritte rückwärts, um Abstand zwischen mich und ihn zu bringen. Ich musste gar nicht zu ihm aufsehen, um zu wissen, dass diese Stimme zu Crestan Volkov gehörte. Trotzdem zwang ich mich dazu.
Die vorderen Strähnen seines pechschwarzen Haares fielen Crestan in die Stirn. Seine harten Gesichtszüge waren so wohlgeformt, dass ich mich jedes Mal aufs Neue fragte, ob sie nicht doch von einem Bildhauer bis zur Perfektion gemeißelt worden waren. Seine vollen Lippen verzogen sich um eine Zigarette zu einem frechen Grinsen, als sich unsere Blicke trafen. In einer verhöhnenden Geste legte er den Kopf schief und schien meinen Rückzugsversuch als Einladung zu nehmen, mir näherzukommen: "Haben dir Mommy und Daddy nicht beigebracht, dass du nicht einfach abhauen kannst, wenn jemand mit dir spricht?"
In seinen Augen tanzte Belustigung, als er mich mit Daumen und Zeigefinger am Kinn packte und zwang ihn anzusehen: "Gut, dass wir hier sind, um dir ein paar Manieren beizubringen, nicht wahr?"
Ich schluckte schwer und warf einen Hilfe suchenden Blick in Lasse Melanos Richtung, der hinter Crestans Schulter aufragte. Doch der zweite Kingmaker blickte lediglich desinteressiert auf etwas hinab, was ich nicht sehen konnte, weil sein Freund meine Sicht blockierte. Ich tippte jedoch auf sein Smartphone. Schließlich klebte sein Blick bei den Gelegenheiten, in denen ich es wagte, ihn aus der Ferne zu beobachten, immer an irgendeinem Bildschirm. Als wäre er gar nicht richtig hier. Vermutlich bekam er nichts von dem mit, was Crestan abzog.
„Lass den Scheiß", presste ich hervor und versuchte mein Kinn aus seinem Griff zu befreien, woraufhin er die Finger nur fester zusammendrückte. Mein Herz raste in meiner Brust, als Schmerz durch meinen Kiefer zuckte. Mit aller Kraft blinzelte ich gegen die Tränen an, die mir in die Augen treten wollten.
Wage es nicht zu weinen!, warnte ich mich selbst harsch. Diese Genugtuung konnte ich diesem Bastard einfach nicht geben. Nicht, wenn um uns herum alle anderen Schüler stehen geblieben waren und genau so einer Show entgegenfieberten. Ich wagte es nicht zur Seite zu blicken, doch ich war mir sicher, dass mindestens ein Handy gezückt war, um meine Peinigung für alle Ewigkeit festzuhalten.
„Wenn du dir das so sehr wünscht, wer wäre ich dann, wenn ich dir diesen Wunsch verwehren würde?", das Lachen in seiner Stimme jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Absichtlich langsam löste er seinen Griff von mir und machte eine Show daraus auf Abstand zu mir zu gehen. Träge zog er die halb heruntergebrannte Zigarette zwischen seinen Lippen hervor und schnippte den glimmenden Stummel in meine Richtung: "Zu blöd, dass ich nicht für ihn sprechen kann."
Ich musste Riat nicht sehen, um ihn zu spüren. Ein heißes Prickeln breitete sich wie Nadelstiche auf meinem Körper aus und ließ mich erschauern, als er im Gang auftauchte. Crestans Blick fiel über meine Schulter direkt auf ihn und das Blut gefror mir in den Adern. Er konnte nicht mehr als ein paar Schritte von mir entfernt sein und jede Faser meines Körpers schrie mir zu reiß auszunehmen, bevor er mich in seine Fänge bekam. Aus seinen würde ich mich nicht so einfach befreien können wie aus Crestans. Denn eine Sache unterschied die beiden deutlich. Riat war erst fertig, wenn ich in seinen Fingern zerbrach.
Bevor ich mich aus meiner Schockstarre lösen und die Flucht ergreifen konnte, wurde ich von hinten gepackt und spürte im nächsten Moment die Metallspinde in meinem Rücken. Der harte Aufprall presste mir die Luft aus den Lungen und ließ mich panisch um Atem ringen. Instinktiv stützte ich mich mit den Händen gegen die Schließfachtüren und versuchte mich abzustemmen, doch der Stärke meines Angreifers hatte ich nichts entgegenzusetzen.
Als Riat die Stimme erhob, war der pochende Schmerz in meinem Hinterkopf jedoch fast vergessen: "Hast du immer noch nicht gelernt, dass du vor mir nicht weglaufen kannst? Wenn du es in den letzten Tagen geschafft hast dich zu verstehen, dann nur, weil ich es zugelassen habe."
Er presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, als müsste er sich zusammenreißen, die Stimme nicht zu erheben. Stattdessen beugte er sich weiter zu mir vor.
Sein heißer Atem streifte die zarte Haut meines Halses, als er mir zu flüsterte: "Du bist so lächerlich schwach. Nicht einmal in meine Augen kannst du sehen, ohne in Tränen auszubrechen."
Feste presste ich meine Lippen aufeinander, um die Emotionen zurückzuhalten, die über mein Gesicht zu huschen drohten. Wir wussten beide, dass er recht hatte. Ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. Jedes Mal, wenn ich versuchte seinen kalten, blauen Augen zu begegnen, vernichtete er mich mit messerscharfen Blicken. Sie schnitten durch meine Seele, bis sie zerstört vor seinen Füßen lag. Jeden Kampfgeist, den ich zu besitzen glaubte, ließ Riat innerhalb weniger Sekunden zu Nichts zerfallen.
Doch ich würde nicht vor ihm weinen. Nicht heute. Nicht, wenn es genau das war, was er wollte. Doch jedes seiner Worte drohte mein Vorhaben immer weiter ins Verderben zu stürzen und mich gleich mit. Wie konnte ein Mensch so grausam sein?
Mit einer starken, tätowierten Hand fuhr er in meine dunklen Locken und band die Strähnen um seine Hand, als hätte er alle Zeit der Welt. Für einen ahnungslosen Außenstehenden hätte die Geste vielleicht liebevoll ausgesehen, doch ich wusste es besser. Ich bezweifelte sogar, dass Riat wusste, was das Wort bedeutete.
Mit albernen Bewegungen versuchte ich mein Haar aus seinem Griff zu ziehen, ohne mich dabei selbst zu verletzen. Das ließ Riats Geduldsfaden endgültig reißen. Ruckartig zog er meinen Kopf an meinen Haaren in den Nacken und entlockte mir damit ein Zischen. Verdammte Scheiße.
„Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche", presste er zwischen verspannten Kiefern hervor, während sich sein Gesicht vor meines schob. Nun war er mir so nah, dass ich schwören konnte, seine Nase würde meine berühren, wenn ich den Kopf nur ein Stück zur Seite wandte.
Vielleicht machte mich das wahnsinnig dumm, doch alles in meinem Inneren sträubte sich dagegen, seiner Forderung nachzukommen. Stattdessen richtete ich meine Augen demonstrativ auf die Decke über unseren Köpfen.
„Denkst du, dass du hübsch bist, Pierson?", seine Frage brachte mich so aus dem Konzept, dass mein Blick zu ihm schnellte. Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, als wäre ich ein Rätsel, das er zu lösen versuchte.
„Was?", ich hasse mich dafür wie schwach meine Stimme klang.
„Denkst du, dass du so hübsch bist, dass irgendwann dein persönlicher Ritter auf seinem weißen Pferd herbei geritten kommt und dich vor mir rettet?", als er die Frage dieses Mal stellte, triefte seine Stimme vor Spott: "Zu blöd, dass daraus nichts wird. Niemand wird kommen und dich vor mir retten."
Etwas Kaltes streifte meine Kehle und im nächsten Moment hörte ich ein Schnippen, das ich nicht zuordnen konnte. Erst als dunkle Strähnen über meine Schultern auf den Boden rieselten, wurde mir klar, was Riat getan hatte. Ich schnappte erschrocken nach Luft und erwachte im nächsten Moment aus meiner Starre. Obwohl mir klar war, dass es nichts brachte, sammelte ich all meine Kraft und versuchte ihn von mir zu drücken. Doch sein steinharter Körper bewegte sich keinen Zentimeter.
„Was ist denn hier los?", eine strenge Stimme hallte durch den Gang und scheuchte alle Umstehenden auf. Als hätte er sich an mir verbrannt, ließ mich Riat los und ging zu seinen Freunden herüber, als hätte er auch nie nur ein Wort mit mir gewechselt. Im nächsten Moment teilte sich die Menge und Mister Porter, der einzige Geografielehrer der Schule, blieb mitten im Gang stehen. Sein Blick huschte über Riat, Crestan und Lasse, die sich wie die anderen Schüler zum Gehen wendeten. Dann blieb er an mir heften.
„Miss Carnegie", ein besorgter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit, als er auf mich zukam: "Geht es Ihnen gut? Sie sind ganz blass. Was ging hier vor sich?"
Mit einer Handbewegung scheuchte er die letzten herumlungernden Schüler weg, als befürchtete er, dass ich so niemals mit der Sprache herausrücken würde. Dass das nicht helfen würde, konnte er nicht ahnen. Es war nicht so, als hätte ich noch nie versucht mit jemandem darüber zu sprechen, was hier passierte. Schnell hatte man mir klargemacht, dass die Kingmaker aufgrund ihres Standes als reiche Erbe wichtiger waren, als mein Wohlergehen, und dass man eher mich dafür verweisen, dass ich mich beschwerte.
„Schon in Ordnung", war deshalb das Einzige, was ich hervorbrachte, als ich mich von den Spinden abstieß und mich wieder zu meiner vollen Größe aufrichtete: "Ich bin nur gestresst wegen eines Tests in der nächsten Stunde."
Ich richtete meinen Rucksack und strich meine Kleidung glatt, um mich nicht noch weiter zum Affen zu machen, und schenkte Mister Porter ein Lächeln. Wenigstens gab es Lehrer, denen nicht egal war, was passierte. Selbst wenn ich mit ihm nicht darüber sprechen konnte.
Mit einem kurzen Nicken in seine Richtung ging ich an ihm vorbei in die entgegengesetzte Richtung der Kingmaker und zwang mich für einige Meter zu einem gemäßigten Tempo. Kaum war ich um die Ecke gebogen, begann ich zu rennen.
Gerade als ich die Tür zur Mädchentoilette erreichte und aufstieß, spürte ich wie die erste, einsame Träne meine Wange hinunterrollte. Ich sog scharf die Luft ein, um Weitere vom Fallen abzuhalten, doch es war vergeblich. Als ich das Waschbecken erreichte und mich darauf stütze, fiel eine nach der anderen auf meine Finger hinab und ich ließ sie einfach laufen bis ich mich einem tiefen Schluchzen hingab.
Glücklicherweise war gerade niemand außer mir hier, der Zeuge meines Zusammenbruches hätte werden können. So sehr ich mir auch geschworen hatte, dass ich nicht weinen würde, konnte ich es nun nicht mehr zurückhalten. Unkontrolliert floss eine Träne nach der Nächsten, als wäre ein Damm in mir gebrochen, und ich ließ es einfach passieren. Meine Schultern bebten und ich klammerte mich so fest an das Waschbecken, dass ich selbst durch meine verschwommene Sicht sah, wie sie weiß hervortraten.
Die Tränen verschleierten meine die Sicht, als ich den Blick in den dreckigen Spiegel vor mir warf. Riats Griff in mein dunkles Haar hatte es so durcheinander gebracht, dass ich mit meinem verheulten Gesicht ein wahrhaft armseliges Bild abgab. Mit den Händen fuhr ich durch die Strähnen auf der Suche nach der Stelle, an der er mit der Schere angesetzt hatte. In dem Moment war ich so geschockt gewesen, dass ich es kaum registriert hatte, doch mehr als eine Strähne konnte er nicht erwischt haben. Vermutlich war das auch seine Absicht gewesen. Als ich mir das Ganze jetzt ansah, fand ich die Strähne, allerdings nicht einmal wieder. War das seine Art mich zu warnen, dass er mich verletzen konnte, wenn er wollte?
Erst das Klingeln meines Handys brachte mich dazu die Mitleidsparty, die ich mir selbst schmiss, zu unterbrechen. Mit zitternden Händen zog ich es hervor und musste mehrfach blinzeln, um einen klaren Blick auf den Bildschirm zu bekommen. Als ich dort den Namen meiner Schwester las, rutschte mir das Herz in die Hose.
„Fuck", fluchte ich laut und eilte zu dem Spender mit den Papiertüchern herüber, der heute wenigstens gefüllt war.
Eilig zog ich ein Papier nach dem anderen hervor, um damit die Tränen wegzuwischen und mir die Nase zu putzen. Meine Schwester musste nicht erfahren, was hier abging. Für sie war ich die Starke. Der Fels in der Brandung. Und ich war nicht bereit, sie die Wahrheit sehen zu lassen.
Ihr Anruf erinnerte mich schmerzlich daran, dass Riat nicht das einzige Problem in meinem Leben war. Dass es Dinge gab, die schlimmer waren als seine Mindfucks. Auch wenn es mir manchmal nicht so vorkam.
Mit einem tiefen Atemzug nahm ich das Telefonat an und hob das Smartphone an mein Ohr.
„Hey, Nari", ich bemühte mich darum, unbeschwert zu klingen: "Was gibt's? Hast du keine Schule?"
„Hey, Pierce. Doch, schon", ihrer Stimme fehlte der Sonnenschein, den ich gewohnt war, und mir rutschte das Herz in die Hose. Obwohl ich sie nicht sah, konnte ich mir denken wie sie die Schultern hochzog und mit ihrem Armband spielte: "Es ist nur ... na ja ..."
Sofort wirkte all der Ärger, den ich noch vor wenigen Minuten mit Riat gehabt hatte, Lichtjahre entfernt. Alles woran ich denken konnte, war meine kleine Schwester. Wenn sie so herumdruckste, war das kein gutes Zeichen.
„Nari?", hakte ich sanft nach, als nichts mehr von ihr kam: "Was ist los? Rede mit mir."
„Weißt du noch als ich heute Morgen meinte, du müsstest mich nicht abholen?", am anderen Ende der Leitung stieß Nari resigniert die Luft aus: "Kannst du mich doch holen kommen?"
Meine Erinnerungen glitten zurück zu dem Gespräch, das wir heute auf dem Weg zur Schule im Auto geführt hatten. Den ganzen Morgen hatte sie ein Lächeln auf den Lippen getragen, als hätte jemand die Sonne vom Himmel gestohlen und sie stattdessen in ihren Augen zum Strahlen gebracht. Da hatte mich bereits der Verdacht beschlichen, dass meine Eltern ihr vermutlich versprochen hatten sie abzuholen. Dass sie nun anrief, konnte nur eines heißen. Sie war versetzt worden. Mal wieder. Die Frage war nur von welchem unserer nichtsnutzigen Elternteile.
„Sollte Mom dich eigentlich abholen?", hakte ich nach, auch wenn ich es hasste in der Wunde herumzustochern. Einige Sekunden lang herrschte Stille. Dann klang ein leises „Mhm" vom anderen Ende der Leistung an meine Ohren.
„Sie geht aber nicht ran", schob sie leise murmelnd hinterher: "Ich habe es wirklich versucht, Pierce. Sonst hätte ich dich nicht angerufen. Wirklich. Ich habe es auch bei Dad versucht, aber er klang ... nicht ... okay."
Ein dicker Kloß formte sich in meiner Kehle, den ich nicht herunterschlucken konnte. Das konnte nur eins heißen. Mom hatte offensichtlich mal wieder verdrängt, dass sie Kinder hatte, die eine Mutter brauchten. Und Dad? Bei dem Gedanken daran, in welchem Zustand ich ihn vorfinden könnte, wenn wir nach Hause kamen, stellten sich mir die Nackenhaare auf.
„Mach dir keine Gedanken deshalb. Du kannst mich immer anrufen. Das weißt du doch. Schreib mir wann ich dich abholen soll und ich bin da, okay?", es kostete mich all meine Kraft die Wut aus meiner Stimme herauszuhalten.
„Okay", kam es nun etwas sicherer vom anderen Ende der Leitung: "Danke, Pierce. Ich liebe dich."
„Ich liebe dich auch. Bis später", erwiderte ich.
„Bis später", mit diesen Worten beendete sie das Telefonat.
Als mich die Stille erneut einfing, war es weniger die Angst vor Riat, die meinen Geist dominierte, als mehr die Furcht davor welche Version meines Vaters ich vorfinden würde, wenn ich nach Hause kam.
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