Kapitel 4 - Zaria
Der Halbblütige war freudig erregt, weil er die Gabe nun endlich beherrschte. Nur durch die Kraft seiner Gedanken kontrollierte er den Wald. Elvar fühlte sich unbezwingbar.
Er musterte die Seelenlose. Am liebsten hätte er die Gelegenheit genutzt und Noria sofort gerächt. Vielleicht würde es ihm inneren Frieden verschaffen. Vielleicht bekäme sein Leben einen Sinn. Er würde die Seelenlose qualvoll sterben lassen, das mit Sicherheit. Es sollte langsam passieren. Jeden einzelnen Moment ihres Leidens wollte er auskosten. Er war so nah dran, sein Vorhaben zu verwirklichen. Wäre da nicht dieses eine klitzekleine Problem - der Abhängigkeitsfluch.
Elvar schnaufte frustriert, während er aus nächster Nähe zusah, wie die Kriegerin sich zappelnd zu befreien versuchte. Zwecklos. Ihre Tunika war ihr über Arme und Kopf gerutscht. Der Stoff bedeckte ihr gesamtes Blickfeld und gab mehr von ihrem Körper preis als Elvar lieb war.
„Um dich kümmere ich mich gleich", drohte er, das Gesicht schmerzerfüllt verkrampft.
Die Wunde, welche die Seelenlose ihm zugefügt hatte, meldete sich jäh, nun, da er zur Ruhe kam. Schnell erkannte Elvar den Grund dafür. Der Stoff seines Leinenhemdes haftete fest an der Verletzung. Gegen einen Baum gestützt, zog Elvar das grobe Leinengewebe vorsichtig von der Wunde. Dass sich dabei auch die Blutkruste loste, die sich schon gebildet hatte, war unvermeidbar. Erneut fing die Wunde an zu bluten. Elvars Körper versteifte sich. Er streifte sich die Überreste seines Gewands vom Leib und riss sich mit Hilfe seiner Zähne ein einiger Massen sauberes Stück davon zurecht. Der Halbblütige schaute sich suchend um und entdeckte schnell, was ihm noch fehlte.
„Ein Lordanusstrauch", krächzte er, sich vom Boden hochziehend.
Er ging auf einen unscheinbaren Strauch mit den braunen, feinen Blättern zu. Elvar wusste, dieser Strauch wuchs praktisch in jedem Wald. Für Unwissende nur ein Unkraut, doch es hatte eine heilsame Wirkung. Lordanus säuberte Wunden, wirkte schmerzlindernd und förderte die Heilung. Noria hatte zu ihren Lebzeiten viel über Pflanzenheilkunde gewusst und all ihr Wissen an Elvar weitergegeben.
Der Halbblütige zupfte eine Handvoll Blätter ab und rezitierte die Worte von Noria, welche ihm ihr Wissen einst spielerisch vermittelt hatte: „Kriegst du eine auf die Nuss, hol dir ein Lordanuskuss."
Behutsam legte er die Blätter mit der fein haarigen Oberfläche über die Wunde und machte sich aus dem zurechtgelegten Stoff einen festen Verband.
„Und schon sieht die Welt ganz anders aus", sagte er zu sich selbst, den linken Arm leicht hin und her kreisend.
Nun konnte er sich voll und ganz der Seelenlosen widmen. Iva war seine Beute und, nein, es war kein Traum, der Halbblütige musste sich das immer wieder vor Augen führen. Nur so von Selbstgefälligkeit strotzend, stand er mit ineinander verschränkten Armen unter ihr.
„Wie ist die Luft da oben?", fragte er spöttisch.
Die Seelenlose krächzte zappelnd, versuchte weiterhin, gegen die Fesseln anzukämpfen. Vergeblich. Elvar überkam der Wunsch, seinen Fang genauer zu begutachten. Sofort senkten sich die aus der Erde hervortretenden Wurzeln samt der Kriegerin näher Richtung Boden. Näher zu ihm.
Sein Blick glitt über die nackten Stellen ihres freien Oberkörpers. Der Boden knirschte leise, als er um sie herumging. Die Seelenlose hörte sofort auf zu zappeln und verstummte, während Elvar neugierig ihre Gestalt in Augenschein nahm.
Ihre Haut war blass, nichts Ungewöhnliches für jemanden aus dem Schattenreich. Doch was ihn verblüffte, war die Tatsache, dass ihre Haut keinerlei Spuren der Kämpfe und Kriege aufwies, für die sie so berühmt war. Keine Narben, keine Wunden, nichts desgleichen. Nicht einmal Schutzkleidung schien sie für angebracht zu halten. Doch etwas irritierte das Halbblut noch mehr: Ihr Körper war ausgemagert und von Hunger gezeichnet. Sie war in kaum besserer Verfassung als er. Ihr Schlüsselbein stach hervor. Er hätte jede einzelne Rippe an ihr zählen können. Fragend schweifte sein Blick über ihre kaum sichtbar gewölbte Oberweite. Sie hatte keinerlei weibliche Rundungen.
Beschämt verspürte er den Wusch, sie zu berühren. Die Vorstellung ließ ihn nicht los und verdrängte die Hochstimmung, welche er empfand. Er verfluchte seine missliche Lage, seine Gedanken und das plötzliche Mitleid mit der Mörderin von Noria. Aus Not ließ er eine weitere Wurzel gezielt aus der Erde hervortreten. Diese rankte sich samt dem lose hängenden Stoff ihrer Kleidung um den Körper der jungen Frau. Ihr Oberkörper war endlich keine Ablenkung mehr. Stattdessen kam nun ihr rot angelaufenes Gesicht zum Vorschein.
„Schon viel besser, oder?", sagte er und hockte sich lässig neben ihr auf den Boden. „Du hast den Körper eines Knaben, weißt du das? Dieser Anblick war eine Zumutung", spottete er kühl und rümpfte angewidert die Nase.
Die Seelenlose stierte hasserfüllt zurück. Eine dicke Ader bildete sich auf ihrer Stirn. Erst jetzt bemerkte er die dunklen Schatten unter ihren Augen, sah die herausstechenden Wangenknochen. Ihr Gesicht wirkte müde und fahl, selbst die kleinen Mondsprossen, welche um ihre Nase silbrig schimmerten, konnten nicht davon ablenken. Doch beim Blick in ihre türkisfarbigen Augen kamen erneut Gefühle in dem Halbblütigem hoch. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Ich werde dich töten", sagte er leise.
Unerwartet tauchte das Schwert Zaria unter ihr auf.
„Hör auf zu reden. Tu es!", zischte Iva.
Ehrfürchtig trat Elvar näher. Das berühmteste und mächtigste Waffe von ganz Taurius lag unbeschützt unter der kopfüber hängenden Kriegerin, am Boden.
„Tu es, na los", wiederholte sie provozierend.
Sie wusste doch so gut wie er, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war. Wollte die Seelenlose ihn lächerlich machen? Warum sonst sollte sie ihm das Schwert aufschwatzen?
„Hör auf, mir zu sagen, was ich tun soll!"
Zornig brachte er die Wurzeln dazu, sich fester um Ivas Hände und Körper zu schlängeln.
„Hör auf!", kreischte sie vor Schmerz auf.
Er konnte ihr Leid spüren und hörte abrupt auf.
Verflixter Fluch!
Ohne Sinn und Verstand griff Elvar schließlich nach dem Schwert. Zog es schleifend von der Seelenlosen weg und erhob es schließlich mit einer Leichtigkeit, die ihn ins Erstaunen versetzte. Das Schwert wirkte schwer und massiv. Dennoch, in seiner Hand war es überraschend leicht. Der Griff war sehr handlich. Das Kreuz des Schwertes war versetzt mit Türkis und Perlmutt, welche in prachtvollem Farbspiel harmonisch aufeinander abgestimmt waren. Eine feine Gravur in der Mitte der Schneide stach ihm ins Auge. Es hieße, das Schwert sei so alt wie die Welt. Doch die Klinge wies keinerlei Gebrauchsspuren auf. Sanft glitt er mit den Fingerkuppen über die Klinge, spürte die Einkerbungen der unbekannten, schwungvoll gestalteten Schrift.
Es war die beste Schmiedearbeit, die er je gesehen hatte. Elvar fragte sich, wer wohl der Schmied gewesen war, als ihm mit einem Schlag bewusst wurde, dass er hier eine Waffe bewunderte, die Noria unwiderruflich das Leben genommen hatte. Schmerzerfüllt zog er seine Brauen zusammen.
„Ich will dich leiden sehen", flüsterte er.
Jedoch musste Elvar sich zum wiederholten Male vor Augen führen, dass er nicht dazu fähig war.
Komm schon, sie hat Noria auf dem Gewissen! Na los! Tu es!
Elvar zwang sich dazu, das Schwert auf sie zu richten. Er kämpfte mit sich selbst. Mit seinem Geist, seinem Willen, dem verdammten Fluch.
Er wollte es nicht wahrhaben und dennoch war es eine Tatsache: Elvar war dem Fluch erlegen. Die Seelenlose hing wehrlos vor seiner Nase, ohne jede Regung, und er stand tatenlos vor ihr, mit der wohl mächtigsten Waffe der Welt in seiner Hand.
„Jetzt oder nie, schneide Ihr die Kehle durch", hörte er sich leise murmeln.
Ich werde dich rächen, dein Tod war nicht umsonst, fügte er in Gedanken hinzu. Er versuchte, gegen den Fluch anzukommen. Er wollte es erzwingen, sie töten.
„Worauf wartest du?", spornte die Seelenlose ihn erneut an.
„Ich kann nicht!", brüllte er zornig und gab auf. Machtlos fiel Elvar auf die Knie und starrte zu der kopfüber hängenden Kriegerin.
„Auf ewig verdammt ist mein Geist. Mein Schicksal in Eisen gegossen", flüsterte jäh eine fremde, raue Frauenstimme in seinem Kopf.
„Wer ist da?" Verwirrt blickte er um sich.
Plötzlich ließ er mit einem Aufschrei das Schwert fallen. Zaria hatte sich auf einmal wie glühende Kohle in seiner Hand angefühlt. Erschrocken musterte er seine von Brandblasen entstellte Hand. Der Geruch verbrannter Haut stieg ihm in die Nase, als die düstere Stimme erneut in seinem Kopf erklang: „Verdammt ist auch dein Geist. Verdammt und entzweit."
„Wer ist da?", schrie er wieder und blickte sich um. „Zeig dich!"
Im selben Augenblick blendete ihn ein grelles Licht.
Was zum Götterfunken ...
Das Licht war so intensiv, dass der Halbblütige seine Augen schützend mit Armen bedeckte. Als der grelle Schein wieder abklang, wagte er einen Blick. Das Licht ging von der Kriegerin aus. Die Helligkeit füllte die ganze Fläche um sie aus. Versteinert stand er da und blickte zu ihr hinauf.
Die Seelenlose schrie auf. Laut und impulsiv war ihr Schrei. Ihre Augen erstrahlten grell. Die Wurzeln, welche sich fest um sie rankten, flogen in Fetzen zur Seite. Doch die Kriegerin stürzte nicht zu Boden, stattdessen glitt sie federleicht herab. Ihr cyanblaues Haar, das vorhin kaum seine Farbe preisgegeben hatte, kam im hellen Licht zum Vorschein. Das zusammengesteckte Haar hatte sich gelöst und wellte sich nun schwebend um sie.
Als die Kriegerin den Boden berührte, verblasste das Licht um sie herum. Ihre Augen hörten auf zu glühen und ihr Haar schmiegte sich zerzaust um ihren Körper. Es war so lang, dass die Spitzen beinah den Boden berührten.
Elvar zuckte zusammen, als das Schwert Zaria lodernd in der Hand der Kriegerin aufblitzte. Mehrere tiefe Atemzüge nehmend, stand die Seelenlose ihm gegenüber, sah ihn stumm an, bis sie ihm erneut den Rücken kehrte und ging.
Er wollte ihr hinterher, doch jeder Schritt, den er machte, wurde zu einer überraschenden Last. Elvar fühlte sich seiner Energie geraubt. Konnte es sein? Hatte die Seelenlose das alles geplant? Wie konnte er so dumm sein und sich so täuschen lassen?
In einiger Entfernung folgte der Halbblütige ihr, sie leise verfluchend. Zum einen war da der Drang ihr nah zu sein, zum anderen derunnachgiebige Wille nach Vergeltung. Er würde Noria rächen.
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