09 - september
September 2016
London || Seitdem die Jungs mehr oder weniger einstimmig beschlossen hatten, ihre Auszeit als Band noch weiter auszudehnen, ist viel passiert und doch lebt Niall stumpf und unverändert vor sich hin.
Während alle anderen in die unterschiedlichsten Richtungen strömen, bleibt er regungslos zurück. Er hatte diesen dunklen, blinden Passagier schon immer an Bord gehabt, doch jetzt überlässt er ihm kampflos das Steuer.
Niall hatte erwartet, dass ihm die Nachricht einer noch längeren Auszeit endgültig zu Boden drücken und er vielleicht sogar verzweifelt weinen würde, aber es ist viel schlimmer als das. Inzwischen hat ihn eine solche Leere erfasst, dass er zu keiner Emotion mehr in der Lage ist. Lustlos und müde vegetiert er vor sich hin, bis er dann, in manchen Stunden, von einer Welle Traurigkeit und Panik überrollt wird. In diesen Momenten greift er zum Stift und schreibt sich seine Gedanken von der Seele, in der Hoffnung, dadurch der Stimme in seinem Kopf entfliehen zu können.
Ich habe Angst. Ich habe Angst, dass ich mir alles kaputt gemacht habe, habe Angst, dass ich es mir wirklich verbaut habe, dass mir etwas fehlt. Der Teil, der leben will.
Ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffe, ich weiß nicht, wie oft ich es noch aushalte, machtlos zu sein, hilflos zu sein. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate werde ich mich immer wieder fesseln lassen von meinen eigenen kranken Gedanken?
Was, wenn es nie aufhört? Nie.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch weiter machen kann, mit meinen Worte - Lügen, die mich leider nicht entstellen, sondern verschönern, weil ich attraktiver werde für meine Umwelt, umgänglicher, einfacher, offener, lustiger. Kränker.
Ein Leben lang dagegen ankämpfen? Ich weiß weder, wie das funktionieren sollte, noch, ob ich das überhaupt möchte.
Ein Leben kann verdammt lang sein, das wird Niall immer wieder aufs Neue bewusst.
Heute ganz besonders, denn heute ist sein 23. Geburtstag.
23 Jahre und doch fühlt er sich so ausgezehrt und befreit von jeglicher Lebenslust, dass er schwören könnte, drei Leben gleichzeitig gelebt zu haben.
Er sollte in der Blüte seines Lebens sein, aber innerlich ist er längst verwelkt. Zu sehen, wie sich die Leben seiner Bandkollegen entwickeln und Fahrt aufnehmen, dass sie inzwischen sogar keine Zeit für die Band finden können, zeigt Niall einmal mehr, wie sehr er auf der Strecke geblieben ist.
Etwas hält ihn zurück und schnürt ihm förmlich die Kehle zu.
Seine Geburtstage hatte Niall bisher stets gefeiert, wenn auch nie aus eigenem Antrieb. In den letzten Jahren war es meist das Team, das für den Iren eine Überraschung geplant oder zumindest einen Kuchen organisiert hatte. Meistens war er zu dieser Zeit unterwegs und umgeben von zahllosen Menschen.
Heute, an seinem 23. Geburtstag, ist Niall Horan alleine, aber das Telefon klingelt unaufhörlich.
Vor einigen Monaten noch wäre er froh um diese Ablenkung gewesen und hätte versucht, durch belanglose Gespräche von sich selbst abzulenken.
Heute ist ihm klar, dass ihn nichts ablenken kann von dem, was er ist.
Er zieht die knappen Textnachrichten den Anrufen bei Weitem vor. Es ist viel zu anstrengend, jedem den gut gelaunten Niall vorzuspielen. Inzwischen tippt er weitaus euphorischer, als er zu sprechen in der Lage ist.
Seine Eltern haben angerufen.
Maura hat ihr Möglichstes getan, um Niall zu verkaufen, Greg habe ihm durch sie ebenfalls gratulieren wollen. Er hat ihr kein Wort geglaubt, ist um des Friedens Willen aber nicht weiter darauf eingegangen.
»Ich will dich gar nicht lange aufhalten, du hast bestimmt einiges zu tun«, hatte seine Mutter überzeugt gesagt und bewiesen, wie wenig sie ihren Sohn inzwischen kennt.
Tatsächlich aber steht sie so zwischen dem Streit ihrer Söhne und wird eingenommen von der Sorge um Greg, dass sie Nialls wahres Gesicht nicht sehen kann.
Ein Wort von ihm hätte genügt und sie hätte postwendend in London gestanden, aber Niall trägt seine Maske so konsequent, dass sich niemand wundert, wenn er beteuert, es dieses Jahr ruhig angehen zu lassen.
»Schadet auch nicht, tut bestimmt gut«, sagen die Einen.
»Ich bin mir sicher, dass du gestern Nacht schon ordentlich reingefeiert hast und jetzt verkatert im Bett liegst«, glauben die anderen lachend zu wissen.
Die Menschen kennen ihn nicht, das wird Niall immer klarer.
Selbst wenn er sich jemanden öffnen würde, ist er sich sicher, dadurch nichts zu verändern.
Ihm kann niemand helfen, außer er selbst.
Louis ruft nicht an, er schickt ein Selfie mit Freddie, zusammen mit Glückwünschen. Harry nuschelt zu einer unmöglichen Uhrzeit, die vermutlich irgendeiner Zeitverschiebung geschuldet ist, eine Sprachnachricht auf sein Handy und Liam gratuliert konsequent in der Wir-Form von sich und Cheryl.
Niall hatte nichts anderes erwartet. Weder fühlt er sich dadurch weniger allein, noch ist er enttäuscht.
Stattdessen versucht er, in sich hineinzuhorchen und schreibt wieder seine innersten Gedanken auf.
Niemand da draußen kennt mich wirklich, niemand weiß von meinen düsteren Zukunftsvisionen, die jeden Moment zur Gegenwart werden können.
Keiner ahnt, welche Schlacht ich von früh bis spät in mir austrage, welchen Dämonen ich gegenübertrete.
Wie soll ich an mir arbeiten und lernen mit mir selbst zu leben, wenn ich immer wieder diesen Menschen gegenübertreten muss und mir unter ihnen jedes Mal aufs Neue bewusst wird, wie allein ich bin?
Neulich hab ich einen dieser „Depressionen als Volkskrankheit"-Artikel gelesen und habe mich wahnsinnig unwichtig gefühlt - als wäre das, was ich mit mir herumtrage nicht von Bedeutung. Als wäre es unumgänglich, dass unsere Gesellschaft an Depressionen leidet, als wäre es Alltag geworden und jeder würde es trotzdem schaffen ein geregeltes Leben zu führen.
In mir macht sich so viel Wut breit – auf die Leistungsgesellschaft, auf all meine Mitmenschen, meine Familie, meine Freunde, aber am meisten auf mich.
Ich verstehe nicht, wie ich hier geboren werden konnte. Ich verstehe nicht, wie ich immernoch hier sein kann, ich gehöre nicht hierher.
Genau das ist der Punkt, an dem Niall innehält.
Er gehört nicht hierher, er will und kann sich nicht im schlimmsten Falle noch fünfzig Jahre um die Ohren schlagen und das ertragen, was er ist. Es gibt kein Licht am Ende des Tunnels, nur diesen einen Notausgang.
Niall ist sich sicher, der undankbarste Mensch dieser Welt zu sein, aber noch sicherer ist er sich darüber, genug über sich und dieses Leben erfahren zu haben.
23 Jahre fühlen sich in diesem Moment mehr als genug an und mehr sollten es auch nicht werden.
Zum ersten Mal, als er diesen Gedanken widerstandslos zulässt, spürt er in seinem Körper etwas, wie Erleichterung.
Als würde all die Last, die er auf seinen Schultern trägt, plötzlich abfallen und er endlich dem gleißenden Licht, das der Notausgang in seinen düsteren, engen Tunnel wirft, laufen können.
Lächelnd sackt Niall noch weiter auf seinem Sofa zusammen.
Man sagt, in seinen 20ern würde man seine Richtung oder gar sich selbst finden. Niall hat Einiges gefunden und mit nichts davon will und kann er leben.
Trotzdem hat er seinen Weg endlich erkannt.
Es ist der einzige Weg für ihn.
Holmes Chapel || »Harry!«, staunt Anne Twist überrascht, fröhlich und erschrocken zugleich. Mit ihrem Sohn hatte sie nicht gerechnet, als sie gerade eben wieder nach Hause gekommen ist. Einmal pro Woche nimmt sie sich mit ihrem Mann Robin die Zeit, nach Cheshire zu fahren, um dort einen entspannten Abend im Restaurant zu verbringen. Normalerweise kehren sie dann in ein leeres Haus zurück, aber heute sitzt Harry am Küchentisch, am Boden neben sich seine Reisetasche.
»Tut mir leid, schlechtes Timing. Ich wollte eure Date Night nicht stören«, entschuldigt sich Harry, zeigt dann aber mit den Händen präsentierend auf sich selbst. »Aber - Überraschung!«
Lachend winkt nun auch Robin ab und tritt hinter Anne in die Küche.
»Junge, und ich dachte, du wärst noch in den Staaten. Oder wo auch immer. Aber hier in unserem Haus bist du uns ja immer noch am Liebsten!«
Glücklich über das Wiedersehen schließt Harry zuerst Anne, dann seinen Stiefvater fest in die Arme. Er hat in den letzten Monaten alles getan, um seine Heimat zu meiden und genau das will er nun ändern.
»Was verschlägt dich denn hierher?«, will Robin wissen.
Seufzend lässt sich Harry wieder zurück auf den Küchenstuhl sinken und sieht seine Eltern an.
»Es hat sich viel getan. One Direction wird erstmal nicht zurückkehren«, lässt Harry die Bombe direkt platzen.
Mit großen Augen sehen Anne und Robin den jungen Künstler an und lassen sich ebenfalls auf die freien Stühle am Küchentisch nieder - langsam und vorsichtig, als wüssten sie nicht, welche Reaktion sie Harry nach dieser Information zutrauen sollten.
Anne erwartet ein niedergeschlagenes Gesicht und eine Schimpftirade darauf, dass sich die restlichen Bandmitglieder nicht bereit für die Rückkehr fühlen, doch stattdessen steht ein erleichtertes Funkeln in Harrys Augen.
Jeder der Anwesenden erinnert sich lebhaft daran, wie unentspannt, unausgelastet und nahezu aggressiv Harry vor einigen Monaten hier gesessen hat, weil er nichts oder eben gerade zu viel mit der freien Zeit anzufangen wusste. Aber nun sitzt hier anstelle des gereizten Musikers ein glücklicher, entspannter junger Mann mit einem Funkeln in den Augen, wie es Anne bei ihrem Sohn lange nicht mehr gesehen hat.
»Das heißt also -«, tastet sie sich vorsichtig, mit fragender Stimme voran, während Robin ebenso gespannt seinen Blick auf Harry gerichtet hat.
»Dass ich noch eine Menge Zeit habe!«, freut sich Harry strahlend. »Für so viel Neues! Neue Musik, neue Menschen, ich kann die PR-Phase für Dunkirk in aller Ruhe mitmachen«, fängt er an aufzuzählen. »Und vorallem hab' ich dazwischen auch Zeit für euch und muss nicht meinen ganzen Terminkalender bis oben hin vollstopfen.«
Den letzten Satz spricht Harry mit einer solchen Ruhe und Bedeutungsschwere, dass Anne und Robin schweigend innehalten.
Harry hat etwas zu sagen, das ist ihnen beiden bewusst. Und dass sich etwas an und in ihm verändert hat, erkennen sie beide mit nur einem Blick.
»Wenn mir durch Louis und die Tomlinsons eines klargeworden ist, dann dass ich meine Zeit sinnvoll nutzen sollte. Und das bedeutet ein gesundes Gleichgewicht zwischen meiner Leidenschaft, die ich leben will und der Zeit, die ich in die Familie investieren will, zu finden. Und ich würde mir nie verzeihen, würde ich eines Tages zurückschauen und mir vorwerfen müssen, nicht genug Zuhause gewesen zu sein - und zwar wirklich hier zu sein, mit Kopf und Herz. Das war ich in letzter Zeit nämlich ganz und gar nicht und das tut mir leid. Hier war zu viel, das mir Angst macht, aber ich hätte mich niemals davon abhalten lassen dürfen, hier zu sein.«
Jedem der Dreien ist klar, worüber Harry spricht. Er hatte Robins Krebsdiagnose stets von sich geschoben und wollte sich erst gar nicht damit auseinandersetzen, aber inzwischen ist ihm bewusst, dass er nicht einfach so weitermachen kann wie bisher.
Er muss sich mit dem Gedanken beschäftigen, seinen Stiefvater zu verlieren und ihn womöglich loslassen zu müssen. Ignoriert er diese Möglichkeit und läuft stattdessen davon, verpasst er die Chance, die Zeit mit seiner Familie zu genießen.
Robin Twist weiß, wie sensibel Harry ist und wie sehr ihn Schicksalsschlägen und emotionale Themen berühren. Er hat ihm nie vorgeworfen, dass er seine Diagnose weitestgehend ausgeblendet hat, ist nun aber umso gerührter von Harrys ehrlichen Worten.
»Das bedeutet mir sehr viel, Harry«, ist Robin der Erste, der die Stille bricht, während Anne ihren Sohn stolz mustert und leicht nickt.
Noch vor einigen Minuten hatten die beiden nicht erwartet, Harry diesen Monat überhaupt noch zu Gesicht zu bekommen und nun sitzt er so losgelöst und reflektiert in ihrer Küche.
»Wie gesagt, es ist immer schön, dich hier zu haben. Und du bist weiß Gott nicht der Einzige in diesem Haus, der Angst hat. Aber gemeinsam lässt sich das sicherlich leichter ertragen«, lächelt Robin seinen Stiefsohn ehrlich, aber nachdenklich an. Bei aller Normalität, die sie beizubehalten versuchen, schwebt seine Krankheit doch über allem, was in dieser Familie passiert.
Anstatt Worte lässt Anne Taten sprechen.
Schnell erhebt sich sich wieder, tritt hinter Harry und drückt ihm stolz einen Kuss auf die Schläfe, ehe sie prüfend durch sein Haar fährt.
»Und die richtige Frisur für einen Neuanfang hast du ja auch schon«, sagt sie und inspiziert den neuen Kurzhaarschnitt ihres Sohnes, den er sich insbesondere für Dunkirk hatte schneiden lassen. »Gut siehst du aus!«
Anne lockert bewusst die Stimmung und lenkt das Thema weg von der düsteren Wahrheit über Robins Krankheit. So erleichtert sie auch über Harrys Erkenntnisse ist, will sie im Moment das Wiedersehen mit ihrem Kind genießen, anstatt sich die schlimmsten Zukunftsängste auszumalen.
»Los, erzähl' vom Dreh!«, fordert sie ihn daher aufgeregt auf. »Oder zuerst wie es kommt, dass die Band nicht weitermacht. Und wie geht's Louis als Vater? Es hat sich eine Menge getan, erzähl' uns alles. Ganz in der Reihenfolge, wie du willst.«
Lächelnd legt Harry den Kopf in den Nacken und sieht zu seiner Mutter auf.
Es ist richtig hier zu sein, das weiß er auf tiefstem Herzen. Und die Gewissheit, dass ihm nicht die Uhr im Nacken sitzt, ist unheimlich beruhigend.
»Da hat sich tatsächlich eine Menge getan«, nickt Harry zustimmend. »Insbesondere, dass Louis bald nicht mehr der Einzige ist, der in unserer Runde Vater ist.«
»Nein!«, entfährt es Robin und Anne gleichermaßen überrascht. »Liam?«
Lachend nickt Harry erneut und fängt endlich an zu erzählen. Von den neuen Erfahrungen bei Dunkirk, von deinen Zukunftsvisionen, von den neuen Leuten, die er kennenlernen durfte und von den Befindlichkeiten seiner Freunde.
Nur, dass einer seiner besten Freunde seinen Lebensmut verloren hat, erzählt er nicht - immerhin weiß Harry selbst nicht, was sich im Norden Londons anspielt.
Denn während sich Harry endlich überwunden hat, ehrlich zu sich und seinem Umfeld zu sein und sich seinen Ängsten zu stellen, trägt Niall der Welt gegenüber weiterhin seine Maske. Darunter aber hat er längst aufgegeben.
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