Kapitel 57 - Ein schwarzes Mäuschen
Trotz des sternenklaren Himmels war es düster und finster inmitten entkleideter Baumkronen und trübselig herabhängender Tannenzweige. Aber ich fürchtete mich nicht. Die Nacht war klirrend kalt. Aber auch das machte mir nichts aus, den ein unbändiges Feuer tanzte in meiner Brust, dessen Flammen genährt von meiner Aufregung, Sehnsucht und Hoffnung waren. Vielleicht aber, war es der Fluch, der mich befeuerte. Was auch immer es war, es war willkommen. Etwas Zuversicht, Wagemut und Abenteuerlust konnte unter diesen Umständen wohl jeder gebrauchen. Neugierig auf das, was uns bevorstand, folgte unsere kleine Truppe aus Halbblut, Vollblut und Blaublut dem Torhüter auf seinem tagtäglichen Weg zur Pforte.
Das letzte Mal, als ich hier gewesen war, verriet mir Alex von der Pforte, Taurius und seiner Aufgabe als Torhüter. Es kam mir vor, als wäre es schon eine Ewigkeit her, doch der Anschein täuschte. Keine zwei Monate waren seit dem vergangen. Damals schenkte ich seinen Worten keinen Glauben, dachte er hätte den Verstand verloren. Selbst jetzt klang es absurd, wenn man genauer darüber nachdachte. Doch nachdem er mir seine wahre Gestalt gezeigt hatte, sah ich das Unmögliche mit meinen eigenen Augen und konnte es nicht mehr leugnen.
Er erzählte mir auch von dem Fluch und einer Vergangenheit, an die ich keine Erinnerung besaß. Nur langsam verarbeitete ich seine Worte und begriff nach und nach die Bedeutung dahinter.
Die Wahrheit tat weh. Minnie Spring hatte es nie wirklich gegeben. Es war nur eine Rolle, die mir auferlegt wurde. Ein Leben von achtzehn Jahren, was so nie existiert hatte. Alex war nicht mein Vater und Liam nicht mein Bruder. Ich war verletzt, fühlte mich betrogen und allein. Ich war wütend auf sie und die ganze verdammte Welt! So wütend und verzweifelt.
Nichtsdestoweniger gab es auch etwas Gutes an der Sache - ich bekam eine Erklärung für mein verräterisch pochendes Herz, für meine sündigen Gedanken. Das Verlangen, ihm nah zu sein. All das, was ich für Liam fühlte, all das, wofür ich mich verabscheute, war rechtens. Was jedoch nicht rechtens war, war der Fluch, der dafür verantwortlich war. Dennoch endlich eine Erklärung für mein Verhalten zu haben, veränderte so vieles.
Seitdem hatte ich mich weiter entwickelt. Ging mit kleinen Schritten nach vorne, dafür nie einen Schritt zurück. Tag für Tag wuchs ich ein Stück über mich hinaus, während das naive Mädchen, was ich einst war, immer weiter in die Ferne rückte. So manch Herausforderung hatte ich bewältigt und bewies des Öfteren, dass ich zu mehr fähig war, als Alex, Edda und auch Liam mir zutrauten. Erst jetzt erkannte ich jedoch, dass nicht sie es waren, denen ich es am meisten kundtun wollte. Die Person, welche mir gegenüber die meisten Zweifel hegte und sich mir jedes Mal verbissen in die Quere stellte, war ich selbst. Den Grund dafür glaubte ich zu wissen. Eine schwere Decke aus Unsicherheit legte sich sogleich bei dem Gedanken über meine Schultern und ließ sie unter ihrer Last erschlaffen. Bis zum heutigen Tage hatte ich nicht auf all meine Fragen eine Antwort erhalten. Alex hatte Geheimnisse vor mir. Ungeachtet alledem wollte ich mich davon nicht mehr verunsichern lassen. Ich versuchte, die Gegebenheiten zu akzeptieren und nichts mehr zu hinterfragen. Ich war mir sicher, es hatte seinen Grund, warum ich nicht über alles in Kenntnis gesetzt wurde, was mein früheres Leben, als Iva anging. Wie Alex immer sagte: „Alles zu seiner Zeit", und daran hielt ich mich, weil er und ganz sicher auch Liam nur das Beste für mich wollten.
Man sagt: Blut ist dicker, als Wasser. Doch ohne Wasser gebe es da Blut?
Sie waren meine Familie, die einzige, die ich hatte und kannte. Ich vertraute ihnen.
„Und auch hier am Ursprung siehst du nichts von der Magie?", fragte Alex Jack und schreckte mich aus meinen Gedanken auf.
„Nein." Jack sah sich enttäuschten Blickes um.
„Vermutlich, weil du in dieser Welt geboren wurdest", überlegte der Torhüter.
„Und du siehst auch nichts?" Erwartungsvoll musterte mich der Blaue.
„Nein, leider nicht", seufzte ich.
Selbst jetzt, nachdem ich Zaria erweckt hatte, sah ich nichts von der Magie, die unseren Grund und den Wald umgab. Ich war frustriert, aber wenigstens war ich nicht die einzige - Jack ging es nicht anders. Überraschend hielt er plötzlich an und bremste mich damit aus.
„Was hast du Jacques?" Areas sah sich wachsam um.
Der Blaue rümpfte die Nase und zog tief Luft ein durch diese. „Ich rieche etwas. Es kommt auf uns zu." Nervös machte er zwei Schritte nach hinten und zückte den Dolch, welchen ich ihm geborgt hatte.
Jetzt nahmen auch wir die Geräusche wahr. Ein Rascheln, ein leises Hecheln. Etwas näherte sich uns schneller, als es uns lieb war.
„Es ist hier", flüsterte der Blaue und wand sich stocksteif nach hinten um. Ein riesiger Wolf stand vor dem Blauen und riss bedrohlich das Maul auf. Sein schneeweißes, samtiges Fell schimmerte im Nachtlichte silbern und seine hellen Eisblauen Augen leuchteten in der Dunkelheit wie zwei Sterne, so hell. Ich atmete auf. Es war nur Mickey, den der Blaue gewittert hatte und es schien, als würde er Jack und Areas für eine Bedrohung halten.
„Mickey nicht! Das sind Freunde", redete ich auf das Tier ein.
Mickey jedoch ignorierte mich, bedrohte die beiden weiterhin.
„Es hat einen Namen. Wie niedlich. Was ist das für ein Monstervieh?", fragte Jack mit Aufregung in der Stimme und baute sich beschützend vor Areas und mir auf. Den Dolch hielt er dabei fest umklammert, jeden Moment zum Einsatz bereit.
Strengen Tones näherte sich Alex dem Wolf: „Mickey genug!"
Sofort gehorchte das Tier und setze sich folgsam auf seine Hinterbeine.
„Es ist ein Moonwolf. Er wird euch nichts tun", beruhigte Alex die anderen. „Eigentlich sind es friedfertige Tiere. Von Elvar weiß ich, dass diese Geschöpfe nur in den Wäldern des Schattenreiches zu finden sind. Den dort jagt man sie nicht, sowie in anderen Reichen."
„Das hast du mir nie erzählt. Und warum jagt man sie?" Mitleidig zogen sich meine Augenbrauen zusammen.
„Wegen ihres Fells, und des Fleisches wegen. Ich vermute aber auch für bestimmte Zauberrituale."
„Die Armen Tiere. Und nur im Schattenreich lässt man sie in Ruhe? Hat es einen bestimmten Grund?", hakte ich weiter nach.
„Ja. Dort glaubt man, dass die Moonwölfe den Göttern nah wären. Deshalb, um die Götter nicht zu erzürnen, lässt man sie in Ruhe. Sollte ein Moonwolf in Gefahr sein, so sollte man stets helfen. Und stirbt ein Moonwolf durch die Hand eines Taurianers, sei es auch aus Notwehr, so kann seine Seele nie mehr wiedergeboren werden."
„Kann es sein, dass die Einwohner dort sehr abergläubisch sind?" Jacks fragender Blick verharrte auf dem weißen Tier.
Alex zuckte daraufhin mit den Schultern: „Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Du könntest mich genauso fragen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Es ist eine Frage, die dir kein Lebender beantworten kann."
„Zum Götterfunken. Ist das Mickey?", erklang Roans Stimme ungläubig hinter uns.
Mickey reagierte sofort auf die raue Stimme des Vollblütigen, richtete seine spitzen Ohren aufmerksam nach oben und neigte seinen Kopf etwas zur Seite, als müsste er überlegen, woher er diese kannte.
Verdutzt blickten wir Roan an, welcher sich uns näherte? Keiner von uns hatte mitgekriegt, dass er eben noch fort war.
„Was starrt ihr mich an?" Auch er schien mit dieser Reaktion nicht gerechnet zu haben.
„Wo warst du?", wollte Alex sofort wissen.
„Pissen", war seine schamlos ausgedrückte Antwort.
„Sag das nächste Mal Bescheid."
Sein Blick verfinsterte sich: „Ich wusste nicht, dass ich dich erst um Erlaubnis fragen muss."
„Du bist nicht allein unterwegs. Was, wenn dir was passiert wäre?"
„Ich kann auf mich selbst aufpassen."
„Was, wenn wir dich gebraucht hätten? Das kannst du so nicht mehr machen und vor allem nicht in Taurius." Alex zeigte auf uns: „Sie verlassen sich auf dich."
„Schon gut, ich habe verstanden", sagte er ohne die Augen von Mickey zu lösen, doch in seine Stimme schlich sich Unmut. Er machte ein paar Schritte, wenige Meter trennten nun ihn und den Wolf. Sein Gesicht erhellte sich wieder. „Wahrlich du bist es. Komm her mein Junge!"
Jack stand der Mund offen, als das Tier darauf hin an ihm vorbeisauste und Roan stürmisch begrüßte.
„Das gibts doch nicht. Was machst du hier?", rief Roan heiterer, während Mickey aufgedreht, ihn immer wieder ansprang und dabei fast umschubste. „Elvar wollte dich doch von hier fortschaffen, wenn du groß genug bist. Zum Götterfunken und das bist du in der Tat."
„Elvar hat es versucht. Aber der Bursche hier wollte ihm nicht mehr von der Seite weichen." Alex lächelte sanft, beim Blick auf die Beiden.
„Sieh dich an. Was bist du nur für ein Riese geworden. Der schönste Moonwolf aller Zeiten." Roan kniete sich nieder und ließ seine Hand mit gespreizten Fingern über Mickeys Rücken gleiten, welcher unter seinen Berührungen ganz zahm wurde.
„Du kennst Mickey?", fragte ich irritiert.
Roan ließ seine von Leder umhüllte Hand auf Mickey seinem Kopf ruhen. „Gewiss. Das letzte Mal, als ich ihn sah, war er noch ein kleiner Rüde. Und jetzt sieh dich an mein Großer. Was für ein Prachtkerl du doch geworden bist!", schwärmte er und drückte seine Stirn gegen die des Wolfes. Kurz verschmolz das weiße Fell des Tieres mit dem weißen Haar von Roan zu einer Einheit. „Seinen Namen hat er von mir", verriet Roan mit stolzem Blick auf ihn.
„Von dir?" Verblüfft runzelte ich die Stirn.
Roan nickte. Zum zweiten Mal an diesem Tag huschte ein zufriedenes Lächeln über seine Lippen.
„Es war von den Göttern bestimmt. Der Zauberkasten hat mir zu jener Zeit ein Zeichen gegeben", ergänzte Roan dem Wolf ehrfürchtig in die Augen blickend.
„Es heißt TV, Fernseher, meinetwegen auch Glotze oder Röhre aber nicht Zauberkasten", brummelte Jack leise vor sich hin und rieb sich genervt seine Schläfen. „Hey, warte mal, der Köter heißt Mickey und du Minnie!" Jack zeigte auf mich mit großen Augen: „Zufall?"
Verdutzt blinzelte ich. Er hat recht! Mickey und Minnie? Was zum Teufel...
Ich hatte mir noch kein einziges Mal darüber Gedanken gemacht, woher und von wem ich meinen Namen hatte. „Habe ich meinen Namen etwa auch aus dem Zauberkasten?", fragte ich Alex und stemmte vorwurfsvoll die Arme in die Hüfte. „War es auch von den Göttern bestimmt?"
„Der war gut", lachte Jack.
Alex verschluckte sich fast an seiner Spucke. „Ähm ... Nun, ähm."
„Alex?" Ich runzelte die Stirn.
„Du brauchtest einen Namen.... also ..."
„Ich glaube es nicht! Ich bin nach einer Comic - Figur benannt?!" Schockiert darüber legte ich die flache Hand auf die Brust.
„Comic - Figur? Was ist das? Es war ein schwarzes Mäuschen", meinte Roan verwirrt zu Alex.
Ein Mäuschen? Meinte der Typ es ernst? Eine weitere Frage brannte mir sogleich auf den Lippen. „Habe ich meinen Namen auch von dir?" Vorwurfsvoll zogen sich meine Augenbrauen beim Blick auf Roans Gestalt zusammen.
Er hielt es nicht für angebracht mir zu antworten. Wie aus einer fetten Regenwolke platzte es aus mir heraus: „Weißt du wie schwer es war, mit diesem Namen für voll genommen zu werden?!", beschwerte ich mich.
Roans Augen verengten sich zu zwei Schlitzen. Ohne jegliche Emotionen preiszugeben, richtete er sich wieder auf und kehrte mir den Rücken. „Schätze dich gesegnet Mäuschen, dass du einen Namen besitzt", entgegnete er kalt und setzte sich wieder in Bewegung.
„Ich bin nicht dein Mäuschen!"
„Den Göttern sei Dank bist du es nicht!
Ich spürte die Hitze in mir aufsteigen. Vermutlich war ich rot wie eine Tomate im Gesicht.
„Und übrigens, wenn es nach Elvar ginge, hättest du keinen Namen."
Das hatte gesessen. All die Zweifel kamen wieder auf. Was war ich für Liam, wenn er so mich behandelte? Bis es weh tat, biss ich mir auf die Unterlippe, wollte nichts mehr dazu sagen, aber ich konnte es nicht lassen: „Soll ich mich jetzt bedanken?!", rief ich Roan hinterher.
„Wenn du so fragst: Ja!", gab er zurück. „Wohin nun?", wollte er von Alex wissen, welcher mit zornigem Blick an meiner Seite stand.
Mit scharfer Stimme antwortete der Torhüter: „Nach links." Sein Kiefer zuckte angespannt.
„Wusste ich doch", murmelte Roan zu sich selbst und bog zur Seite ab.
„Was für ein Arschloch", fluchte Jack hinter mir.
„Misch dich nicht ein", mahnte ihn Areas leise. „Das geht uns nichts an."
„Lass dich von seinem dummen Geschwätz nicht verunsichern."
Ich ballte die Hände zu Fäusten. In mir brodelte es gewaltig. Zornig funkelte ich Alex an: „Wieso verunsichern? Er hat mir wenigstens die Wahrheit gesagt und mir einen Namen verpasst. Ist doch nett von ihm. Oder?"
„Das mit dem Namen. Ich will es dir erklären. Also..."
Ich ließ ihn nicht ausreden: „Nein! Ich will darüber jetzt nicht reden. Alles zu seiner Zeit. Nicht wahr?", zitierte ich seine Worte mit gepresster Stimme.
Alex legte daraufhin seine Hand auf meine Schulter. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht alles erzählt habe und auch jetzt es nicht tun kann", sagte er etwas zögerlich und so leise, dass nur ich ihn hören konnte. Dann holte er Luft und hielt kurz inne, bevor er weiter sprach. „Vielleicht solltest du nicht mit Roan gehen. Geh nicht."
Es kam mir vor, als ob er das Ausgesprochene bereits bereute, so verunsichert wie sein Blick über mein Gesicht huschte.
Ich schüttelte seine Hand ab: „Soll ich hier bleiben und Liam im Stich lassen? Warten bis er stirbt und somit auch ich? Ist das die Lösung?"
„Nein, ist es nicht." Er wollte etwas sagen, presste dann aber die Lippen aufeinander und wandte sich von mir ab.
Mit rassendem Puls blickte ich dem einfältigen Vollblut nach, der vor mir den Weg entlangstapfte und dem niedergeschlagenem Torhüter. Was alles verschwiegen sie noch vor mir? Und wollte ich es überhaupt wissen? Natürlich wollte ich. Doch jetzt durfte ich mich davon nicht beirren lassen. Ich musste konzentriert bleiben und mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Ich versuchte all das Negative von mir fort zu schütteln und setzte mich wieder eilig in Bewegung, als Roan mit einem Mal anhielt und verwundert fragte: „Du bist hier?"
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