06 - how everything changes
wie sich alles ändert
"Alles bereit für morgen?" Zach kommt vom Krankenbesuch bei Nico nach Hause und findet mich im Gästezimmer vor, das ich für selbigen Freund herrichte. Sein Bein war schwer verletzt und an mehreren Stellen gebrochen, seine Hüfte hat was abbekommen, ebenso wie ein Arm. Er musste mehrfach operiert werden und wurde erst jetzt, Wochen später, aus dem Krankenhaus entlassen. Das Bein in einer Orthese vom Oberschenkel bis zum Fuß verpackt, könnte er auf Krücken laufen, wenn nicht sein Arm auf der einen und die Rippen auf der anderen Seite ebenfalls noch Heilung benötigen würden. Da es ihm so schwer möglich ist, alleine zurechtzukommen, werden wir uns um ihn kümmern. Das sind wir ihm schuldig. Außerdem mögen wir Nico beide und vertrauen ihm. Deshalb wird er der Erste sein, der uns mal wieder zusammen erleben wird und warum auch nicht. Er wird unser Gast sein und keiner von uns wird versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen. Zumal er meine Hilfe benötigen wird und Zachs Ablenkung. Ihre Freundschaft sollte genauso wenig unter irgendwelchen Spielchen mit unserer Identität leiden, wie seine Pflege, denn für Verbandswechsel und Ähnliches werde ich zuständig sein.
"Ja, das Zimmer ist hergerichtet, der Patient kann kommen", verkünde ich mit einem breiten Grinsen und einer großen Geste. Mal wieder vor jemandem ganz normal als Zwillinge aufzutreten ist irgendwie auch spannend und Nico ist genau der richtige Proband dafür. Er ist, was seinen Charakter angeht, so ziemlich in der Mitte zwischen Zach und mir. Er mag zum Beispiel Partys und die Gesellschaft anderer, aber bevorzugt dort ein ernsthaftes Gespräch im kleinen Kreis und in einer ruhigen Ecke. Hitzigen Diskussionen ist er dabei aber nicht abgeneigt. Er ist einfühlsam genug, um Zach nicht zu bedrängen und ihn auf sich zukommen zu lassen. Gleichzeitig ist er schonungslos genug, um mich zur Ordnung und in meine Schranken zu weisen, wenn ich mal wieder mit einem Witz oder einem Streich die Grenzen überschreite. Es gibt Momente, da denke ich, er würde einen guten Mini-Master abgeben. Aber nein, diese Gedanken verwerfe ich schneller als sie kommen, denn als bester Freund meines Bruders ist er für mich einfach Tabu, mal ganz abgesehen davon, dass er ein Ortsansässiger ist - wie Otis.
Erst jetzt fällt mir auf, dass Zach viel zu ernst dreinschaut, selbst für seine Verhältnisse. Ich lasse meine Blicke noch einmal durch den Raum schweifen, dann hake ich mich bei ihm ein und ziehe ihn aus dem Zimmer, gebe ihm gerade Zeit genug, das Licht auszumachen, und bleibe erst im Flur wieder stehen. "Sofa oder Küche?", frage ich und er weiß genau, dass es dabei nicht um den bevorzugten Raum an sich, sondern um die Größe des Problems geht, das gerade zwischen uns hängt. "Küche", nickt er und zieht jetzt mich dahin. Dann lässt er los und beginnt, Zutaten zusammen zu suchen für einen seiner geliebten Smoothies. Ich beobachte kurz, was er rauslegt und nicke dann, als er mich fragend ansieht. Ja, das wird einer, den ich auch mag. Dann warte ich geduldig, bis er zu sprechen beginnt.
"Es ist was passiert, was du wissen musst", hebt er schließlich an und ich weiß sofort, dass es um Nico gehen muss. Hoffentlich kein Rückschlag, der ihn länger im Krankenhaus hält; oder womöglich was Schlimmeres? Gerade, als mir sein Schweigen zu lange dauert, fährt er endlich fort, während seine Hände unablässig Zutaten vorbereiten, abmessen und in den Mixer schmeißen.
"Seit er im Krankenhaus ist, flirtet er mit mir auf Teufel komm raus. Zuerst dachte ich, es ist nur aus Langeweile und der Freude darüber, dass ich ihn besuchen komme. Doch heute hat er mir gestanden, dass er schon lange in mich verknallt ist und dass er jetzt beschlossen hat, das nicht mehr geheim zu halten."
Kaum dass er diesen Hammer losgelassen hat, stellt er den Mixer an, der laut genug ist, um eine spontane Antwort meinerseits zu übertönen. Ob es so geplant ist? Vielleicht. In jedem Fall ist es gut so, denn als es wenige Sekunden später wieder ruhig wird und Zach meinen Blicken ausweicht, in dem er Gläser aus den Hängeschränken holt und uns jedem eines einschenkt, habe ich zumindest den verärgerten Fluch herunter geschluckt und sehe ihn nun nur noch ungläubig an.
Als er sich meinem Blick endlich stellt, weil er nachsehen muss, wieso ich kein Wort sage, wirkt er genauso verstört wie ich.
"Um ehrlich zu sein, er hat immer mal leicht mit mir geflirtet, aber er hat es nie forciert und ich habe es stets einfach ignoriert. Er ist einer der wenigen, wirklich engen Freunde, die du hast, da war er für mich immer Tabu." Das überrascht mich noch mehr, ähnelt seine Aussage doch sehr meinen eigenen Gedanken dazu. Doch wenn ich ehrlich bin, hat er nicht unrecht. Viele Bekannte bedeuten nicht gleichzeitig auch viele Freunde und Nico zähle ich tatsächlich neben Candy und Cane zu meinem engeren Freundeskreis. Dennoch plagt mich die Sorge. Und vielleicht sogar die Eifersucht. Zach mag nicht der Feinfühligste sein, aber wenn es um mich geht, entgeht ihm nichts.
"Du musst dir keine Sorgen machen", erklärt er ernst. "Egal was er jetzt vorhat und was daraus wird, ich werde mich niemals von dir abwenden, nicht einen Millimeter!"
Unseren Kindheitsschwur zu hören entlockt mir ein flüchtiges Grinsen. Über die Jahre hat er für uns eine ganz besondere Bedeutung bekommen. Es ging uns nicht nur darum, immer füreinander da zu sein. Eine räumliche Trennung voneinander kommt für uns einfach nicht in Frage. Selbst unsere Schlafzimmer liegen nebeneinander und haben eine Verbindungstür. Eine der verborgenen, unsichtbaren und sie ist meistens geschlossen, aber sie ist da. Das ist einer der Gründe, warum wir nie nach einer romantischen Beziehung Ausschau gehalten haben, wenn bei weitem nicht der einzige oder wichtigste.
"Denkst du, unter den Umständen ist es gut, ihn hier zu versorgen?" Schon während ich die Frage ausspreche weiß ich, dass es keine Alternative dazu gibt. Wir haben ihm unsere Hilfe angeboten, ja fast aufgedrängt, als klar wurde, dass er nach der Entlassung welche benötigen würde. Dabei hat uns auch das schlechte Gewissen geplagt, denn er war nur ein unschuldiges Opfer, das zwischen die Fronten geraten ist und wir fühlten uns deshalb schuldig. Wir waren ihm das Angebot schuldig und wir sind ihm die Hilfe auch jetzt noch mehr als schuldig. Meine Körpersprache zeigt, dass ich den Gedanken hinter der Frage bereits verwerfe und Zach versteht und stimmt mir zu. Auf keinen Fall können wir jetzt einen Rückzieher machen.
"Ich denke allerdings nicht, dass er ein neuer Otis ist", erklärt Zach ruhig, als er einen weiteren Teil meiner Ängste anspricht, die bei mir immer schon stärker ausgeprägt waren als bei ihm. Vielleicht, weil ich zu Otis Stalker-Hochzeiten öfter mit ihm zu tun hatte als mein Bruder.
"Ich meine, er ist immer noch Nico und wenn er schon immer verknallt war, dann hat sich im Grunde nicht wirklich was geändert."
Dem muss ich zustimmen, nehme aber lieber einen tiefen Schluck aus meinem Glas und lecke mir dann die Lippen ab. Schließlich stelle ich es ab und nicke. "Wenn wir zusammenhalten, kriegen wir das hin."
Er nickt ebenfalls, doch ich sehe seine angespannten Schultern. Er ist nicht so cool damit, wie er tut, aber das ist kein Wunder. Nur weil wir uns sicher sind, dass wir uns nicht gegenseitig verlieren, weiß man nicht, wie dieses Geständnis von Nico alles ändert. Vor allem unsere Freundschaft mit ihm.
Als ich am nächsten Tag das Krankenzimmer betrete, flirtet mich Nico direkt an, während er mich seinen Helden nennt, der zu seiner Rettung geeilt ist und ihn endlich aus dem Krankenhaus befreit. Eigentlich genau mein Humor, aber im Moment ist mir nicht zum Lachen zumute. Ich habe gestern nichts zu Zach gesagt, denn ich muss erst wissen, was genau vorgeht, bevor ich mit ihm rede. Heute noch, soviel ist klar, denn wir haben keine Geheimnisse voreinander.
"Nicolas, was wird das?" Mein ernster Tonfall, meine gerunzelte Stirn, mein ganzes Auftreten, verunsichert ihn kurz. Vorsichtig studiert er meine Gesichtszüge, dann sackt er in sich zusammen. "Er hat es dir also erzählt?" Dann lächelt er und nickt. "Gut. Ich hatte damit gerechnet, es sogar gehofft."
Sein Verhalten ist auf so viele Weise fragwürdig, interessant, überraschend und ... und ... ich stehe eine Weile sprachlos da und starre ihn an.
Er weiß, dass ich Arian bin. Das ist komischerweise der erste Gedanke, der mir in den Kopf schießt, dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass mich selbst meine Eltern in diesem Moment für Zach gehalten hätten. Gut, er hat mich erwartet, aber in dieser Situation? Hätte doch sein können, dass ich Zach stattdessen schicke?
"Kannst du dich zu mir setzen? Ich möchte es erklären und dir was dazu sagen", bittet er mich leise. "Am liebsten, bevor du mich auf die Straße setzt und mir die Freundschaft kündigst."
Sein Blick ist zu ernst und in seiner Stimme schwingt lediglich der schwache Versuch von Humor mit, also schüttle ich den Kopf und komme seiner Bitte nach. Soll er sich selbst einen Reim darauf machen. Denn ich kämpfe mit der Frage, wieso er auch mit mir so offensiv flirtet, seit er im Krankenhaus ist. Und wieso tut er es immer noch, obwohl er Zach sein Interesse erklärt hat? Und egal wie offen er ist, er hat ihm jedenfalls nicht erzählt, dass er auch mit mir wie verrückt flirtet.
"Ari? Bitte, hör mir zu und lass mich ausreden. Ich bitte dich. Ich weiß, dass ich vermutlich einige Ängste bei dir triggere mit dem, was ich zu sagen habe. Aber bitte, gib mir eine Chance, ja? Unserer Freundschaft zuliebe?"
Mein Magen zieht sich genauso zusammen wie mein Herz und in meinem Mund spüre ich einen bitteren Geschmack, der nicht vom Reinigungsmittel kommt, dessen Duft in allen Gängen und Räumen des Krankenhauses hängt. Bitte nicht. Doch als er mit der Hand auf seiner gesunden Seite nach einer meiner Hände greift und sie sanft drückt, spüre ich, wie er zittert. Ein Blick in seine Augen zeigt mir so viele Emotionen, dass ich mich fast übergeben muss. Angst, Hoffnung und Sorge mischen sich in das Flehen, mit dem er auf meine Zustimmung wartet, also nicke ich mit angehaltenem Atem, bevor ich mich zu ein paar tiefen Atemzügen zwinge.
Dann gesteht er mir dasselbe, was er scheinbar auch Zach gesagt hat, nur mit mir in der Hauptrolle und ich schüttle wieder den Kopf.
"Wieso?" Meine melancholische Frage am Ende seiner kleinen Rede lässt ihn aufseufzen. Er war mit seiner kleinen Ansprache wohl noch nicht fertig, aber nichtsdestotrotz lässt er sich auf meine Richtungsänderung ein.
"Wieso jetzt? Nun, dieser ... Unfall ..." Er bewegt seinen verletzten Arm, um zu zeigen, was er meint. Ich schüttle erneut den Kopf, doch er spricht einfach weiter. "Es war eine Art Todesnah-Erfahrung, als dieser Wagen auf mich zu geprescht kam und ich nur knapp zur Seite springen konnte, so dass er mich nicht voll erwischt hat. Plötzlich sehe ich mein Leben mit anderen Augen und ich kann die Zeit, die mir bleibt, nicht weiter verschwenden. Ich muss es wenigstens versuchen."
Seine Erklärung wird von einer Bestimmtheit begleitet, die wohl eher um mein Verständnis fleht als um Entschuldigung. Doch es war nicht das Wort Unfall, dass mich den Kopf schütteln ließ. Die Frage nach dem Timing interessiert mich gerade weniger.
Wieso er, will ich stattdessen fragen, doch bevor ich es ausspreche wird mir klar, dass auch das nicht genug ist. Ich will auch wissen, wieso ich, wieso wir, wieso hat er mit Zach zuerst gesprochen? Hatte er sowieso vor, heute und hier mit mir zu sprechen? Und hatte er wirklich nicht vor, uns voreinander geheim zu halten? Wieso freut er sich, dass Zach mit mir geredet hat? Bevor ich auch nur eine dieser Fragen herausbringe, fährt er mit dem fort, was er wohl sowieso erklären wollte.
"Ari, ich bin verliebt in dich. Und ich bin verliebt in Zach. Aber ich bin kein Otis. Ich will nicht der Liebhaber von Zwillingen sein, ich will dein Liebhaber sein, dein fester Freund. Und der von Zach. "Polyamorie bedeutet nicht immer einen Dreier, verstehst du?"
Bei der Erinnerung an Otis und seine Vorstellung eines Dreiers läuft mir ein Schauer über den Rücken. Dann bemerke ich, dass auch Nico sich schüttelt.
"Ihr seid so oft ein und dieselbe Person in vielen Dingen, nicht nur im Aussehen. Aber jeder von Euch hat auch eine Seite, die ich besonders lieben gelernt habe, auf die unsere Freundschaften beruhen und zu der ich mich hingezogen fühle. Ihr seid wie zwei Seiten einer Medaille. Man kann nicht beide Seiten gleichzeitig betrachten, man muss sich für die eine oder andere entscheiden. Aber dennoch kann die ganze Münze zu mir gehören." Er seufzt und fährt dann schnell fort, damit ich ihn nicht unterbreche. Ich höre ihm allerdings sowieso lieber zu und hoffe, dass er so Ordnung in meine wüsten Gedanken bringt.
"Eigentlich will ich unsere Beziehungen nicht ändern, verstehst du? Ich will nur meine Gefühle nicht mehr verbergen und ich will sehen, wie weit ihr sie erwidern könnt. Wenn am Ende dabei herauskommt, dass nicht mehr als Freundschaft drin ist, dann ist das eben so."
Und langsam begreife ich, was wirklich in ihm vorgeht. Was schon immer in ihm vorgegangen sein muss.
"Du hättest deine Gefühle nicht vor uns verbergen können, sobald du quasi mit uns lebst. Deshalb hast du den Schritt nach vorne gewagt?"
Er macht eine vage Kopfbewegung und sein Gesicht zieht sich schmerzhaft zusammen, ob von der Bewegung oder unserem Gesprächsthema? Vielleicht beides.
"Deshalb habe ich mich solange gewehrt, bevor ich euer Angebot angenommen habe. Aber ich bin zu dem Entschluss gekommen, dass es ein Zeichen ist." Er dreht sich steif zu mir um und sieht mir direkt in die Augen, seine Pupillen zucken nervös hin und her, weil er nach einer Antwort sucht, nach einem Hoffnungsschimmer, nach irgendwas.
"Ich habe nicht vor, mich zwischen euch zu drängen. Ich will nicht mehr als den Platz, den ich sowieso schon hatte, nur ... mit mehr Gefühlen. Ich will euch auch nicht das Leben schwer machen. Wenn ihr Nein sagt, dann ist es nein und ich werde das akzeptieren. Aber ich kann nicht mehr so tun, als wenn da nichts ist."
Ich stehe auf, strecke mich und seufze laut auf, bevor ich mich zu ihm drehe. "Lass uns nach Hause fahren. Besser, wir besprechen alles weitere, wenn mein Bruder auch dabei ist." Außerdem muss ich über einiges Gesagte erstmal nachdenken. Die Fahrt zurück wird mir die Zeit dafür geben. Ich hoffe nur, dass er damit leben kann, einen ungewöhnlich stillen Fahrer im Auto neben sich zu haben.
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