Kapitel 7 - Unter der Wasseroberfläche
Elvar, du Glückspilz!
Die Weide, in deren Astgabeln sich Elvar wiederfand, wuchs direkt an einem kleinen See. Ihre kräftigen Äste streckten sich schwungvoll zum Wasser. Einige tauchten sogar in das Nass samt den Blättern ein und verschmolzen so mit dem Wasser zu Einem.
Aus kürzester Distanz beobachtete Elvar in seiner letzten Bewegung erstarrt die Seelenlose. Sogar ein Blick auf ihr Gesicht konnte der Junge erhaschen. Er fühlte sich ziemlich unwohl bei dem Gedanken, die Kriegerin aus dieser geringen Entfernung zu beschatten. So gefährlich nah über ihr zu hängen, löste ein mulmiges Gefühl in ihm aus. Es war riskant und dennoch reizte ihn der Gedanke, ihr nah zu sein, ohne dass sie Verdacht schöpfte.
Die beiden Vollmonde spiegelten sich in dem See und ließen um das Wasser alles heller erscheinen. Elvar vernahm leisen Nachtgesang um sich. Sanftes Zirpen von Grillen, beruhigendes Vogelzwitschern und ein Froschkonzert, das sich immer wieder dazwischendrängte. Unzählige Wasserbolde schwirrten um den See, flimmerten als winzige weiße Lichter harmonisch zur Melodie der Nacht. Die Atmosphäre hatte etwas Magisches, wenn nicht gar Romantisches.
Die Seelenlose kniete auf einem flachen Steinbrocken, der aus dem See ragte. Sie beugte sich zu dem Wasser nieder. In ihren zu Schiffchen geformten Handflächen schloss sie das Wasser ein und ließ es schließlich über ihre Lippen in den Rachen laufen. Elvar schluckte trocken. Er war sich nicht sicher, ob es am eigenen Durst lag.
Unerwartet verharrte die Seelenlose in ihrer Bewegung, in den See hineinschauend, in dem sich auch die Weide spiegelte.
Mist! Sie sieht mich. Elvar bebte innerlich vor Aufregung.
Während er nervös einen Plan schmiegte, fing Iva plötzlich an, sich mit den Fingern über die langen Haare zu fahren. Der Junge entspannte sich. Zu seiner Erleichterung war sein Verdacht wohl ein Irrtum. Sie hat sich wahrscheinlich vor dem eigenen Spiegelbild erschreckt, dachte Elvar erleichtert.
Er musterte ihr blau schimmerndes Haar, während sein Herzschlag sich allmählich normalisierte. Es hing zerzaust in alle Richtungen. Eilig strich sich die Frau all das Blau über die linke Schulter und fing an es zu einem Zopf zu binden, dabei wirkte sie höchst konzentriert. Das geflochtene Haar wirkte schwer. Erneut bückte sie sich zum Wasser und musterte das eigene Spiegelbild. Vorsichtig tastete sie die malträtierte Nase ab, die sie Elvar zu verdanken hatte. Gleich darauf wusch sie sich den Schmutz vom Gesicht und Hals. Das weiße Nachtlicht berührte dabei sanft ihr mit Wasserperlen überzogenes Gesicht, während ein Teil des Wassers leise durch ihre Hände zurück in den See plätscherte. Elvar konnte den Blick nicht von Iva wenden. Er hätte ewig so auf sie schauen können. Ihre Gesichtszüge wirkten so anders. Überraschend sanft und weich. Es hatte etwas Beruhigendes, ihr zuzusehen.
„Ich weiß, dass du da bist", erklang überraschend ihre Stimme. Die Kriegerin blickte in die Astgabeln des Baumes über sich.
Elvar jedoch war bereits am Boden. An den Baum gelehnt nahm er sie ins Visier.
Sie entdeckte ihn. Abgestumpft starrte sie zu ihm. All das Weiche und Sanfte verschwand aus ihren Gesichtszügen. Die Seelenlose schwieg mit nichtssagender Miene.
„Dir ist nichts heilig, Seelenlose."
Elvar berührte den Baum nur mit den Fingerspitzen und verschwand direkt vor ihren Augen. Er war wieder oben in der Weidenkrone, an derselben Stelle, aus der er sie vorher beobachtet hatte. Die Seelenlose blickte in die Höhe und näherte sich langsam dem Baum.
„Geh, solange ich dir die Wahl lasse!"
„Ich bin überrascht, wie gnädig du bist, was mein Leben angeht. Liegt es womöglich daran, dass du gar keine Wahl hast?", fragte Elvar spöttisch.
Iva sah in schweigend an.
„Die Moonwölfin hast du nicht verschont. Du würdest mich gerne töten, aber du kannst nicht, habe ich recht?"
„Dir geht es doch nicht anders. Was willst du Großmaul?", rief sie zu ihm herauf, als Elvar plötzlich vor ihr auftauchte.
„Für den Anfang, dir die Scheiße aus dem Leib prügeln."
Wutentbrannt ballte er seine Fäuste und schlug nach ihr aus. Er war fasziniert, wie geschwind sie reagierte und wie grazil sie ihm auswich. Erneut verschwand Elvar vor ihren Augen.
„Glaubst du, du bist was Besonderes, als Gebrandmarkter? Bild dir nichts drauf ein, denn du bist und bleibst ein Halbblut, ein Nichts", rief Iva ihm zu.
„Ohne dein Schwert bist du auch ein Nichts!", schrie Elvar und sprang von einem Ast von hinten auf die Seelenlose. Er schnürte ihr mit einem Arm die Kehle zu. Sie trat ihn und versuchte, sich mit ihren Armen freizukämpfen.
„Du kämpfst wie ein Weib gegen ein Nichts von Mensch, was ist los mit dir?"
„Ich bin eins", antwortete sie angestrengt atmend.
„Ich sehe kein Weib. Ich sehe eine Mörderin, ein Monster, des Königs Hure." Der Junge ärgerte sich darüber, dass die Seelenlose nicht auf seine herablassende Art reagierte.
„Dich mach ich auch ohne mein Schwert fertig!", krächzte sie.
Elvar spürte ihren Griff um seine Arme fester werden. Dann nahm er nur noch wahr, wie sie vor Kraftaufwand aufschrie und ihn über ihre Schulter schleuderte. Mit voller Wucht landete der Halbblütige im Nassen.
Nach Luft schnappend tauchte er wieder auf. Er spürte keinen Grund unter sich, schwang mit seinen Armen unkontrolliert hin und her. Sein Kopf verschwand immer wieder unter Wasser. Panik packte ihn. Er konnte nicht schwimmen, er war dabei zu ertrinken!
Die Kriegerin saß außer Atem am Rande des Seeufers und beobachtete das Geschehene abwartend. Elvar versuchte, oben zu bleiben, er paddelte mit seinen Armen und Beinen, doch es gelang ihm nicht, sich ans Ufer zu retten. Er kämpfte um sein Leben. Vergebens versuchte er, seine Gabe zu nutzen. Es fehlte ihm an Konzentration. Er fühlte, wie er sich dem Wasser ergab.
„Greif nach dem Stock, du elende Missgeburt!"
Iva stand überraschend bis zur Taille im Wasser und hielt einen Elvar langen handlichen Stock entgegen. Er wollte sie zu Teufel schicken, wenn er nicht gerade um sein Leben kämpfen müsste. Aber lieber würde er ertrinken, als sich von der Seelenlosen retten zu lassen.
„Jetzt mach schon", schrie die Frau. Ihre Stimme hatte etwas Nervöses.
Schließlich griff er nach dem Stock und fühlte sich im gleichen Augenblick wie ein Verräter. Ein Verrat an sich selbst, an Noria.
Iva zog den Stock mit dem Halbblütigen, der sich daran festklammerte, langsam und angestrengt zu sich. Als er wieder Boden unter sich spürte, ließ Elvar den Stock los. Er konnte der Seelenlosen nicht in die Augen blicken, dieser Moment hatte alles übertroffen, was bisher geschehen war. Es war erniedrigend. Es war beschämend.
Er schleppte er sich voran, während sie mit nassen Schuhen und Hosen ihn vom Ufer aus beobachtete.
„An deiner Stelle würde ich schnell aus dem Wasser verschwinden", warnte sie ihn ruhigem Ton.
„Ich an deiner Stelle, würde jetzt auch verschwinden", brüllte er aus vollem Halse das Wasser um sich schlagend, während seine Stimme versagte.
Als er erneut nach dem Wasser ausholen wollte, packte ihn etwas. Sofort ergriff ihn wieder die Furcht, etwas stimmte nicht. Er versuchte, sein linkes Bein mit starkem Kraftaufwand nach vorne zu ziehen, doch etwas hinderte ihn daran. Elvar blickte ins Wasser und sah weiße Haare, viele weiße Haare um seine Beine.
Verloren schaute er zu der Seelenlosen, ohne irgendein Wort über die Lippen bringen zu können. Geistesgegenwärtig lief Iva auf den Jungen zu.
„Nimm meine Hand!"
Und schon wieder griff er nach der helfenden Hand. Fest umklammerten sich ihre Finger. Ihre Blicke trafen sich.
Angst, er sah Angst in ihren Augen.
Immer stärker zerrte etwas an ihm, bis er den Halt unter sich verlor. Das Etwas wollte ihn ins Wasser ziehen. Mit ganzem Körpereinsatz krallte sich Iva mit den Fingern in seine Hände. Elvars Arme zitterten. Seine Kräfte ließen nach.
Schließlich konnte er die helfenden Hände nicht mehr halten, doch sie packte die seinen umso fester, versuchte, den Halbblütigen zurück ans Ufer zu zerren.
Es hatte keinen Zweck, seine Hände entglitten schließlich ihrem Griff. Ein letztes Mal blickte Elvar sie an. Schnappte nach Luft, bevor er in das Wasser gezogen wurde. Er hörte auf, sich zu wehren. Es hatte keinen Sinn. Schnell zog das weißhaarige Etwas ihn auf den Grund des Sees. Auf dem Grunde war es dunkel, das Wasser trüb. Immer wieder umkreiste ihn das Wesen wie eine Wasserschlange. Elvar sah eine große Fischflosse vor seinen Augen vorbeihuschen. Eine Wassernixe? Er merkte, wie das Glitschige ihn an Bauch und Hals streifte. Dann spürte er, wie das Wesen den nackten Oberkörper an seinen presste und die glitschige Flosse immer wieder kalt seinen Körper berührte. Elvar war nicht in der Lage, noch länger den Atem anzuhalten. Er wollte nach Luft schnappen, wo keine war. Es war Zeit, zu gehen, er schloss die Augen. Er war bereit.
Erschrocken riss der Junge die Augen auf, als das Fischwesen die kalten Lippen plötzlich an seine presste. Sie begann, ihn frei heraus zu küssen. Er spürte ihre gespaltene Zunge die seine fordernd umkreisen. Angewidert wehrte er sich, das Wasser durch seine Nase und Mund ziehend. In diesem Moment füllten sich Elvars Lungen mit Wasser. Doch zu seinem Pech war es nicht sein Ende.
Ich atme. Wie ist das möglich? Es war ein merkwürdiges Gefühl, Wasser ein- und auszuatmen. Seine Lungen kribbelten auf eine betäubende Art. Der Junge verstand nicht, wie ihm geschah. Währenddessen zerrte das Fischwesen ihn immer weiter in den Abgrund.
Unerwartet wurde es immer heller. Wie war das möglich, so tief unter Wasser? Die Antwort darauf entdeckt er im selben Augenblick, in dem er sich die Frage stellte. Es war leuchtender Seetang, der alles um sich herum erhellte. Elvar musterte das Fischwesen in dem Licht widerstrebend. Giftig gelbe Augen fixierten ihn gierig.
Sie hatte etwas Anziehendes, gleichzeitig aber auch Abstoßendes an sich. Ihr Haar schwirrte um sie. Sie hatte einen gräulichen Hautton und schmale blaue Lippen. Durch die hohen, markanten Wangenknochen und schräg und weit auseinander gestellten Augen wirkte sie wie ein gefährliches Raubtier. Ihr Unterkörper ähnelte dem eines Fisches, mit gelben, groben Schuppen und einer riesigen Flosse. Über ihren Augenlidern flimmerten winzige lila Schüppchen. Der Junge erkannte Kiemen, die sich hinter den großen, spitzen Ohren der Nixe schnell hin und her bewegten. Aufdringlich küsste die Nixe ihn erneut. Elvar drückte sie angewidert von sich.
Verärgert zückte die Nixe ihre Krallen und hinterließ blutige Spuren in seinem Gesicht. Warnend zeigte sie ihr düsteres Lächeln aus vielen kleinen spitzen Zähnen. Dabei zuckte ihre gespaltene Zunge schlangenhaft mehrfach aus dem Mund hervor.
Wie wundervoll, auf ewig die Hure einer Nixe ..., dachte sich Elvar.
Sie küsste ihn immer und immer wieder. Er wollte sich wehren, musste aber an ihre vielen scharfen Zähne denken. Instinktiv schloss er seine Augen und gab sich ihren Küssen hin. Der Halbblütige versuchte, der Situation gedanklich zu entfliehen. Es gab nur eine Person, die ihm dabei durch den Kopf schoss...
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