Kapitel 37 - Jungfrau in Not
„Du kennst ihn. Es ist Jack, Jack, Jack...", schallten Alex Worte in meinem Kopf wieder und ich sah vor meinem geistigen Auge, all die Momente mit genau dieser Person an mir vorbeiziehen: unsere erste Begegnung am Strand. Das Lagerfeuer. Seine Art, mich anzusehen. Der erste Kuss. Sein unbekümmertes Lächeln. Noch mehr Küsse. Er wirkte immer so sorglos, so, als wäre das Leben eine große Party. Nur das Hier und Jetzt zählte. In mir zog sich alles zusammen. War das alles von ihm nur gespielt? Alles nur Trug?
„Jack? Ich verstehe nicht. Wieso?", fragte ich Alex und schüttelte unbewusst den Kopf.
„Er ist nicht der, für den er sich ausgibt."
Mein Mund schien wie ausgetrocknet. „Was genau meinst du?"
Seine grauen Augen fixierten mich ernst. „Schon, als er zum ersten Mal über unsere Türschwelle trat, ahnten Elvar und ich bereits, dass er kein Mensch ist", offenbarte er mir. „Für Menschen aus dieser Welt sind wir unscheinbar. Uninteressant. Doch Jack ist anders. Er erkannte uns und er erpresste uns."
Ich taumelte einen Schritt zurück. „Was? Das glaube ich jetzt nicht", murmelte ich vor mich hin, als weitere Erinnerungen mich im Nu einholten: der Tag, als ich Alex, Liam und Jack unten vor unserem Haus erst hörte und kurz darauf sah. Sie besprachen etwas. Schon damals fand ich Liams und Alex' Benehmen irgendwie eigenartig. Jack dagegen fand ich nicht merkwürdig. Im Gegenteil, ich fand ihn großartig, weil er all das Missverständnis aus dem Weg räumen wollte, um mich zu seinem Geburtstag einladen zu dürfen, wohlgemerkt nicht allein. Liam hatte er auch eingeladen. Hatte er sie da etwas bereits erpresst? Vorwurfsvoll und gekränkt blickte ich zu Alex hoch. „Warum habt ihr mir nichts gesagt?!"
„Hättest du es denn geglaubt?", meinte er daraufhin nur.
Ich überlegte, versuchte aus seinem mir immer noch ungewohnt jungen Gesicht etwas Unausgesprochenes zu entlocken. Es gelang mir nicht. „Trotzdem, ihr hättet es mir doch sagen müssen!"
„Jack hatte gedroht, dir etwas antun zu wollen. Wir konnten kein Risiko eingehen, deshalb mussten wir nach seinen Regeln spielen. Wir wissen nichts über diese Blaublütigen."
Ich versuchte mich in Alex' Lage zu versetzen, wollte sein Handeln verstehen. Doch auch das gelang mir nicht. So versuchte ich zumindest mehr über Jack in Erfahrung zu bringen.
„Ist er auch aus Taurius?", wollte ich wissen, doch konnte mir ein leises, verärgertes Schnauben nicht verkneifen, was auch Alex nicht entging, den er kniff daraufhin bedauerlich seine Augenbrauen zusammen.
„Es gibt keine Blauen mehr in Taurius. Aber einst lebten sie in der Tat dort. Zumindest erzählt man sich das", ergriff Edda das Wort.
„Die Blauen, ich verstehe nicht. Sind sie nicht wie du?"
„Die Blauen wie ich? Oh, vergleich uns nicht mit diesen Blutsaugern! Das könnte dich in Taurius den Kopf kosten!"
„Meinst du mit Blutsauger Vampire?", fragte ich Edda irritiert.
„So würde ich sie nicht nennen. Die Blauen meiden die Sonne nicht", erklärte sie. „Auch sind sie nicht unsterblich. Du musst einem Blauen kein Pfahl durch das Herz jagen."
„Warte? Was?" Ich blinzelte erstaunt. "Du redest ja so, als gäbe es Vampire wirklich?"
Edda rollte mal wieder mit den Augen und fuhr fort, ohne mir eine richtige Antwort auf meine Frage zu geben: "Es gibt nur eins, was die Blauen mit den Biestern aus eurer Welt verbindet: Blut. Blut ist unentbehrlich für sie. Es sei denn, man ist im Besitz eines Adularsteins."
„Der Spiegel ist aus diesem Material", fügte Alex hinzu.
„Dann hat Liam den Spiegel gestohlen, damit Jack nicht mein Blut...also mich nicht beißt?", schlussfolgerte ich.
„Nicht ganz. Der Blaue hatte es nicht auf dich abgesehen, Mädchen."
„Hatte er nicht?"
„Nein. Es war Elvar selbst, nach dessen Blut er lechzte", verriet Edda. „Der Blaue suchte deine Nähe, um an meinen Neffen heranzukommen."
„Aber? Aber warum Liam? Warum nicht mein Blut?"
"Es muss das Blut einer unberührten Seele sein."
„Einer unberührten Seele? He?"
„Eine Frucht, die noch reifen muss. Verstehst du?"
Ich sah sie genauso ahnungslos wie zuvor an. Wovon sprach die Alte da nur in Rätseln?
„Mädchen, bist du wirklich schwer vom Begriff?! Oder tust du nur so? Eine ungeöffnete Blütenknospe. Eine keusche Nonne. Ein Acker, der noch nicht gepflügt ist. Eine Jungfrau zum Götterfunken nochmal! "
Stille. Stille. Stille, die allmählich peinlich wurde. Eine Jungfrau?
Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Worüber wir da plötzlich sprachen. Alex räusperte sich unbehaglich und blickte zur Seite. Die Schamesröte stieg mir prickelnd ins Gesicht. Ich wünschte, im Boden versinken zu können. Für immer!
„Ich, ich bin aber eine ...", stotterte ich.
Eddas Augen leuchteten vergnügt auf. „Jungfrau?", sprach sie aus, was ich nicht über die Lippen brachte. „Das haben wir zuerst auch angenommen. Doch warum sollte der Blaue, ein Halbblut dir, einer Vollblütigen, vorziehen? Doch nur, weil du deine Jungfräulichkeit bereits verloren hast."
Ein nervöses Kichern drohte mir zu entweichen. „Was spielt es denn für eine Rolle, ob ich Halbblut oder Vollblut bin. Jungfrau oder nicht Jungfrau?", fragte ich mit glühenden Wangen.
„Oh, es spielt eine große Rolle. Lass mich versuchen, es dir zu erklären. Es ist wie mit einem Neugeborenen."
„Einem Neugeborenen?", wiederholte ich verwirrt.
„Ja. Was für eine Nahrung bevorzugt ein Säugling?", fragte sie mich.
Ich musste nicht lange überlegen: „Muttermilch, natürlich."
„Warum Milch?"
„Na, die Milch hält ihn satt und hat alle Nährstoffe, die sein Körper benötigt, um zu wachsen und sein Immunsystem zu stärken. Das hatten wir letztes Jahr in der Schule."
„Ich weiß zwar nicht was du mit Immunsystem meinst Mädchen, aber der Rest ist richtig. Doch was, wenn du nicht genug Milch für den Säugling zur Verfügung hast? Was, wenn du das kleine Geschöpf stattdessen mit einem Wasser - Milch Gemisch fütterst. Was passiert dann mit dem Säugling?"
„Der Säugling hat öfters Hunger?"
„Richtig. Er wird schneller unruhig, hat öfters Hunger und schreit viel öfters. Verlangt nach seiner Milch. Und so ist es auch mit den Blauen. Das Blut eines Vollblutes hält den Blauen länger satt und befriedigt damit seine Bedürfnisse länger als das Blut eines Halbbluts oder eines Menschen. Doch viel Auswahl hat der Blaue in eurer Welt nicht. Er nimmt sich, was er kriegt. Hauptsache, es ist das Blut einer Jungfrau. Den wäre es das nicht, so wäre es für den Blauen ungenießbar.
Ich musterte Edda kritisch. Liam war noch Jungfrau. Er war also die Jungfrau in Not. Okay, dass Liam noch nichts hatte, wunderte mich nicht wirklich. In der Schule war er ein Einzelgänger. Und privat ein Stubenhocker, der gerne Bücher lass und im Wald spazierte. Das sagte doch schon alles. Doch, dass ich keine Jungfrau mehr war, konnte ich nicht fassen. Schon so oft dachte ich darüber nach, wie mein erstes Mal wohl sein würde. Und nun erfahre ich, dass es bereits stattfand? Mit wem? Und wo zum Teufel nochmal? Ich wünschte so sehr, mich erinnern zu können. "Aber, was, wenn es einen anderen Grund dafür gibt, warum Jack Liam sein Blut bevorzugt", überlegte ich laut. "Vielleicht irrst du dich?"
„Ich und irren? Es ist der einzig wahre Grund. Mir kannst du es glauben, Mädchen. Ich habe sicherheitshalber nachgeschaut. Es stimmt", sagte Edda.
„Was meinst du mit nachgeschaut?"
„Als Alexander dich aus dem Wasser fischte, da habe ich einen kleinen Blick zwischen deine Beine..."
„Stopp!", schrie ich mit dünner Stimme und drückte meine Hände fest auf die Ohren. Ich war mir sicher, roter als die Feuerwehr zu leuchten.
Was gab es noch über mich zu erfahren? Und wollte ich es überhaupt hören?
„Edda, hör auf, das Mädchen zu beschämen! Siehst du denn nicht, wie unangenehm ihr das alles ist!"
„Sie beschämen? Womit?"
„Womit? Wo ist dein Feingefühl, es ist ein junges Mädchen."
„Mein Feingefühl? Das ist mir abhandengekommen, als ich in deiner Welt mich wiederfand, Alexander." Ihre Augen hüpften aufgebracht von Alex auf mich über. „Jetzt hab dich nicht so. Deine Vergangenheit gehört nun mal zu dir, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Sei doch froh, sonst wärst du diejenige, bei der der Blaue sich bedient. Stattdessen ist es Elvar, dieser Narr", stöhnte sie kläglich und zischte bissig in Alex' Richtung. „Ist es feinfühlig genug, Schwager?"
Alex ließ sich auf Eddas provokative Art nicht ein. Stattdessen wandte er sich an mich: „Es gibt noch etwas, was du über die Blauen wissen musst. Die Blauen können sich das Blut ihrer Opfer nicht mit Gewalt nehmen. Es muss aus freien Stücken geschehen. Wenn die auserwählte Person dazu bereit ist, das eigene Blut einem Blauen anzubieten, erst dann darf er davon trinken und auch nur solange es diesem gestattet wird."
„Wer dient schon freiwillig als Blutkonserve?", fragte ich irritiert, konnte mir nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte.
„Elvar tat es. Er dachte, es wäre eine einmalige Sache. Er dachte, er hätte das Wort des Blaublütigen. Doch die Blauen, für sie gelten unsere Gesetze nicht. Hätte er mir doch nur davon erzählt!", rief Edda aus. „Dann hätte ich ihn vor der Abmachung gewarnt."
„Du wusstest nichts?"
„Nicht das Geringste!", spuckte Edda erneut in Alex' Richtung die Worte erzürnt aus. „Berauscht und von Fieber befallen kam mein Neffe zu mir, mit einer eitrigen Bisswunde am Handgelenk. Verlor kein Wort darüber, was geschehen war. Sagte nichts von dem, was er im Schilde führte. Ich war dabei, ihm eine heilende Salbe zusammenzumischen, als er mit einem Mal verschwunden war und mit ihm mein Spiegel, wie sich später herausstellte."
„Sicher wollte er dich nicht in Gefahr bringen! Deswegen hat er nichts gesagt", verteidigte Alex seinen Sohn.
„Dass ich nicht lache! Als würde er sich um sein liebes, schönes Tantchen scheren. Es war seine Dummheit und nicht seine Sorge, um mich. Den Blauen zu verschonen, war dumm und naiv", schimpfte Edda.
„Und wenn dieser Jack Komplizen hat?", hielt Alex dagegen."
„Du hast auch Komplizen! Ich mag klein und gebrechlich sein, aber meine Magie ist nicht zu unterschätzen. Mein Spiegel gehört nicht in die Hände dieses Abschaumes."
Ich beobachtete den Schlagaustausch zwischen Alex und Edda und verarbeitete langsam all die Informationen, die auf mich eingeströmt waren. Ich konnte es immer noch nicht fassen - Jack war ein Blauer und er erpresste Liam. Plötzlich musste ich an jenen Tag zurück denken, bevor Liam verschwand. Er war zu mir, auf die Tanzfläche gekommen. Wir tanzten. Er hatte versucht, mir etwas zu sagen, hatte mich Iva genannt, wollte, dass ich mich erinnerte. Ich dachte, er hätte zu viel getrunken. Er hatte so verloren gewirkt, so allein. Verschwinde aus meinem Leben, waren seine letzten Worte an mich. Er war verzweifelt. Ich war für sein Fortgehen verantwortlich. Warum hatte er mir nichts erzählt? Warum?
Entschlossen ballte ich meine Hände zu Fäusten. „Ich bringe dir den Spiegel", sagte ich an Edda gewandt.
„Das tust du nicht!"
„Alex!", protestierte ich. „Ich werde ..."
„Das nimmt kein gutes Ende!", hielt er weiter dagegen.
„Ich habe keine Angst."
Tatsächlich spürte ich keine Furcht. Sei es vor Jack, sei es vor dieser anderen Welt. Eigenartigerweise verspürte ich keine Angst. „Soll er nur kommen. Der Blaue wird sein blaues Wunder erleben", scherzte ich sogar noch.
„Die Seelenlose hat Humor", lachte Edda auf und irgendwie erfreute es mich, dass ich Edda ein Lächeln entlocken konnte.
Alex schüttelte nur den Kopf: womöglich sah er mich bereits kläglich versagen. Doch das war mir egal.
„Nun mein lieber Schwager, die Seelenlose hat sich entschieden. Du wirst ihr nicht im Wege stehen. Dafür werde ich sorgen. Deshalb fordere ich jetzt meinen Gefallen ein."
„Edda nein! Das kannst du nicht machen!"
Edda blieb eisern. "Ich kann und ich werde. Bleib tatenlos, was dieses Kind angeht", sagte sie und richtete ihren Zeigefinger auf mich. „So soll es sein, bis mein Spiegel zurück ist. Das Wort ist gesprochen. Meine Lippen versiegelt. Halt dich daran, du weißt, was passiert, wenn du es nicht tust", drohte die kleine Alte und schnippte mit den Fingern. „Du wirst zu nichts!" , erinnerte sie ihn.
Ich zuckte bei dem Knacken ihrer Finger zusammen.
„Verdammt nochmal, Edda, du bringst sie in Schwierigkeiten." Es war das erste Mal, dass ich ihn fluchen hörte.
„Jetzt beruhige dich schon, Schwager. Glaubst du wirklich, ich schicke die Göre schutzlos zu einem Blauen?", spottete Edda und näherte sich mir. Mit ihren alten, zittrigen Händen umschloss sie meine Handflächen. „Ich gebe dir etwas mit", flüsterte sie und blickte zu mir auf.
Als ich die Hände öffnete, entdeckte ich ein Fläschchen in meiner rechten Hand. Ich schwenkte es hin und her. Feiner, weißer Sand befand sich darin.
„Das also soll ihr helfen?", fragte Alex unbeeindruckt.
„Für die Ahnungslosen hier: Die Sandkörner stammen aus Nemphes, einem taurianischen Treibsandgebiet. Wer in diesen Treibsand hineintritt und sei es nur mit der Schuhspitze, ist verloren. Der Treibsand lässt dich erstarren. Lähmt deinen Körper. Stumm und machtlos siehst du zu, wie der Sand dich langsam Stück für Stück in die Tiefe zieht. Bis du qualvoll darin erstickst."
Ungläubig blickte ich auf das kleine Flacon in meiner Hand.
„Keine Angst", schmunzelte Edda. „Es ist zu wenig, um jemand darin verschwinden zu lassen. Doch wenn dir Gefahr droht, zerschmettre das Glas zu Füßen des Blauen. Im Nu ist er außer Gefecht gesetzt."
„Und es wirkt wirklich?"
„Natürlich wirkt es. Aber gib acht, die Wirkung ist nicht von langer Dauer. Benutze es nur im Notfall! Ich habe nur dieses eine."
„Danke", sagte ich, überrascht von ihrer plötzlichen Güte.
„Ein Dank ist in Taurius nichts wert. Ein Gefallen reicht vollkommen", erinnerte sie mich.
„Zum Götterfunken! Die Menschen sind unbelehrbar", jammerte sie dann. Sie griff sich an den Kopf und eilte aus dem Zimmer, während Kessel samt Tassen ihr hinterher schwebten.
Wohin wollte sie denn plötzlich so eilig?
„Schulde ich ihr nun einen Gefallen?", fragte ich Alex verunsichert.
„Nein, dazu braucht sie dein Wort, welches mit einem Handschlag besiegelt wird", flüsterte er.
Mit schnellen, kleinen Schritten eilte Edda zurück.
„Nimm", befahl sie, während sie aus ihrem Ärmel plötzlich einen kleinen Dolch hervorzog. "Falls du wirklich den Sand benutzen musst und der Blaue erstarrt, dann nimm diesen Dolch und jage ihm die Klinge in die Brust."
Ich spürte, wie meine Knie ganz weich bei Eddas letztem Satz wurden. "Was, wenn es mit dem Sand nicht funktioniert?", fragte ich und nahm den Dolch zaghaft an mich. Mir schlug das Herz bis zum Hals.
„Warum sollte es nicht funktionieren? Es wird", meinte Edda wie selbstverständlich. „Doch versuche es zuerst, ohne Aufmerksamkeit auf dich zu lenken, meinen Spiegel dem Blauen zu entwenden. Benutze den Sand nur im Notfall. Doch sollte der Plan mit dem Sand nicht aufgehen, wird dieses Schätzchen dir hoffentlich anderweitig Nutzen bringen", sagte sie den Dolch in Augenschein nehmend.
Ich nickte stumm. Falls Edda mich damit beruhigen wollte, so war es ihr nicht gelungen. Ich betrachtete die kleine, silbrig schimmernde Waffe samt dem Treibsandfläschchen in meinen Handflächen und verstand allmählich, wie dämlich es von mir war, die Mutige zu spielen. Niemals könnte ich, und sei es aus Notwehr, jemanden verletzen, geschweige denn töten. Ich bereute meine überstürzte Entscheidung. Konnte ich es wirklich schaffen?
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