Kapitel 5 - Die Moorhexe
Iva die Seelenlose
Was war das? Was zum Teufel war das gerade eben? Zaria hat ihn verschont! Selbst, als er nach dem Schwert griff.
Ziellos streifte die Kriegerin durch den Wald. Sie wollte zurück, zu König Tarvos Nachthofe. Doch der Gedanken an den Halbblütigen wollte sie zurückhalten.
Sie war untröstlich, verwirrt und aufgebracht.
Er hielt das Schwert fest in seinem Griff! Mit Leichtigkeit hob er es hoch. Zaria sprach mit ihm! Ich sah es, ich hörte es! Aber wie ...?
Abrupt blieb sie stehen.
„Elvar", formten ihre Lippen hauchend. „Wer bist du?"
Verfluchter Mist!
Was scherte sie ein Halbblut? Und dennoch ... er konnte Zaria führen, so wie sie, so wie Roan. Wie konnte das möglich sein? Er war doch nur ein Halbblut. Zaria hätte ihn vernichten müssen, spätestens nachdem er das Schwert an sich riss. Ivas Herz raste plagend und wild. Sie grübelte, fragte sich, ob der Halbblütige, Zarias Gnade seiner Fähigkeit zu verdanken hatte.
Er beherrscht die Bäume. Zweifellos, ein Gebrandmarkter.
Noch nie zuvor hatte sie von einem gebrandmarkten Halbblut gehört. Und wenn es nicht an der Gabe des Gebrandmarkten lag? Schließlich war sie selbst keine Gebrandmarkte und soweit sie wusste, Roan auch nicht. Was, wenn er ein von Zaria Erwählter war, so wie sie und Roan? Konnte es möglich sein?
Wenn ja, dann ...
Sie hätte die Gelegenheit nutzen müssen. Sie hätte ihm das Schwert überlassen sollen. Verdammt! Das hätte sie tun sollen! Doch sie konnte nicht. Er sprach von einem Fluch. War es wirklich ein Fluch, welcher sie daran hinderte, ihm dieses Leid anzutun oder war es doch Zaria?
Der Abhängigkeitsfluch ... Aber gewiss, darum hatte Zaria ihn verschont!
„Ich bin eine Närrin!", flüsterte Iva, sich wieder am Boden der Tatsachen vorfindend. Sie setzte sich wieder in Bewegung.
Er ist kein Erwählter. Lediglich jemand, der mir den Tod wünscht.
Noch nie zuvor hatte eine Person die Seelenlose aufgesucht, um jemanden zu rächen. Natürlich nicht, das wäre reiner Selbstmord.
Der Brief ...
Roan wollte sie hier treffen, so stand es in dem Brief. Doch stattdessen traf sie auf diesen Elvar.
„Roan du Mistkerl!", brummte sie.
Iva war sich sicher, dass Roan seine Finger im Spiel hatte. Gewiss hatte er alles sorgfältig geplant. Hatte diesen Abhängigkeitsfluch über sie und den nichtsahnenden Menschen gelegt. Während ihre Gedanken um den Halbblütigen kreisten, fühlte sie sich wie in ein zu enges Korsett hineingezwängt. Selbst jetzt nahm sie die Nähe des Menschen wahr. Ihr war bewusst, dass er ihr folgte, und das wiederum erfüllte sie auf merkwürdige Art und Weise mit einem wohligen Kribbeln im Bauch.
„Verflucht seist du Roan!", murmelte sie hitzig, als ein leises Gejaule ihre Aufmerksamkeit erregte.
Die Geräusche kamen aus den Büschen hinter ihr. Vorsichtig schlich sie heran und entdeckte eine kleine Höhle im Felsgestein, neben der friedlich eine Moonwölfin döste, während ihr Junges verspielt um sie herumtobte. Getarnt hinter den Sträuchern beobachtete die Kriegerin die Tiere. Sie hatten schneeweißes Fell, doch beim Einfall des Mondlichts schimmerte es silbrig. Iva vergaß sich, als sie den kleinen Welpen so unbeschwert beim Spielen zusah. Das kleine Wollknäuel kaute am Ohr seiner Mutter und jagte seinem vom Mondlicht einfallendem Schatten hinterher. Iva musste beim Anblick des Welpen schmunzeln.
Doch ihre Miene verfinsterte sich recht schnell. Eine Stimme, die ihr nur allzu gut bekannt war, forderte ihre Aufmerksamkeit. Die Stimme von Zaria, rau und düster: „Töte die Wölfin, töte sie. Es dürstet mich."
„Das ist ein harmloses Tier, sie hat niemandem etwas getan."
„Sie ist mein."
Der Augenblick, in dem Zaria ihre Opfer wählte, verlief auf eine unvermeidbare Art immer gleich ab. Iva konnte es nicht verhindern, konnte sich nicht widersetzen. Es war, als ob Zaria höchstpersönlich vom Geist und Körper der Seelenlosen Besitz ergriff. Die Kriegerin verspürte diesen unerklärlichen Drang, sich des Tieres zu entledigen.
Gekonnt schlich Iva an das Tier heran, als plötzlich ein morscher Zweig unter ihren Lederstiefeln knackte. Bedrohlich knurrend öffnete die Moonwölfin sofort ihre Augen und sprang wachsam auf. Mit gefletschten Zähnen und nach hinten gelegten Ohren baute sich das Tier vor ihrem Jungen auf. Der Kleine krümmte sich vor Angst hinter der Mutter zusammen. Die Wölfin knurrte ihren Welpen an. Sofort verzog sich der Kleine in die Höhle hinter ihnen.
„Steh mir bei, komm herbei", flüsterte Iva und ließ das Tier dabei nicht aus den Augen. Zaria tauchte lodernd in ihrer Rechten auf.
Mit einem weit aufgerissenen Maul hetzte die Wölfin auf Iva zu. Das Tier war von enormer Größe, ihre Zähne eine tödliche Waffe. Die Vorgehensweise der Wölfin vorausahnend, duckte sich Iva in Windeseile, während das Tier mit einem Hechtsprung über die Kriegerin fegte. Verkrampft aufzuckend sackte die Wölfin plötzlich hinter Iva zusammen. In dem verschwindend geringen Augenblick, bevor sie sich elegant zur Seite rollte, hatte es die Seelenlose tatsächlich zustande gebracht, der Wölfin einen lebensgefährlichen Stoß gegen den Kehlkopf zu verpassen. Das Tier hatte von Anfang an nicht die geringste Chance gehabt.
Mit eiskaltem Blick schritt die Kriegerin auf die winselnde Wölfin zu. Das Tier in den Würgegriff nehmend, heftete sich die Seelenlose mit beiden Beinen um den Körper der Wölfin. Diese versuchte mit aller Kraft ihrem Griff zu entkommen. Immer mehr schnürte die Kriegerin dem Tier die Luft ab, bis es nicht mehr in der Lage war, sich zu wehren. Es bangte nun um sein Leben. Das wilde Zucken wurde immer schwächer und hörte völlig auf, als die Seelenlose der Wölfin die Kehle mit der scharfen Klinge aufriss.
Eine dunkelrote Blutlache breitete sich unter dem Tier aus und saugte sich in das weiße Fell. Warmes Blut legte sich auch über Ivas Hände. Die Anspannung in ihren Gliedmaßen löste sich allmählich, während das Schwert in ihrer Hand wie durch Zauberhand verschwand. Zaria's Durst war gestillt. Fragte sich nur, für wie lange.
Noch eine ganze Weile lag die Kriegerin, die Wölfin umklammernd, auf dem feuchten Boden. Ihre langen, blauen Haare hatten sich zerzaust um sie und das Tier ausgebreitet. Kleine Blätter waren in den Haarspitzen verfangen. Betrübt vergrub die Seelenlose ihr Gesicht im Nacken der Wölfin. Dabei nahm sie den herben Geruch des Wolfsfells wahr. Wie gern würde sie, dass alles vergessen, einfach alles aus dem Gedächtnis löschen. Iva versuchte der Situation zu entfliehen. Ihr Blick ging ins Leere, während sie zurückdachte, an damals, als alles begann. Als sie zur Seelenlosen wurde. Damals, als sie dem Nachthofe ewige Treue geschworen hatte.
Zu jener Zeit hatte der gnadenlose Krieg etliche Seelen ins Jenseits befördert. Jedoch beförderte Zaria um einiges mehr in ihr persönliches Reich. Davon überzeugen konnte sich Iva jede Nacht höchstpersönlich. Sie war dem Wahnsinn nahe. Verkrustetes Blut toter Seelen klebte an ihr. An ihrer Seele. Sie konnte nicht essen, nicht schlafen. Sie wollte inneren Frieden. Wollte nicht all den Toten Nacht für Nacht aufs Neue in ihren Träumen wiederbegegnen. In ihre leeren Augen blicken.
Einmal schlafen. Wann hatte sie zuletzt mal richtig geschlafen? Sie konnte die Frage nicht beantworten. Äußerlich war Iva die glorreiche Siegerin des ganzen Irrsinns. Innerlich war die Kriegerin am Ende ihrer Kräfte. Sie dachte auch an Noor, die alte Moorhexe. Dachte an die Irrlichter, welche sie damals zu den ewigen Sümpfen ins Tal der fünf Moorhügel geführt hatten. Ein dichter hartnäckiger Nebel erschwerte ihr damals die Suche. Der Boden unter ihren Füßen war schwammig und pappig. Ein erdrückend modriger Gestank veranlasste die Seelenlose, langsamer und flacher zu atmen. Die Bäume, die den Sumpf umgaben waren alle samt kahl, die Gräser welk und faulig. Immer wieder kreiste lästig eine Schar Mücken um die Seelenlose. Abwehrend schlug Iva mit den Armen um sich.
Dieser Ort hatte etwas Vernichtendes.
Schließlich schloss sich der Nebel um das Glimmen der Irrlichter und erstickte ihren Schein. Die Seelenlose war am Ziel. Sie betrachtete den Sumpf der fünf Moorhügel, der vor ihr lag. An der Oberfläche bildeten sich blubbernd kleine Blasen, die im selben Augenblick ineinander zerplatzten. Dampf stieg empor und legte sich in Form eines trüben Schleiers über das Sumpfgebiet.
Leise flüsterte Iva: „Noor aus dem Moor, komme hervor. Schau in meine Augen, sag mir was ich tauge."
Es geschah nichts. Iva wiederholte etwas lauter in den Sumpf hineinsprechend: „Noor aus dem Moor, komme hervor. Schau in meine Augen, sag mir was ich tauge."
Ein Schauer überlief Ivas ganzen Körper, als sie aus dem bräunlich grünen Sumpf zwischen all dem Blubbern und dem Nebeldunst zwei leuchtend grüne Augen fixierten. Ertappt schwebte das Wesen aus dem Moor empor. Der Schlamm perlte glitschig von der Gestalt ab und tropfte ihre nackten Füße herunter. Noor.
Ihr langes rotes Haar schmiegte sich um ihren Körper. Ein dunkelgrünes Kleid aus hauchdünnem Stoff, mit langen Ärmeln und einem tiefgeschnittenem Dekolleté umschmeichelte ihre makellose, milchige Haut. Ein Tattoo in roter Farbe mit sonderbaren Symbolen stach einem sofort ins Auge. Es lief ihren langen Hals entlang und ergänzte sich mit ihren knallroten Lippen zu einem Ganzen. Eine Krone aus Dornen, besetzt mit grauen Steinsplittern, zierte die Stirn der Moorhexe. Beim Anblick der trüben, giftgrünen Augen flammte Ehrfurcht in Iva auf.
Noor erwiderte Ivas Blick und sprach sanft und klar zu ihr: „Iva die Seelenlose, ich habe dich bereits erwartet."
Sie glitt ihr entgegen, ohne mit den Füßen die Oberfläche des Sumpfes zu berühren, und streckte beide Arme nach der Kriegerin aus. Der Blick der Seelenlosen fiel sofort auf Noors Hände. Im Gegensatz zu ihrem makellosen Gesicht und Körper waren ihre zittrigen Hände mit den blau hervortretenden Adern und langen gelblichen Fingernägeln, die einer alten Frau.
Iva machte es Noor gleich und streckte der Hexe beide Hände entgegen. Erst berührten sich ihre Handflächen, anschließend verschränkten sich ihre Finger ineinander. Diese intime Nähe ließ die Kriegerin mit einem Mal versteifen. Nervös schluckte sie, als Noor leicht ihren roten Mund öffnete und dabei Ivas Hals gefährlich nah kam. Die Kriegerin fühlte die kalten Lippen der Hexe auf ihrer Haut. Vernahm ihre begehrlichen Atemzüge, bevor sich sie mit ihren scharfen Eckzähnen in Ivas Hals festbiss. Trotz des intensiven Schmerzes versuchte Iva, sich nichts anmerken zu lassen. Währenddessen umfuhr Noor mit ihrer Zunge die Bissstelle mit kreisenden Bewegungen und saugte lustvoll daran, während ihre Kehle ein genüsslicher Seufzer entrang. Die Kriegerin ließ die Prozedur über sich ergehen, bis die Hexe sich selbst von ihr löste.
Mit der Zunge umfuhr Noor sich nochmal die blutigen Lippen, dabei durchbohrte sie Iva mit ihren Angsteinflößenden Augen, während ihre Hände das Gesicht des Mädchens liebkosten. Ihre Hände ... Die Kriegerin konnte beobachten, wie die Hände der Hexe sich vor ihren Augen wandelten. Die schrumpelige alte Haut glättete sich. Sinnliche jugendliche Hände hielten Ivas Gesicht nun umschlossen. Die Hexe presste plötzlich ihre Stirn gegen Ivas und verschlang sie mit ihren sonderbar nach oben stierenden Augen.
„Mein armes Kind, komm zu mir", hauchte sie.
Unerwartet verspürte Iva eine Gemütsregung in sich. Eine Gemütsregung, von welcher sie gedacht hatte, sie wäre für immer tief in ihrem Innern verschollen. Innerer Frieden mit sich selbst, nach dem sie sich schon so lange sehnte, erfüllte sie und ließ sie zum ersten Mal seit Langem aufatmen. Aus genau diesem Grund hatte sie Noor aufgesucht.
Iva fiel es immer schwerer, die Augenlider offenzuhalten, es fühlte sich plötzlich so mühselig an. Die Kriegerin wehrte sich nicht gegen das Schlafbedürfnis, im Gegenteil, sie hieß es willkommen.
Iva erinnerte sich weiter, wie sie damals benommen ihre Augen wieder geöffnet hatte. Wie sie sich ausgeruht im Schoß von Noor wiederfand. Die Kriegerin wollte sich aufrichten, als sie erschrocken feststellte, dass kein Boden unter ihr war. Sie schwebten über dem Sumpf. Noor beruhigte sie mit einem besänftigendem hin- und herwiegen. Wie eine Mutter ihr unruhiges Kind liebkoste Noor die Kriegerin. Die Seelenlose ließ sich widerstandslos zurück in den Schoß der Hexe senken. Am liebsten wäre sie für immer bei ihr geblieben. Dieses Gefühl von Unbekümmertheit wollte sie nicht missen.
„Wie lange habe ich geschlafen?", flüsterte Iva, und blickte ehrfürchtig zu Noor auf.
„Eine Weile", antwortete die Hexe ins Weite blickend.
Gedanklich stellte sich Iva gerade eine Frage, als die Moorhexe sich plötzlich zu dem Mädchen beugte und ihr leise antwortete: „Die Zeit der Erlösung ist nah und doch fern. Am Tag, wenn der blaue und der weiße Mond in voller Pracht erleuchten, da wird es da sein. Wird auf dich warten, im Wald des Schattenreiches. Rein und wahrhaftig."
„Es? Die Erlösung?", fragte Iva hoffnungsvoll.
„Dein Ich", hauchte Noor kaum wahrnehmbar.
Auf wackeligen Beinen fand sich Iva plötzlich auf dem Boden wieder. An derselben Stelle, an welcher sie vorher die trüben Augen von Noor entdeckt hatte. Die Moorhexe schwebte zurück in den Sumpf. Allmählich verschwand sie unter dem grünbraunen Schlamm.
„Mein Ich? Noor, ich verstehe nicht! Bitte bleib!"
Noor musterte sie stumm, während der Schlamm ihre Schultern bedeckte.
„Worauf wartet mein Ich dort im Walde?", rief Iva ihr schließlich zu, während der Schlamm das Kinn der Hexe bedeckte.
„Auf dich", antwortete Noor, die Augen schließend, bevor sie komplett im Moor versank. Ein dichter Nebel bildete sich statt ihrer an jenem Fleck.
Das ergibt doch keinen Sinn ...
Iva löste sich aus den Erinnerungen, fand sich bei der toten Wölfin wieder.
Benommen und mit hängenden Schultern richtete sich die Kriegerin vor der toten Wölfin auf. Sie versuchte, so gut es möglich war, ihren Opfern, wenn sie sich ihrer entledigte, nicht in die Augen zu blicken. Sie ertrug die todgeweihten Blicke schon lange nicht mehr.
Erst jetzt wagte sie einen Blick, in die leblos ins Nichts starrenden Augen. Der Kriegerin war bewusst, die Seele der Wölfin gehörte von nun an Zaria. Das schlechte Gewissen nagte an ihr wie an einem alten Knochen. Da war er, Ivas Fluch. Sie verabscheute ihn genauso sehr, wie sich selbst.
Ich habe dem Kleinen die Mutter genommen.
Sie ballte beide Hände zu Fäusten. Betrachtete flüchtig die Höhle, in der sich der Welpe verkrochen hatte. Sie hatte den Wölfen nichts Böses gewollt. Wirklich. Sie wollte doch nur aus der Ferne die schönen Tiere betrachten. Am Ende hatte sie nichts mit sich gebracht als den Tod.
Ohne seine Mutter war der Kleine so gut wie tot. Traurig entfernte Iva sich von dem Ort.
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