Kapitel 43 - Das Schulreferat
Verwirrung machte sich in mir breit. Was genau meinte Alex? Er musterte den Spiegel erneut und schien aufgeregt zu sein.
„Ja, ganz bestimmt." Ein ungläubiges Lächeln huschte über seine Lippen. „Es muss derselbe Stein sein." Erstaunt sah er auf. „Hey!", rief er den Männern nach, wobei seine Stimme überschnappte.
Keine Reaktion von deren Seite.
„Hey! Jetzt wartet Mal!"
Ich wischte mir die Tränen aus meinem Gesicht und beobachtete das Geschehen, ohne begreifen zu können, was gerade geschieht.
Jack und Areas, die gerade um die Ecke biegen wollten, machten Halt und drehten sich zögerlich um. Sie trauten wohl auch ihren Ohren nicht.
„Ich habe meine Meinung geändert", verkündete Alex mit kräftiger Stimme. Er trat einen Schritt zur Seite und deutete mit zur Seite neigendem Kopf auf die sperrangelweit geöffnete Tür. „Ich würde vorschlagen, dass wir alles Weitere drinnen klären."
Die Angesprochenen tauschten skeptische Blicke aus und machten kehrt.
„Warum dieser plötzliche Sinneswandel?", presste Jack zwischen den Zähnen hervor, als uns nur ein paar Meter trennten. Sein Kiefer zuckte gereizt und kurz sah es aus, als wäre seine Augenfarbe ins Gelbe gewechselt.
Ich hoffte nur eins, dass Jack seine Nerven beisammen behielt und Alex seine hässliche Seite heute nicht zu Gesicht bekam. Areas hatte wohl dieselbe Sorge, denn plötzlich packte dieser mit strenger Miene den temperamentvollen Blauen am Oberarm und drosselte ihn so in seiner Bewegung. Jack sah ihn stinksauer an, während Areas ihm etwas sagte, was für unsere Ohren im Verborgenen blieb.
Mit einem kräftigen Ruck entzog sich Jack seinem Griff und wand sich mit bitterernstem Gesicht an uns: „Ich bin kein scheiß Köter, der Sitz und Platz macht, sobald man ihm ein Leckerli in das Maul stopft!"
„Versau es jetzt nicht, Jacques!", appellierte Areas an ihn.
Der Blaue schnaubte frustriert. Seine tobenden Augen fixierte die Waffe in Alex Händen. Dann warf er einen Schulterblick zu Areas: „Es kann auch eine Falle sein! Schon daran gedacht?"
Areas blieb die Ruhe selbst: „Wir werden es wohl herausfinden müssen."
„Aber ja, lass es uns herausfinden", sprach Jack mit gepresster Stimme und wagte einen Schritt auf die erste Stufe zur Veranda. „Ich muss schon zugeben, dieser Kick weggepustet zu werden, hat schon etwas Reizvolles. Wäre es dennoch möglich das Gewehr viell... "
„Vorerst nicht!", viel Alex ihm ins Wort. „Keine Sorge. Euch passiert nichts, solange ich keinen Grund dafür sehe."
„Wow! Das ändert natürlich alles." Der Blaue strich sich mit der flachen Hand über den Kopf. „Jetzt fühle ich mich gleich viel besser." Unzufriedenheit dominierte Jack sein Gemüt, als er sich schließlich einen Ruck gab und über die Türschwelle trat. Areas folgte ihm wortlos.
„Herzallerliebst deine Familie", nörgelte Jack beim Vorbeigehen an mir. „Herzallerliebst."
Auf Alex Anweisung hin gingen wir ins Wohnzimmer. Dort forderte er unsere Gäste auf, sich zu setzen. Während Jack sich, wie ein Sack Kartoffeln, nach einem schweren Arbeitstag seufzend auf das Sofa fallen ließ, blieb Areas neben ihm stehen und beobachtete Alex und sein Gewehr mit ernst zusammengezogenen Augenbrauen. Schließlich ließ auch er sich etwas versteift neben Jack nieder. Erst dann setzte sich Alex gegenüber von ihnen, in seinen Lieblingssessel - einen braunen abgenutzten Ledersessel. Das Gewehr griffbereit neben sich. Ich dagegen wollte nicht sitzen, denn ich war zu aufgeregt und hätte keine Sekunde meine Nervosität in Schach halten können. Deshalb lehnte ich mich lieber hinter Alex am Sesselrücken an, um von mir abzulenken.
Unbehagliche Stille erfüllte den Raum, während wir einander anstarrten, bis Jack die Stille brach: „Also dieser Jugendliche Touch steht ihnen wirklich gut", schmeichelte er meinem Ex Dad.
Da begriff ich, dass Alex ihnen sein wahres Ich offenbart hatte.
„Wie alt sind sie denn?"
Kurz zögerte er. Verriet es dann aber doch: „Zweihundertsechsundfünfzig."
„Ganz schön alt", meinte Jack und stupste Areas mit dem Ellbogen leicht an: „Und ich dachte, du wärst ein alter Sack. Ich nehme alles zurück, Ari."
Alex packte die Neugier: „Wie alt seit ihr?"
„Wie alt bist du nochmal?", erkundigte sich Jack bei seinem Freund. „Hundertneununddreißig oder?"
Areas verschränkte die Arme vor der Brust. „Das war vor zwei Jahren."
„Ah stimmt. Sorry, da kann man schonmal durcheinanderkommen bei den vielen Zahlen. Areas ist hunderteinundvierzig. Ich dagegen bin noch ein Baby mit meinen vierundzwanzig", scherzte er.
Alex war nicht nach Lachen: „Wirklich? Vierundzwanzig?"
„Glaubst du mir nicht? Oh verdammt, ich darf doch du sagen? Dein Aussehen irritiert mich."
„Ich sehe darin kein Problem. Tu es ruhig."
„Gut."
„Ich dachte auch du wärst mindestens Hundert", erlaubte ich mir zu sagen. „Irgendwie sind hier alle etwas älter."
Jacks Mundwinkel zuckten, kaum bemerkbar: „Etwas? Steinalt trifft es besser. Ich enttäusche euch ungern. Ich bin vierundzwanzig. Aber wir Blaublütigen altern ab zwanzig auch langsamer, sowie ihr. Mal sehen, vielleicht sehe ich mit Hundert genauso so aus wie jetzt und kann weiterhin den Schüler von nebenan spielen."
„Gibt es noch mehr Blaue hier?"
Auf Jacks Stirn bildete sich zwischen den Augenbrauen eine kleine Falte. Dann beugte er seinen Oberkörper nach vorne, stützte seine Unterarme auf den Oberschenkeln ab und faltete dabei die Hände. Mit undurchschaubarer Miene antwortete er: „Sogar wenn, würde ich es euch nicht verraten."
Wieder diese peinliche Stille. Alex verspannte Schultern, verrieten geradezu seine Anspannung.
Jacks Falte glättete sich und er rollte genervt mit den Augen. „In New York, da komme ich übrigens her, kannte ich außer meinen Eltern und meiner Granny niemanden mit blauem Blut. Zufrieden?"
„Du kanntest? Warum sprichst du von ihnen in der Vergangenheit?"
„Weil sie alle tot sind", schnaubte er.
„Jack! Das tut mir wirklich leid ", drückte ich mein Mitleid aus.
Ohne ein Fünkchen Mitgefühl preiszugeben, quetschte Alex den Blauen weiter aus: „Was war passiert?"
Jack Augen verengten sich und er verzog verächtlich die Mundwinkel. „Vampire."
Verwundert fragte Alex: „Warum habt ihr euch auf Vampire eingelassen?"
Der Blaue schnaubte genervt. „Sehe ich aus wie ein Orakel? Keine Ahnung! Fragt meine Eltern!", motzte er und senkte den Kopf. „Ah ja, geht ja gar nicht, sie sind tot." Der Blaue erhob seinen Kopf und gestand ganz überraschend mit leiserer Stimme: „Das war meine Schuld."
Mit einem großen Fragezeichen im Gesicht sah ich ihn an.
„Ich bin schuld an all dem Dilemma. Hätte ich doch dieses dämliche Referat nie gehalten."
„Was für ein Referat, Jack?"
Er nahm einen tiefen Atemzug und erinnerte sich: „Im Geografie, da ging es damals um Natursteine und Edelsteine. Der Lehrer zeigte uns auf Bildern verschiedenfarbige Steine. Einer davon war ein Mondstein. Er war ungeschliffen und sah genauso aus wie der Stein von meiner Granny."
„Moment! Deine Oma hatte einen Mondstein?", unterbrach ich ihn.
„Betonung auf hatte." Er fuhr fort: „Der Lehrer fragte, wer vielleicht seine Note verbessern will und einen Vortrag über einen Stein seiner Wahl halten will. Das Thema hatte mich interessiert und na ja der beste war ich in dem Fach noch nie. Deshalb meldete ich mich freiwillig und erstellte ein Referat über den Mondstein. Um für Extrapunkte zu sorgen, nahm ich, ohne um Erlaubnis zu fragen, Grannys Stein mit in die Schule. Ich wusste, sie hätte es mir nie erlaubt. Dass der Stein für uns Blaue essenziell war, davon wusste ich nichts. Meine Mutter wollte mir meine Kindheit bewahren. Ich sollte es besser haben, als sie einst. Sie wollte, dass ich es erst erfahre, wenn ich achtzehn bin. Deshalb wusste ich von nichts. Ich dachte, der Stein wäre so wertvoll, weil es ein Erbstück war. Er gehörte einst meinem Uropa, der wiederum hatte es von seinem Vater und so wurde dieser von Generation zu Generation weiter gegeben." Er stockte, saammelte sich. „Sie hatten mir nicht einmal erzählt, dass der Stein aus Tauris war! Dass unsere Vorfahren aus einer Parallelwelt stammen." Es klang wie Kritik an seiner Familie.
„Und dann?", flüsterte ich.
„Ich bekam eine Eins. Alles war perfekt, bis ich meine Tasche zu Hause auspackte. Der Stein war nicht mehr da. Ich blieb entspannt, dachte ich hätte ihn in der Schule vergessen. Damals war es mir einfach nicht bewusst, was ich damit angerichtet hatte. Am nächsten Tag jedoch breitete sich allmählich Panik in mir aus. Ich konnte den Stein nicht finden. Er war tatsächlich weg. Jemand musste ihn mir gestohlen haben, anders konnte ich es mir nicht erkälten. Ich weiß noch, wie ich nach Hause ging und mir überlegte, wie ich es am schonendsten Granny erkläre. Da verspürte ich zum ersten Mal ein merkwürdiges Gefühl. Nie zuvor hatte ich so etwas verspürt. Es ist schwer zu beschreiben, als würde einem etwas fehlen, aber man weiß nicht, was einem fehlt. Man kommt nicht zur Ruhe. Wie auf Entzug, wenn ihr versteht, was ich meine. So irgendwie fühlte es sich an. Kurz darauf bekam ich einen trockenen Hals und furchtbaren Durst." Er schmunzelte. „Zumindest empfand ich es als furchtbar. Jetzt kann ich damit mehrere Wochen auskommen. Na ja, jedenfalls wollte dieses Durstgefühl nicht verschwinden." Jack streckte sein Kinn und kratzte sich am Hals. „Als ich dann zu Hause ankam, folgte das Erwachen. Meine Familie lief planlos durch das Haus und suchte verzweifelt das ganze Haus nach dem Stein ab. Granny schrie, dass sie den Stein nicht wahrnimmt. Mutter weinte, wollte es ihr nicht glauben und suchte weiter vergebens nach ihm. Da realisierte ich zum ersten Mal was für eine Scheiße ich uns eingebrockt hatte."
Jack fummelte nervös an seinen Fingern herum: "Ich beichtete natürlich alles. War nicht schön und führte zu noch mehr Chaos. Nachts waren meine Eltern dann in die Schule geschlichen. Doch sie nahmen den Stein nicht wahr, denn ihre Beschwerden wurden nicht besser. Einen Tag später hatte mein Vater eine Anzeige mit einem riesigen Finderlohn aufgesetzt. Es meldete sich aber niemand. Uns allen ging es immer schlechter. Ich dachte, ich verdurste und trank übermäßig viel Wasser. Es half nicht. Von Tag zu Tag wurde es unerträglicher. Ich glaube ab dem zweiten Tag begann auch das mit den Gerüchen. Ich fühlte mich plötzlich zu bestimmten Personen, die ich noch nie im Leben gesehen habe, hingezogen und es spielte keine Rolle, wie alt sie waren oder welches Geschlecht sie hatten. Sie rochen allesamt verführerisch gut. Ich wollte in ihrer Nähe sein. Fazit - ab da war die Schule für mich tabu. Laut meiner Mutter war ich eine Gefahr für mich, meine Familie und meine Mitmenschen."
Jacks Miene verfinsterte sich immer mehr. "Irgendwann entschied sich aber meine ah so anständige Familie ihren Instinkten nachzugeben und sie verrieten mir, warum es mich zu diesen Menschen zog. Das muss ich euch ja nicht nocheinmal erzählen."
Der Blaue senkte den Kopf und kratzte sich an der Nase: „Vater hatte einen von der Straße mitgebracht, da war ich elf. Unser erster. Thomas. Er war siebzehn. Seine Mutter hatte ihn wegen seiner Drogensucht nicht mehr nach Hause gelassen. Wer kann es ihr verübeln. Er bestahl und bedrohte sie. Mein Vater versprach ihm, wenn er uns alle von seinem Blut die nächste Zeit trinken lässt gutes Geld. Meine Mutter weinte, weigerte sich, Menschenblut zu trinken. Doch am Ende konnte keiner von uns widerstehen. Da habe ich mich zum ersten Mal verwandelt. Habe zugesehen, wie meine Eltern zu Blauen wurden. Ab da war meine schöne heile Welt nicht mehr so heil." Er grinste.
Warum grinste er?
Er nahm erneut einen tiefen Atemzug: „So sicherten wir uns ungefähr ein Jahr lang das Überleben, bis Thomas an einer Überdosis starb. Ich glaube das viele Geld hat ihm nicht gut getan." Jack seufzte: „Thomas wurde ersetzt. Aber es wurde immer schwieriger, eine willige, unberührte Person zu finden und dabei nicht aufzufallen. Granny erzählte uns, dass wohl früher, laut Erzählung meines Uropas einige Blauen, die keinen Mondstein aus Taurius in dieser Welt besaßen, sich auf Vampire einließen."
Plötzlich klatschte er dynamisch in die Hände, sodass ich erschrocken zusammenzuckte: „Vampire? What the fuck! Dachte ich mir damals. Verdammt es gibt Vampire? Kennt ihr das Gefühl? Ihr seid selbst anders aber glaubt nicht an Vampire."
„Ich weiß, das ist so surreal ", bestätigte ich Jack seine Worte.
„Ja! Und noch krasser war, mein Vater konnte tatsächlich einen ausfindig machen. Der Mistkerl gehörte einer Vampirclique an. Letztendlich schloss meine Familie mit den Arschlöchern eine Vereinbarung." Er schüttelte ratlos den Kopf.
„Was hattet ihr von der Vereinbarung?", überlegte ich.
„Ich sage es euch. Es ist wie in diesen Filmen. Vampire können Menschen manipulieren. Ihnen ihren Willen aufzwingen. Versteht ihr, worauf ich hinaus will? Es vereinfachte vieles für uns. Das Blut einer braven Einserschülerin war jedenfalls um einiges besser, als das eines Junkies."
Angewidert von seinen Worten, drehte ich meinen Kopf kurz zur Seite.
„Und was sprang für die Vampire dabei heraus?" Wollte Alex wissen.
„Geld."
„Geld?", fragte ich verdutzt.
Jack nickte zaghaft. „Geld regiert die Welt. Vampire wollen auch ein schönes Leben. Und meine Eltern besaßen reichlich Geld. Das wussten die Biester. Nach jedem vergangenen Jahr verlangten sie mehr für ihre Dienste. Wir wurden ausgebeutet. Es blieb kaum Geld zum Leben übrig. Meine Eltern waren kurz davor alles zu verlieren, was sie sich hart erarbeitet hatten. Zudem konnten wir es nicht mehr mit unserem Gewissen vereinbaren. Im Gegensatz zu uns töten sie ihre Opfer. Das wussten wir und wir haben nichts dagegen unternommen.
Meine Eltern und Granny konnten so nicht mehr weiter machen, sie wollten aussteigen. Lange Geschichte, kurzer Sinn - paar Wochen später nach der Schule", er nahm einen tiefen, zitternden Atemzug, „fand ich meine Eltern im Wohnzimmer ermordet vor."
Mir stockte der Atem. „Wie furchtbar", flüsterte ich. „Und deine Oma?"
„Granny?" In seinen Augen lag Schmerz und doch war da ein zartes Lächeln auf seinen Lippen .„Ich habe sie nie mehr gesehen."
„Und du bist dir sicher, das es Vampire waren?", hinterfragte Alex.
„Das Fleisch wurde ihnen von den Kehlen gerissen. Ihre Köpfe hingen an ein paar losen Fäden. Da war kein Blut. Keine Blutlache. Ganz klar rachsüchtige Vampire", zischte er.
Entsetzt darüber hielt ich mir die Hand vor den Mund.
„Wie lange ist es her?", wollte Alex wissen.
„Zehn Jahre."
„Du warst noch sehr jung. Noch ein Kind. Dein Verlust tut mir leid", bekundete Alex sein Beileid.
Jack lächelte wieder zaghaft und spielte nervös mit seinen Händen.
Ich sah ihn an und kämpfte mit den Tränen. Erzählte er die Wahrheit? Konnte man sich derartiges überhaupt ausdenken? Sein schreckliche Verlust. Die Schuldgefühle, die ihn sicher plagten. Wie hielt er all das aus? Immer dieses Fröhliche. Diese blöden Witze. Die gute Laune. Vielleicht ein Schutzmechanismus? Er tat mir einfach nur noch leid. Trotz allem was er Liam, mir und den Menschen angetan hatte, sah ich immer weniger von dem Monster in ihm, welches ich geglaubt hatte zu sehen. Stattdessen war da dieser kleine Junge vor meinem bildlichen Auge, der Mist gebaut hatte und nun dafür bitter zahlte.
Jack setzte wieder sein Pokerface auf, grinste frech:„Aber genug jetzt von mir. Was ist mit euch? Welche Familiengeheimnisse habt ihr?"
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