Kapitel 38 - Planlos
Projekt X muss stattfinden. Heute. Jetzt!
Seit meinem Besuch bei Edda waren zwei Tage vergangen. Zwei Tage, in denen ich ruhelos blieb und vergebens dem Gedankenkarussell, welches in meinem Kopf mit Höchstgeschwindigkeit rotierte, zu entkommen versuchte.
So vieles beschäftigte, nein geradezu quälte mich: Wie zum Teufel sollte ich den Spiegel zurückbekommen, ohne erwischt zu werden? Hineinschleichen war, glaubte ich, keine gute Idee. Bestimmt waren überall Kameras angebracht und der Parkwächter hatte Sicht auf jedes Eck um das Grundstück, sowie diese Einkaufsdetektive im Supermarkt. Es ist zwar schon länger her und wer weiß, ob es eine echte Erinnerung war, aber einmal war ich selbst Zeugin, wie einer dieser Detektive eine alte Omi auf frischer Tat ertapp hatte. Die alte Frau beteuerte zwar, dass es ein Versehen war und sie die Zahnpasta lediglich vergessen hatte aus der Tasche herauszunehmen, aber der Detektiv glaubte ihr kein Wort. Sie musste mit ihm gehen. Ich grübelte weiter. Mal angenommen ich hätte großes Glück und könnte es unbeobachtet in die Villa schaffen, wo zum Kuckuck sollte ich mit meiner Suche nach dem Spiegel beginnen? Die Villa war riesig. Ich griff mir an den Kopf und massierte die Kopfhaut, als könnte es mir auf die Sprünge helfen.
Nein, so würde ich nicht weiterkommen! Aber ich konnte doch nicht Jack einfach überfallen und bedrohen, bis er mit dem Spiegel herausrückt? Was, wenn es ganz schlimm kommt und ich ihn aus Not heraus verletze oder gar kille! Vielleicht war es für Edda eine gute Option. Für mich jedoch nicht! Und was wäre eine bessere Option? Verdammt! Jedenfalls kein Killen! Konnte Edda mir keinen Trank geben, wo ich zu einer Ameise schrumpfe oder unsichtbar werde?
Zu einer Ameise? Ich stellte mir eine Ameise vor, die einen Spiegel hob und im selben Augenblick von diesem zerquetscht wurde. Ich verzog meinen Mund zu einem nervösen Lächeln, weil es so surreal war, wohin die Kraft meiner Gedanken mich lenkte, als mich etwas aufhorchen ließ. Durch die Zimmertür, welche ich mit Absicht einen Spalt breit offengelassen hatte, konnte ich ein leises Geräusch, auf welches ich bereits sehnsüchtig gewartet hatte, vernehmen. Die Haustür fiel ins Schloss.
In meinem Zimmer war es dunkel, als ich mich langsam vom Bett erhob und vorsichtig hinter dem Vorhang meines Fensters hervorlugte, um Alex nachzusehen, welcher eben aus dem Haus getreten war. Es war für ihn Zeit, seiner Pflicht als Torhüter nachzukommen, doch unerwartet machte er halt und drehte sich zum Haus um. Im Schein des Terrassenlichtes konnte ich erkenne, wie sein Blick zu meinem Zimmerfenster sich richtete. Erschrocken duckte ich mich. Hatte er mich gesehen? Verdammt, als ahnte er bereits was. Seit Alex, der eigentlich damals noch mein Dad war, oder zumindest so tat, mich gerettet hatte, verging kein Tag, an dem er sich von mir nicht verabschiedete, bevor er auf den Weg zur Pforte aufbrach. Doch heute hatte ich ihm vorgegaukelt, Kopfschmerzen zu haben und mich früher schlafen legen zu wollen.
Angespannt erhob ich mich und blickte so unauffällig wie möglich erneut aus dem Fenster. Alex hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Ein Seufzer der Erleichterung entrang meiner Kehle. Mein angespannter Kiefer entspannte.
Von meinem heutigen Vorhaben hatte ich Alex nichts verraten. Ich wollte die Sache für ihn nicht noch schwieriger machen, als sie ohnehin schon war. Er konnte mir eh nicht helfen. Ich musste da alleine durch. Was auch gut war. Denn ich wollte es ihnen beweisen. Ihnen zeigen, dass ich zu mehr fähig war, als sie glaubten. Geduldig wartete ich ab, bis Alex, welcher nur noch als dunkler Schatten erkennbar war, ganz mit der Dunkelheit verschmolz.
Noch immer hatte ich keinen richtigen Plan und nicht die geringste Ahnung, was ich da tat, als ich mein Handy zückte und Jacks Nummer wählte. Es klingelte, doch Jack nahm nicht ab. Also sprach ich auf seine Mailbox. Ich versuchte, so lässig wie nur möglich zu klingen: „Hi Jack. Hier ist Minnie. Ich weiß, es ist eine Weile her. Wie geht es dir? Ämmmmhh, ich musste an die alten Zeiten denken. Und na ja. Ich dachte, ich melde mich mal. Es ist spät, ich weiß, doch vielleicht hast du trotzdem Lust auf ein Treffen? Da gibt es etwas, was ich dir erzählen muss."
Aufgeregt legte ich auf und wartete. Zehn Minuten. Zwanzig. Halbe Stunde. Er meldete sich nicht. Eine ganze Stunde verging. Kein Anruf von ihm. "Verdammt, was habe ich getan", stöhnte ich leise vor mich hin. War das ein Fehler, ihn anzurufen? Hatte ich mich dadurch verdächtig gemacht? Es war schon spät, vielleicht würde er morgen sich melden. Ich sollte mich einfach in Geduld üben und Ruhe bewahren. Doch Geduld war noch nie meine Stärke. Angespannt wählte ich erneut seine Nummer. Auch dieses Mal nahm er nicht ab und die Tussi von der Mailbox erklang zum wiederholten Mal: "Ihr Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem... ."
Ich wollte schon auflegen, da ertönte der besagte Ton und eh ich mich versah, bewegten sich meine Lippen. Ich versuchte meine Unsicherheit hinter einer klaren, fordernden Stimme zu verbergen: "Hallo Jack, vergiss, was ich eben gesagt habe. Eigentlich rufe ich an, weil du etwas im Besitz hast, was dir nicht gehört. Sicher weißt du, wovon ich spreche. Ich würde es gerne seinem Besitzer zurückgeben. Darum bitte ich dich um ein Treffen. Ah ja, und noch etwas, ich weiß, was du bist!" Mit glühenden Ohren legte ich auf und fuhr mit der Zunge über meine trocknen Lippen, als die Stille im Haus durch das laute Klingelgeräusch meines Handys verdrängt wurde. Schreckhaft zuckte ich zusammen. Jetzt gab es kein Zurück mehr! Mein Magen schlug Purzelbäume, als ich das Handy an mein Ohr legte.
„Minnie Spring! Es ist lange her", hörte ich Jacks heitere Stimme. „Du wirst es mir nicht glauben, aber ich habe gerade eben an dich gedacht und plötzlich höre ich deine..."
„Komm zum Punkt, Blauer", unterbrach ich ihn.
Für einen Moment herrschte Stille auf der anderen Seite der Leitung, dann erklang seine Stimme, welche an Leichtigkeit von eben verloren hatte: „Es ist wie gesagt lange her. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du mit diesem Anruf bezwecken willst, Minnie Spring."
„Weißt du es wirklich nicht? Der Spiegel. Ich brauche ihn zurück, Jaques Leroy."
„Du wirkst durcheinander. Alles in Ordnung bei dir?", hakte er nach und spielte den Besorgten. „Bist du allein? Soll ich vorbeikommen?"
Ich schaute auf die Uhr, es war kurz nach elf. „Nein. Ich komme vorbei", sagte ich bestimmend und drückte ihn eiskalt weg.
Ich wollte ihn einschüchtern. War es mir gelungen? Keine Ahnung! Nervös holte ich aus der oberen Schublade meiner Kommode das Fläschchen mit dem Treibsand und den kleinen, spitzen Dolch hervor. Ich blickte die Waffe in meiner Hand ehrfürchtig an. Sollte ich den Dolch wirklich mitnehmen?
Sicherheitshalber entschied ich mich doch dazu, beide Gegenstände in meiner Jeansjacke verschwinden zu lassen. Nur für den Notfall.
Aus dem Haus getreten überlegte ich kurz in Liams alte Rostlaube zu steigen. Doch es gab ein Problem- ich besaß keinen Führerschein. Aus meiner Klasse war ich die einzige ohne Führerschein. Der Grund dafür war meine Angst vor dem Autofahren. Ich hatte zwar kein Problem damit, von jemandem kutschiert zu werden. Nein das nicht. Es war eher die Angst davor, als Fahrerin für einen Unfall mit tödlichen Folgen verantwortlich zu sein. Ich war mir sicher, die Furcht hing mit meinen falschen Erinnerungen zusammen. Der Autounfall. Mums Tod. Sicher wollten Liam und Alex dadurch ein Stück von Kontrolle über mich behalten. Ich schüttelte diesen furchtbaren Gedanken ab und entschied mich doch lieber für mein Fahrrad. Wie eine Besessene trat ich, was das Zeug hielt, in die Pedale, während die kalte Luft mir in mein vor Anstrengung erhitztes Gesicht peitschte.
Es war keine halbe Stunde vergangen, als ich das wunderschön verzierte Tor zu Jacks Anwesen vor mir erblickte. „Projekt X kann beginnen", keuchte ich angestrengt mir selbst zu.
Ich war überrascht. Der Torwärter begrüßte mich freundlich und ließ mich passieren. Flüchtig flogen meine Augen über die kleine Büchse, in der der Mann mittleren Alters saß und ich konnte tatsächlich einen Blick auf einen Bildschirm, wo die Villa aus 6 verschiedenen Blickwinkeln angezeigt wurde, erhaschen. Was meine Vermutungen nur bestätigte.
Den Weg zur Villa fuhr ich langsam entlang, ließ mir die Zeit für eine kleine Verschnaufpause. Außerdem war es stockdunkel und unheimlich still. Doch dann vernahm ich Musik. Bildete ich mir das ein? Nein. Tatsächlich: Je weiter ich der Villa kam, desto lauter wurde die Musik. Es kam mir vor wie eine schlechte Wiederholung unserer letzten Begegnung, als ich Jack vor mir erblickte, der mit einem breiten Grinsen mich in „Empfang" nahm. Nur dieses Mal hatte er anstatt Anzug kurze Shorts und ein oranges Hawaiihemd an. Immer noch hatte er dieselbe blonde Kurzhaarfrisur, das charmante, strahlend weiße Lächeln auf den Lippen und die freundlich wirkenden, grünen Augen.
„Minnie! Wie lang ist es her?" Er näherte sich mir mit weit ausgebreiteten Armen. „Ein Jahr?"
„Halt dich fern von mir!", drohte ich und schwang das rechte Bein vom Fahrrad herunter.
„Okay, okay", sagte er grinsend und blieb auf Abstand.
Ich blickte misstrauisch zu seiner Villa und stellte mein Fahrrad ab. „Du hast Besuch?"
Er zuckte mit den Schultern: „Du weißt doch, ich hasse die Einsamkeit."
„Weiß ich das? "
Er spielte weiterhin den Gutgelaunten. „Heute ist Tequila-Nacht! Magst du einen Drink?"
Ich sah ihn durchdringend an. „Jack, ich will keinen Drink. Du weißt, warum ich hier bin. Der Spiegel."
„Was für ein Spiegel? Minnie ist wirklich alles okay bei dir?", erkundigte er sich mit besorgt in Falten gelegter Stirn. Seine Augen jedoch funkelten mich herausfordernd an.
Er konnte mich nicht täuschen, ich wusste, es passte ihm ganz und gar nicht, dass ich da war. Ich ballte meine verschwitzten Hände zu Fäusten. „Ah, hör doch auf Jack. Ich weiß alles. Sag mir, wo der Spiegel ist, oder soll ich vielleicht den Leuten da drin erzählen, wer du wirklich bist? Oder besser gesagt, was du bist", versuchte ich ihn einzuschüchtern und wartete sogleich auf seine Reaktion.
Seine sorgenvollen Gesichtszüge wichen Härte. „Lass uns hineingehen und drin sprechen", sagte er mit strengem Unterton und ging voraus.
Ich tastete vorsichtig nach dem Dolch in meiner Jacke und ging mit etwas Abstand und einem flauen Magen hinterher.
Vor dem Eingang stand ein Mann; es schien, als wartete er auf Jack. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er sah sehr vornehm aus in seiner weißen Leinenhose und einem hellgrauen Hemd. Sein wasserstoffblondes Haar war zu einem Zopf gebunden. Ich staunte nicht schlecht, als ich mich dem Mann näherte. Seine Ohren! Er war wie Edda! Die gleichen spitzen Ohren. Er ließ mich sein wahres Ich sehen. Warum? War das ein Test?
Ich versuchte, mir mein Erstaunen nicht anmerken zulassen, folgte Jack und dem Fremden in die Villa, wo die Musik noch aufdringlicher wurde. Erneut musterte ich den Mann, dessen Gesicht nun im Schein des künstlichen Lichts besser zur Geltung kam. Es fiel mir schwer, meine Augen von ihm abzuwenden. Stumm blickte er mit seinen fuchsienfarbenen Augen zurück. Sein porzellanartiges Gesicht hatte feine, beinah feminine Züge. Er war wunderschön.
„Entschuldige uns für einen Moment", sagte Jack mit aufgesetzter Höflichkeit, dann entfernte er sich zusammen mit dem Fremden.
Ich ließ die beiden nicht aus den Augen und beobachtete, wie sie sich zwischen den Gästen an einem weißen Piano austauschten und war verwirrt. Niemand der Anwesenden wirkte überrascht von der äußeren Erscheinung dieses hübschen Mannes. War das möglich? War ich die Einzige, die sein wahres Ich sehen konnte?
Der Fremde musterte Jack mit versteinerter Miene, während dieser mit schnellen Lippenbewegungen auf ihn einredete. Planten sie gerade, wie sie mich am besten beseitigen wollten?
Ich sah ihnen weiter nach: Auch Jack ließ mich nicht aus den Augen, während er sich vertraut zu dem Mann lehnte und seine Hand um dessen Taille legte. Dann flüsterte er ihm etwas ins Ohr. Das Ganze hatte etwas Vertrautes, wenn nicht gar inniges. Der Schönling setzte sich schließlich an das Klavier, während Jack schnellen Schrittes zu mir zurückkam.
„Lass uns woanders ungestört reden", sagte er kühl und führte mich eine weiße Marmortreppe hinauf. Ich war mir sicher, in eine Falle zu tappen, als ich stumm hinter ihm die Stufen erklomm. Von der Treppe aus warf ich dem Typen am Piano einen letzten verunsicherten Blick zu. Auch er spähte zu mir. Sein Gesicht war ausdruckslos, irgendwie traurig, während sich um ihn herum die amüsierende Menge der Gäste tummelte.
Im zweiten Geschoss angekommen, schritt Jack in einen der vielen Räume. Ich folgte ihm und hatte dabei ein noch schlechteres Gefühl als zuvor.
„Hereinspaziert. Fühl dich wie zu Hause", sagte er und hielt mir die Tür auf.
Wieder diese gespielte Höflichkeit. Wieder dieser unberechenbare Blick. Ich zögerte kurz, alles in mir, wehrte sich dagegen über diese Türschwelle zu treten. Doch dann tat ich genau das.
Es ist ein Fehler!, warnte mich panisch und schrill meine innere Stimme, als ich gegen all meine Instinkte mich stellte und stumm zusah, wie Jack geräuschlos die Tür nach mir schloss. Was hatte ich getan?
Hallihallo, wie findet ihr meine neue, mysteriöse Figur? Was glaubt ihr, spielt diese eine größere Rolle oder eher nicht🤔
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