Kapitel 58 - Hand in Hand
Das Mondlicht fiel auf seine Gestalt. Mit wem sprach er? Um ihn war es dunkel und niemand zu sehen oder zu hören. Doch dann trat aus dem Schatten eine kleine Gestalt hervor.
Edda?
Tatsächlich; sie war es und streckte Roan die rechte Hand entgegen, woraufhin sich dieser zu der kleinen Frau niederbeugte. Dann hauchte sie ihm etwas verschwörerisch ins Ohr und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Roan flüsterte etwas zurück, richtete sich auf und musterte mich mit ernster Miene.
„Mädchen", krächzte Edda mit altersbedingt belegter Stimme und trat nun auf mich zu. „Es ist so weit."
Ich sah mich erwartungsvoll um, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches erkennen. Nervös blickte ich zu Alex. All der Frust von eben war wie weggeblasen. „Wirklich? Es ist so weit?", wiederholte ich und spürte, wie es in meiner Bauchmitte vor Aufregung kribbelte. Wie lange hatte ich mir diesen Augenblick ersehnt?
„Ja, wir sind da", bestätigte er mit einem Blick auf die Uhr. „Wir haben uns etwas verzögert, aber in zweiundzwanzig Minuten öffnet sich die Pforte."
Mit unruhig pochendem Herzen warf ich einen Blick in die Runde, als Edda nach meiner Hand griff und mich zu sich zog.
„Ich wünschte, ich könnte dir etwas auf deinem Weg mitgeben, Mädchen. Aber ich habe nichts in meinem Besitz was dir vom Nutzen sein könnte."
„Das hast du schon. Ich habe den Treibsand dabei und den Dolch. Beides habe ich noch." Zum Jacks Wohle erwähnte ich lieber nicht, dass der Dolch inzwischen in seiner Obhut war.
Sie musterte mich eindringlich. „Das ist gut." Der Ausdruck ihres Gesichtes war anders als sonst. Ihre Augen wirkten so traurig. Nicht so taff und kaltherzig wie sonst.
„Fürchte dich nicht. Roan wird dir den Weg weisen. Er kennt den Hof, weiß, wo sie meinen Jungen festhalten."
Zaghaft bejahte ich es mit einem Kopfnicken und realisierte zu meinem Bedauern, wie wichtig Roan für diese Mission war. Ob ich wollte oder nicht, ich musste irgendwie mit ihm auskommen.
Sie legte ihre kalten, von Altersflecken und Adern durchzogen Hände auf meine warmen Wangen. Kummervoll zogen sich ihre Augenbrauen dabei zusammen, während ihre fliederfarbenen Augen nicht mehr traurig, sondern fordernd mich fixierten: „Bring mir meinen Jungen zurück." Die Alte drückte auch mir ihre kalten, bläulichen Lippen mitten auf die Stirn und wandte sich dann mit gesenkten Lidern von mir ab.
Wollte sie jetzt wirklich gehen?
„Willst du nicht warten?", rief ich ihr nach. „Bis wir durch die Pforte sind?"
Ihre Mundwinkel zuckten kaum merkbar in die Höhe: „Untätig zusehen bringt keinem was. Nicht wahr?", meinte sie und wandte sich zum Gehen um.
„Was ist mit uns? Kriegen wir keinen Abschiedskuss?", scherzte Jack, während Edda mit der Dunkelheit verschmolz, ohne ihm eine Antwort zu geben.
Wir standen gebannt da, zählten die Minuten, bis nur noch eine Minute übrig war. „Jacques!" Aufgeregt zeigte Areas auf einen Baum in der Nähe, seine Augen glänzten staunend. „Die Pforte ist offen. Der Weg in meine Welt!"
Ich sah immer noch nichts, genauso wenig wie Jack, der unbeeindruckt mit den Schultern, beim Blick zu dem Baum zuckte und ein skeptisches „Okay", von sich gab.
„Wir sollten keine Zeit verlieren", meinte Roan zu Alex.
Dieser nickte schwerfällig und sah mich betrübt an: „Er hat recht. Ihr solltet keine Zeit verlieren."
Ich nickte entschieden: „Mach dir keine Sorgen, wir schaffen es! Wir holen Liam zurück."
Alex schenkte mir ein optimistisches Lächeln: „Passt auf euch auf und kehrt alle wohlbehalten zurück." Den Tränen nah drückte er mich fest an sich.
„Das machen wir. Versprochen."
Ich wollte nicht aus der Geborgenheit seiner Arme weg, als er mich losließ und zu mir sprach: „Hör auf dein Herz und verlier nicht ..."
Roan unterbrach Alex mit ernster Miene: „Ich gehe schon voraus mein Freund und befüll die Flaschen mit frischem Wasser."
Damit einverstanden, holte Alex aus einem Rucksack, den er bei sich trug, vier Flaschen heraus, welche aus Taurius stammen. „Pass auf dich auf Roan", sagte er und reichte ihm die Trinkflaschen, dessen dunkelbraune Flaschenhälse aus lederartigen Behältnissen hervorblitzten.
„Sei unbesorgt, ich halte mein Wort." Dann wand Roan sich ab, machte mehrere große Schritte und verschwand direkt vor unseren Augen ins Nichts. Mickey jaulte klagend und eh wir uns versahen, sprang er Roan hinterher.
„Mickey!", rief ich ihm besorgt nach, doch auch er war wie vom Erdboden verschluckt.
„Verdammte Scheiße", stieß Jack aus. „Passiert mit uns das auch?"
„Keine Angst. Es sieht dramatischer aus, als es ist", beruhigte ihn Areas. Er reichte mir und Jack eine Hand. „Wir müssen es ihnen gleich tun. Taurius ist einen Katzensprung entfernt."
Gemeinsam, Hand in Hand, waren wir dabei in die andere Welt zu schreiten. Alles würde sich zum Guten wenden, davon war ich ganz fest überzeugt. Eine andere Option existierte nicht. Ein letztes Mal blickte ich über die Schulter zu Alex. Ein unsicheres Lächeln huschte über meine Lippen.
Plötzlich ergriff Alex aufgeregt das Wort: „Was auch kommt, verlier nicht den Glauben an das Gute, wollte ich dir vorhin noch sagen. Pass auf dich auf und kommt heil zurück. Ich werde auf euch warten. Auf Elvar und dich. Ich weiß, es steht mir nicht zu es zu sagen, aber ich bin stolz auf dich, so stolz wie ein Vater nur sein kann. Und was auch passiert, du wirst die richtige Entscheidung treffen. Ich glaube an dich. Und ich...", stotterte er nervös. „Ich mag deinen Namen. Er ist wunderschön, sowie du, mein Kind!"
Tränen stiegen mir in die Augen. Diese liebevollen Worte aus seinem Mund zuhören bedeuteten mir einfach alles. Es war, als wäre eine unsichtbare Blockade zwischen uns aufgerissen. Die schwere Decke aus Unsicherheit, welche mich sooft erdrückte, wurde leicht wie eine Feder. Doch eh ich Alex etwas entgegenbringen konnte, war er wie vom Erdboden verschluckt.
„Ach, du heilige Scheiße", fluchte Jack im Flüsterton und blickte sich mit offenem Mund nach allen Richtungen um.
Mir hatte es gänzlich die Sprache verschlagen. Ein großer Lichtschweif, war über uns mit einem Mal sichtbar, so strahlend hell, wie die Sonne selbst. Doch im Vergleich zur Sonne blendete das Licht uns nicht. Wir gingen ein paar Schritte, um aus dem Schweif zu treten und ihn uns in ganzer Fülle anzusehen. So sah sie also aus, die Pforte. Ein riesiger, goldener Ring aus Licht.
Das Fleckchen Erde, um die Pforte selbst war von einem gedämpften weißen Licht umgeben, obwohl die hochragenden, dichten Bäume den Nachthimmel abschirmten. Das Licht schien vom Boden auszugehen. Es war warm und schwül hier. Und die Bäume und Sträucher um uns waren allesamt in dunkles Grün gehüllt. Keine Spur von trostlosem, ungemütlichen Herbstwetter. Ein holzig-erdiger Duft stieg mir in die Nase. Meine Augen weiteten sich erstaunt. Erschrocken und fasziniert zugleich, betrachtete ich die weißen Steinsäulen und Ruinen vor mir. Sie waren von einem riesigen Baum gespalten, durch dessen Stamm ein plätschernder Bach verlief, dessen Wasser wie flüssiges Gold schimmerte.
Eine steinerne Skulptur, welche am Boden lag, fesselte meine Aufmerksamkeit. Eine Hälfte des gemeißelten Gesichtes und Körpers war zerstört, doch die andere war noch erkennbar. Den schmalen Gesichtszügen nach handelte es sich um eine Frau mit einem ausdrucksstarken Blick. Das Auge, welches der Skulptur noch geblieben war, sah aus, als würde es mich beobachten. Wem zu Ehren diese Steinfigur wohl galt? Zu gern hätte ich jetzt meine Eindrücke mit Alex geteilt, doch ich war durch die Pforte. Ich war auf der anderen Seite, in einer mir unbekannten Welt. So nah und doch so fern. Es war genauso wie Alex es mir all die Zeit versucht hat zu beschreiben. Magisch.
„Alex?" Ganz Ohr hoffte ich auf eine Antwort von ihm.
„Du kannst ihn nicht mehr sehen und auch nicht hören. Er auch nicht", meinte Roan, mich von oben bis unten kalt in Augenschein nehmen. „Du bist jetzt in Taurius."
„Das weiß ich auch", nörgelte ich vor mich hin und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Besorgt blickte ich zu Mickey, welcher nun neugierig um sich herumschnüffelte und die Gegend erforschte! „Was machen wir mit ihm?", fragte ich in die Runde, als dieser plötzlich sich von uns entfernte und abseits der erhellten Stelle in die Dunkelheit sich verzog. „Mickey, bleib!", rief ich hinterher, doch er war nicht zu entdecken.
„Er kommt wieder", schnauzte Roan und drückte mir drei gefüllte Wasserflaschen in die Hände. „Teil das Wasser unter euch auf."„
Skeptisch musterte ich den Bach, aus dem das Wasser herkommen musste. Der goldene Schimmerfilm darin hinterließ Zweifel bei mir was die Wasserqualität betraf. „Kann man es wirklich trinken?"
Sein Gesicht wurde immer finsterer: „Du musst nichts trinken, wenn du denkst, dass ich dich vergiften will. Bleibt mehr für mich übrig", presste er zwischen den Zähnen hervor und machte sich mit einer energischen Drehung von mir fort.
„So war es doch gar nicht gemeint", rief ich ihm nach. Er ignorierte mich.
Wir eilten ihm hinterher, sahen uns dabei dennoch wachsam um.
„Was genau ist dein Problem? Kannst du nicht normal sein? Sie hat doch eine normale Frage gestellt."
Roan ignorierte Jack, marschierte drauflos, ohne Rücksicht auf Verlust.
„Du wirst uns doch zurückführen? Hierher?", rief Areas und holte Roan ein. Sicher hatte er wie ich Angst diesen aus den Augen zu verlieren.
Jack und ich holten sie auf.
„Womöglich tue ich es. Wenn ihr noch am Leben seid", versuchte er uns einzuschüchtern.
„Verrate uns endlich deinen Plan", forderte Areas.
„Ich muss umdenken", hörte ich ihn gereizter Stimme sagen und seine Schritte wurden endlich langsamer.
„Umdenken?", hakte Areas nach. „Gibt es Schwierigkeiten?"
Roan blieb stehen und warf mir einen aufbrausenden Blick zu. „Sie ist die Schwierigkeit. Sieh sie doch an! Wie soll ich dem König begreiflich machen, dass dieses Weib hier die Seelenlose ist? Ich war mir gewiss, dass sie hier nach dem Übergang ihre wahre Gestalt annehmen würde. So wie du und ich! So wie alle Vollblütigen es tun. Ich habe mich getäuscht. Sie hat immer noch das Antlitz eines Halbbluts. Keiner wird ihr Glauben schenken, keiner will wissen, was ein Halbblut zusagen hat."
Er hörte sich enttäuscht und zornig an. Und ich war der Grund. Wollte er damit sagen, dass ich in meiner Form als Mensch nichts taugte? Wie konnte er über Menschen so reden. Dachte er wirklich, er wäre was Besseres? Seine herablassende Art provozierte mich ungemein. Ich musste ihm zeigen, dass er sich irrte. Es ihm vorführen. Jetzt. Sofort. Ich konzentrierte mich und ließ Zaria in meiner Hand auflodern.
„Ist Zaria Beweis genug?" Voller Tatendrang rammte ich das Eisen in den Boden.
Roan entglitten die Gesichtszüge ganz. „Bist du von allen Göttern verlassen, ruf Zaria zurück!"
Ich tat, was er sagte, konnte mir jedoch ein Grinsen nicht verkneifen. Wutentbrannt lief er auf mich zu und packte mich so fest, bis es schmerzte am Handgelenk. Erschrocken darüber blickte ich ihn angsterfüllt an. Er war mir so nah, dass ich beobachten konnte, wie sich in seinen tobenden Jade farbigen Augen die Pupillen verengten. „Der Wald hat Augen und Ohren. Willst du, dass wir hier alle verrecken, noch bevor wir am Schattenhof sind?"
„Lass sie sofort los." Jack fuhr dazwischen und stieß Roan von mir. Seine Augenfarbe wandelte sich ins Gelbe."
Roan musterte ihn herablassend. „Ein Blaublütiger hat mir nichts zu sagen!"
„Glaubst du, du bist was Besseres, Spitzohr?", drohte Jack, ihm gefährlich nahekommend.
„Das glaube ich nicht nur, es ist so", erwiderte Roan auf Jacks drohende Frage.
Roan sagte es nicht nur so, er meinte es auch so. Das konnte ich ihm ansehen. Er trug seine Nase viel zu hoch, dieser eingebildete Mistkerl. Mickey tauchte plötzlich auf. Legte seine Ohren nach hinten, kläffte bedrohlich und war bereit, jeden Moment über Jack herzufallen.
Verachtend schnaubte Roan: „Sie dich an, du hast keine Kontrolle über das Blaublut in dir? Du wirst uns nur in Gefahr bringen. Tu uns einen Gefallen und kehre um."
Jack schäumte vor Wut. Ich war mir sicher, gleich würde er ihm das Monster zeigen, von welchem Roan sprach.
„Jacques!", rief Areas. „Wir sollten jetzt alle tief durchatmen und uns beruhigen."
Die Brust des Blauen hob und senkte sich impulsiv. Er kämpfte mit sich.
„Er ist es nicht wert! Bitte Jack", flehte ich und hielt ihn am Arm fest.
Zum Glück riss Jack sich doch noch zusammen und ließ davon ab, sich mit dem Einfaltspinsel anzulegen. Die Anspannung wich aus seinen Armen. Ich ließ ihn erleichtert los.
„Bis zum Schattenhofe ist es ein halber Nachtmarsch", erklärte Roan unbeeindruckt. „Wir sollten keine Zeit verlieren." Ohne uns eines Blickes zu würdigen, setzte er sich in Bewegung. Mickey blieb treu an seiner Seite.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihm gehorsam zu leisten. Und so folgten wir ihm in das Ungewisse. Eines fragte ich mich jedoch immer wieder, ob alle Vollblütigen so über Halbblut und Blaublut dachten, wie Roan.
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