01 - how it started
wie es begann
Ich betrete das Come Inn und schaue mich nachdenklich um. Die Taverne ist voll bis auf einen Platz an der Theke, der ganz offensichtlich für jemanden freigehalten wird. Alle Gespräche sind verstummt und alle Augen ruhen auf mir. Ich ignoriere die Menge und wende mich der Barfrau hinter der Theke zu, nehme dabei wie selbstverständlich den freien Platz ein und bestelle laut: "Wie immer!"
Das leise Murmeln, die Blicke, die jeder meiner Bewegungen folgen und die Ohren, die regelrecht auf mich ausgerichtet sind, darum bemüht, nichts zu verpassen; das alles sorgt für eine seichte Spannung in der Luft und ist irgendwie berauschend. Dieses Gasthaus ist ein Theater, mein Platz an der Theke ist die Bühne, die Gäste sind das Publikum und ich bin die Hauptattraktion.
Nicht alle Anwesenden sind Zuschauer meiner Performance. Candy, die Barfrau, ist eher eine Statistin im stattfindenden Schauspiel um das Geheimnis des verschwundenen Zwillings. Einige Einheimische sind da, um ihr wohlverdientes Feierabendbier zu genießen und der eine oder andere Durchreisende ist hier vermutlich reingeraten, ohne zu wissen, was gespielt wird.
Wir befinden uns im Come Inn & Stay, einem Lokal mit angrenzender Pension und einem speziellen Angebot für Touristen. Es beinhaltet neben einer Übernachtung mit Frühstück im Stay auch einen Snack mit Getränk am Abend im Come Inn mit der Chance, hier auf mich zu treffen, den guten Zwilling. Aber bin ich das wirklich? Genau diese Frage liegt in der Luft und sorgt für besagte Spannung. Die Anzahl derjenigen, die dieses Angebot in Anspruch nehmen, würde vermutlich weiterhin steigen, wäre es nicht auf die vorhandene Bettenzahl begrenzt. An den Wochenenden ist die Herberge daher über Monate im Voraus ausgebucht. Der idyllische Ort mit vielen kleinen Geschäften und die unterschiedlichen Wanderwege darum herum bieten genug, um einen freien Tag genießen zu können. Doch am Abend kehren sie alle hier ein um ihre Schaulust zu befriedigen. Egal ob sie das Geheimnis lüften und den Betrug entlarven wollen oder insgeheim darauf hoffen, einem Mörder zu begegnen. Dabei gibt es nur eine fünfzehnprozentige Chance mich überhaupt anzutreffen, denn ich bin durchschnittlich höchstens einen Tag pro Woche hier.
Freitags ist die Taverne immer besonders voll, denn es ist der Tag, an dem mein Auftauchen am Wahrscheinlichsten ist. Da wir an vielen Wochenenden sowohl geführte Wanderungen als auch Überlebenstraining bis in die tiefsten Tiefen des Waldes anbieten, treffe ich mich freitags gerne mit unseren Kunden, um mit ihnen den Ablauf der nächsten beiden Tage zu besprechen und sicherzustellen, dass alles bereit ist. Heute bin ich aus dem zweiten Grund hier, der mich zum Beginn des Wochenendes in die Taverne lockt. Die Touristen bringen nicht nur Geld in die Kassen unseres Ortes, sondern auch ein reichhaltiges Buffet an interessierten Männern mit sich und ich bin auf der Pirsch. Das bedeutet nicht, dass ich die Hoffnungen der Gäste ignoriere.
Candy macht eine große Show daraus, ihr Küchentuch von der Schulter zu nehmen, das dunkle Holz der Theke vor mir glänzend zu polieren und das Tuch schwungvoll zurück an seinen Platz zu schleudern. Anschließend stellt sie mir ein Glas vor die Nase, in das sie Bourbon einschenkt. Ich schnuppere daran, verziehe das Gesicht und schiebe es auf der Theke zurück in ihre Richtung. Mein Publikum saugt kollektiv überrascht die Luft ein, hält den Atem an, um zu hören, was ich stattdessen bestelle und lacht dann nervös auf, als ich mich nur über die fehlenden Eiswürfel beschwere. Betont lässig greife ich dann nach meinem Glas, drehe mich anschließend auf dem Barhocker um, lehne mich mit dem Rücken gegen die Theke aus dunklem Holz und stütze meine Ellenbogen hinter mir darauf ab. Mein Glas locker in der linken Hand, lasse ich die hinzugefügten Eiswürfel darin klimpern, während meine Blicke suchend über jeden Anwesenden wandern.
Ich sehe neue Gesichter und alte Freunde, Touristen und Dorfbewohner, ehemalige und potentielle Hookups. Den letzteren spende ich besondere Aufmerksamkeit. Ich bin offiziell der nette, soziale, freundliche, offene Zwilling und heute hier, um einen von ihnen aufzureißen und mit in meine Hütte zu nehmen. Die Männer, die meine interessierten Blicke erwidern und mir gefallen, kommen in die nähere Auswahl. Leider ist die erwartete Person von besonderem Interesse heute doch nicht da, wie schade. Aber man kann wohl nicht alles haben. Langsam hebe ich die Hand mit dem Glas an, wechsle es jedoch erst in die andere Hand, bevor ich daraus trinke. Zurück in der vorherigen Position ist es nun meine rechte Hand, die das Glas zum Schwingen bringt. Belustigt betrachte ich die enttäuschten Gesichter einiger Gäste und suche spöttisch ihren Augenkontakt. Dachtet ihr wirklich, dass es so einfach ist, mich von meinem Zwillingsbruder zu unterscheiden? Anhand meines Getränks oder weil einer von uns angeblich Rechts- und der andere Linkshänder ist? Es sind sowieso nur Gerüchte, aber sie sind Teil des Spaßes, weshalb ich sie nicht zerstöre und nur mit ihnen spiele.
"Okay, ich bin hier, um meinen Feierabend zu genießen und einige von Euch näher kennen zu lernen", erkläre ich schließlich und zwinkere dabei einem der Männer zu, der es auf meine Jagdliste geschafft hat.
"Aber ich bin bereit, euch ein paar Fragen zu beantworten, bevor ich mich um meinen eigenen Kram kümmern und euch bitten werde, dasselbe zu tun." Ich hebe meine Hände an, die eine, um das Glas zu meinen Lippen zu führen und einen kleinen Schluck zu nehmen, die andere, um das Publikum mit erhobenem Zeigefinger um Geduld zu bitten. Ich bin noch nicht fertig mit meiner Ansprache.
"Vorweg dazu aber ein Satz für alle Ungläubigen und Verschwörungstheoretiker unter euch: Ja, ich bin ein Zwilling!"
Das lockert die Stimmung etwas auf und ein leises Gemurmel startet an dem einen oder anderen Tisch, wo man überlegt, was wohl eine gute Frage wäre. Einige zeigen artig auf und jemand hebt bereits mit der ersten Frage an, doch ich unterbreche ihn mit einem erneuten Handzeichen und fahre fort.
"Als ich vor ein paar Jahren das Licht der Welt erblickte, ..."
Das entlockt dem Publikum leises Gelächter und das eine oder andere Grinsen, denn zugegebenermaßen müsste man hier von Jahrzehnten reden. Doch natürlich ignoriere ich es und fahre unbeeindruckt fort:
"... musste ich leider feststellen, dass mir schon jemand zuvorgekommen war. Nicht nur, dass ich mir neun Monate den engen Raum im Bauch meiner Mutter mit ihm teilen musste. Nein, er hatte sich auch noch bei der Geburt vorgedrängelt und so mein spektakuläres Aussehen für sich beansprucht. Also bitte, um das klarzustellen. Er sieht so aus wie ich, und nicht umgekehrt!"
Das bringt mir weiteres Gelächter ein und ein paar Handzeichen wie einen erhobenen Daumen oder eine aufrecht ausgestreckte Hand, die man vage von einer Seite zur anderen kippen lässt. Meine Blicke suchen die Gesichter derjenigen, die jeden von uns bereits getroffen haben. Viele gibt es nicht und einige davon wissen es nicht einmal, zumindest nicht hundertprozentig.
Ich trinke noch einen Schluck und nicke dann.
"Okay, die erste Frage?"
Das Schöne ist ja, dass es sich hier um wild zusammengewürfelte Personen handelt. Also gibt es keine Ordnung, keine Absprachen, dafür laut durcheinander gerufene Fragen. So ist es mir möglich, diejenigen herauszupicken, die ich bereit bin zu beantworten. Und es sind immer welche darunter, bei denen ich will. Dafür sorgen im Zweifelsfall die anwesenden Einheimischen im Publikum. Lässig und fröhlich beantworte ich sie und lasse dabei insgeheim für mich Revue passieren, wie es dazu kam, dass mein Bruder und ich zur Touristenattraktion unseres Ortes wurden.
⏮️⏰🔙
Als Kinder waren wir wie alle Geschwister und vermutlich wie die meisten Zwillinge. Wir gingen gemeinsam zur Schule und spielten mit unseren Identitäten, um Lehrer wie Mitschüler zu verwirren und - wenn möglich - davon zu profitieren. Mit der Zeit neigten besonders die Erwachsenen dazu, uns auszuweichen, wenn man uns einzeln begegnete, weil uns selbst unsere Eltern kaum auseinanderhalten konnten. Es war ihnen immer peinlich, wenn sie einem enttäuschten Kind eingestehen mussten, dass man es für seinen Bruder gehalten hat. Wir haben auch davon reichlich profitiert und sie nie wissen lassen, wenn sie mal richtig lagen. Immerhin spendeten sie nicht nur mit Worten Trost.
Tatsächlich sind wir aber, was den Charakter und unsere Neigungen angeht, ziemlich verschieden. Ich war schon immer der Gesellige von uns beiden, umgeben von einem großen Freundeskreis, stets ein Lächeln auf den Lippen und auf jeder Party dabei. Mein Bruder hingegen ist eher ein ernster Einzelgänger, der - wenn überhaupt - die Gesellschaft von maximal einer anderen Person bevorzugt, mit der er am liebsten durch die Wälder streift. Daran waren wir, besonders wenn wir gemeinsam irgendwo auftauchten, durchaus auseinanderzuhalten. Zumindest als Kinder. Mit den Jahren entwickelten wir ein neutrales Mienenspiel, das uns seltener verriet und schon bald konnte ich den ernsten Einsiedler genauso geben wie Zach mein Grinsen kopieren.
Es war vor allem mein Bruder, der - wann immer er etwas mit einem Freund unternahm - so tat, als wäre er ich. Feste Freundschaften vermied er wie der Teufel das Weihwasser. Freunde laden einen zu Geburtstagsfeiern ein, kommen uneingeladen zu Besuch oder verlangen anderweitig Aufmerksamkeit zu unpassenden Gelegenheiten. Nichts für Zach und kein Problem für mich. Ich hab ihm diesbezüglich nur zu gern den Rücken freigehalten und jeden neuen Bekannten in meinen Freundeskreis aufgenommen. Manchmal habe ich sogar selbst von diesem Charaktertausch profitiert. Wenn ich mal etwas Ruhe vom Trubel brauchte und mir nicht danach war, der Clown des Tages zu sein, gab ich mich eben als Zach aus und ging mit einem dieser Freunde in den Wald.
Je häufiger wir die Rollen tauschten, umso schwerer wurde es, uns generell auseinanderzuhalten. Als wir älter, immer öfter in getrennten Klassen unterrichtet und seltener gemeinsam gesichtet wurden, begannen die Hänseleien darüber, dass wir in Wirklichkeit nur eine Person seien. Sie waren noch unbegründet, denn auch wenn wir nicht gemeinsam auftauchten, so wurden wir doch zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten gesichtet, aber es war der Grundstein für alles, was später kam.
➡️⏰⏯️
"Wie kommt es, dass es kein Foto von dir und deinem Bruder gemeinsam gibt, nicht mal aus Schulzeiten?"
Ich grinse die Fragestellerin breit an. Ein echter Fan unserer Geschichte und Verfechterin der These, dass es nie einen Zwilling gab und wir - die Ortsansässigen - das alles nur erfunden haben, um Touristen anzulocken. Ich mag, wie sie seit drei Jahren jeden Kurzurlaub bei uns verbringt und nach Beweisen sucht.
"Oh, es muss solche Fotos aus Kindertagen geben. Hängt nicht sogar eins davon im CIA?"
Das Café von Iris und Ava hat eine große Fotowand mit unzähligen Bildern von Gästen aus den letzten Jahrzehnten, darunter auch eines von uns. Wie Tag und Nacht stehen wir wie Statuen in der gleichen Haltung nebeneinander, Zach im Schatten einer Häuserwand mit grimmigem Blick und ich daneben in der Sonne mit einem strahlenden Lachen. Die Diskussion, die daraufhin losbricht, zeigt jedoch, dass es unter all den anderen Bildern sehr schwer zu finden ist und man außerdem seine Echtheit anzweifelt, weil es eher wie zusammengeschnitten aussieht. Unser Ziel, die anderen Gäste auch in das Café zu locken, ist damit jedoch erfüllt. Denn ja, unser Stammgast hat durchaus recht, zumindest mit dem zweiten Teil ihrer These.
"Wieso kann sich dann niemand, der hier lebt, an euch erinnern?"
Unser Fan ist heute mit Verstärkung angerückt, die eine Folgefrage aufwirft. Ich muss mich ihr nicht selbst stellen, denn einer der Einheimischen wehrt sich auf seine unnachahmlich grummelige Art gegen diese Aussage.
"Hey, ich hab nie behauptet, dass ich mich nicht an die Zwillinge erinnern kann. Nur nicht daran, ob ich sie mal gemeinsam gesehen habe."
Verlegen reibt er sich beim zweiten Satz den Nacken, was mit viel Gelächter sowie einigem Gestöhne und Gemurre aufgenommen wird.
"Nun", unterstütze ich ihn mit einem verschmitzten Lächeln, "es ist nicht unsere Schuld, dass die Zeugen dazu nach und nach verschwanden." Das sorgt für noch mehr Aufruhr, denn wie schon die Erklärung meines Freundes sorgt auch meine Aussage für wenig Aufklärung und noch mehr Spekulationen. Und das tun wir aus gutem Grund.
⏮️⏰🔙
Unser Dorf lag im Sterben. Keine Jobs, die Kinder zogen zuerst weg, um anderswo Arbeit zu finden, die Eltern später hinterher, um in der Nähe der Enkelkinder zu sein. Die Alten, die zurückbleiben, wurden auf natürliche Weise auch immer weniger und diejenigen, die aus allen Generationen blieben, hatten ihre liebe Mühe, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zach und ich gehörten zu den wenigen, die nach der Schule im Ort blieben und eine Ausbildung annahmen. Wir zogen zum damaligen Waldhüter in seine Hütte und lernten, mit dem Wald und in ihm zu überleben. Nachdem er in Rente gegangen und gen Süden gezogen ist, haben wir sowohl seinen Job als auch die Waldhütte übernommen.
Zu Beginn unserer Ausbildung wurden die Hänseleien unser ehemaligen Klassenkameraden zu echten Gerüchten. Diese wurden noch durch Spekulationen darüber aufgebauscht, dass es zwar Zwillinge gab, aber einer davon verschwunden ist. Eines Tages hatten wir eine Gruppe Jugendlicher auf der Durchreise im Ort, die sich einen Spaß daraus machten, sich die tollsten Horrorgeschichten dazu auszudenken. Angefangen von mir, der seinen bösen Zwilling im Wald gefangen hält bis hin zum bösen Zwilling, der mich umgebracht hat und jetzt mein Leben weiterführt. Die Geschichten wurden weitererzählt und nahmen immer verrücktere Ausmaße an. Zunächst bereitete uns das große Sorgen, aber dann erkannten wir darin eine Gelegenheit für unser Dorf.
➡️⏰⏯️
Heute kümmern wir uns offiziell um die Wald- und Forstwirtschaft sowie den Tierbestand darin im Rahmen unseres Hauptjobs. Nebenher verdienen wir extra Geld, indem wir einige Bienenstöcke verwalten und den Honig zusammen mit gesammelten Beeren und Pilzen auf dem Markt verkaufen. Außerdem haben wir uns als Waldführer selbständig gemacht. Ich begleite Touristen und Gruppen auf ihren Wanderungen und Zach führt das Überlebenstraining. Allerdings tritt er dabei, wie so oft, unter meinem Namen auf. Sein ernstes und manchmal grummeliges Verhalten, so erklärt er auf Nachfrage, hat mit den Gefahren im Wald und dem speziellen Training, das sie absolvieren, zu tun. Hier ist mehr Konzentration und weniger Gaudi gefragt. Am Lagerfeuer in der Nacht zeigt er dann, dass auch er ein fröhlicher Geselle sein kann. Er erzählt Witze und holt den Whiskey heraus, um mit den Leuten aufs Überleben anzustoßen und später alberne Lieder zu grölen. Damit heizt er die Spekulationen um den verschwundenen Zwilling nur weiter an. Gerüchte, dass er Linkshänder ist und keinen Bourbon mag kommen übrigens auch von diesen Ausflügen.
Die Geschichte um den verschwundenen Zwilling bringt uns seit Jahren Besucher ein, die nicht nur im Stay einkehren, im Come Inn essen und trinken und die Gegend genießen. Sie kaufen auch in den Geschäften und auf dem Markt ein, nehmen jede ansässige Gastronomie in Anspruch und beleben generell, allein durch ihre Anwesenheit, das Dorf. Und die geschäftstüchtigen Dorfbewohner haben sich schnell mit ihren Angeboten auf die Touristenwünsche eingestellt, ebenso wie wir.
Auf vielfachen Wunsch hin beinhaltet eine meiner Wandertouren jetzt sogar ein paar mystische Plätze im Wald, an denen man einen von uns als Geist gesehen haben will, der wahlweise für Versöhnung oder Rache nach dem Zwillingsbruder sucht. Natürlich taucht dieser Geist niemals auf. Zach ist ganz zufrieden damit, nirgendwo mehr in Erscheinung zu treten, was nicht bedeutet, dass er die Stadt komplett meidet oder keine anderen Freunde außer mir hat. Er lässt halt einfach nur noch sehr wenige Vertraute wissen, dass er es ist, und nicht ich, wenn er sich mit Leuten unterhält.
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