Kapitel 2 - Verflucht
Geistesgegenwärtig ließ sich die Seelenlose auf den Boden fallen. Der Pfeil riss ihr den Umhang vom Kopf und blieb samt diesem in einem großen Baum stecken. Entsetzt verharrte Elvars Blick einen Moment lang bei dem Pfeil.
Ohne Eile, richtete sich die Seelenlose auf. Sofort zog Elvar den nächsten und letzten gelb markierten Pfeil aus seinem Köcher. Entschlossen richtete er ihn auf ihre Körpermitte.
Majestätisch, erhobenen Hauptes, stand die Frau bedrohlich nah ihm gegenüber, das Gesicht immer noch im Schutze der Dunkelheit. Elvar konnte nicht anders, als die Seelenlose zu beäugen, wie sie da leibhaftig vor ihm stand. In der Tat, eine vom Schattenhofe. Sie trug knielange schwarze Stiefel. Eine enganliegende, schwarze Lederhose blitzte durch die tiefen Seitenschlitze einer feinen hoch geschlossenen Tunika hindurch. Der glänzende Stoff war verseht mit dem Wappen des Nachthofes. Elvar erkannte das Wappenbild sofort - zwei Vollmonde in blau und weiß, welche hinter einem in Silber besticktem Schloss hervorspähten. Das Ganze auf schwarzem Hintergrund.
Das dunkle Haar der Frau war zu einem Zopf geflochten und kunstvoll hochgesteckt. Es schimmerte bläulich beim Einfall des Mondlichts. Sie ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Ein zartes, silbernes Diadem um ihre Stirn mit einem türkisfarbenen Stein funkelte ihm entgegen, während ihr Gesicht sanft im weißen Licht erstrahlte. Ihre Blicke trafen einander. Ausdruckklos starrten ihre türkisblauen Augen in die seine, als im selben Moment Elvar etwas Sonderbares erfasste.
Was passiert mit mir?
Der Halbblütige war wie versteinert und konnte sich ihrem Blick nicht entreißen. Das verhieß nichts Gutes. Etwas Fremdartiges umschlich ihn, schmiegte sich um seinen Körper und seinen Geist, als schlagartig etwas in der rechten Hand der Seelenlosen aufloderte. Feurig und stürmisch formte sich aus dem Nichts ein Schwert. Nicht irgendein Schwert. Es war das legendäre Schwert Zaria. Bestürzt starrte Elvar auf die Waffe und verdrängte das fremdartige Gefühl, welches in immer noch erfühlte.
„Zaria", hauchte der Halbblütige leise.
Die Kriegerin machte mit steinerner Miene einen weiteren Schritt auf ihn zu. Die Klinge wirkte wuchtig und schwer. War beinah so groß wie die Frau selbst. In der Hand der Seelenlosen jedoch schien Zaria leicht und locker zu liegen.
Ohne Vorwarnung stürmte die Kriegerin auf Elvar zu. Nur knapp verfehlte sie ihn und war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Konzentriert wand sich Elvar im Kreis, mit der Pfeilspitze ihre Körpermitte suchend. Wie ein Phantom, tauchte die Kriegerin plötzlich hinter seinem Rücken auf. Er spürte im Nu die Klinge bedrohlich nah an seiner Kehle. Elvar ging auf, wie naiv es war zu glauben, allein eine Chance gegen die Seelenlose zu haben. Er war sich sicher, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte.
Aus Not heraus versuchte er etwas, woran er schon vor geraumer Zeit aufgehört hatte zu glauben. Er wollte die Gabe, welche in ihm steckte, nutzen. Konzentriert sah er zu einem Baum in seinem Blickfeld. Er wollte eine Verbindung mit der Pflanze eingehen. Eine Nähe schaffen, welche ihn und den Baum auf unerklärliche Weiße vereinen sollte. Elvar trat über die Schwelle seines eigenen Bewusstseins. Vor seinem geistigen Auge erblickte er eine unsichtbare Schutzhülle, welche den Baum einsäumte. Er musste diese Barrikade durchbrechen, um in das Kernstück des Baumes zu gelangen. Jedoch gelang es ihm nicht. Zu unbekannt war ihm seine Gabe, zu unsicher war er sich seinem Können. Sein Verstand sagte ihm, dass es zwecklos war, und dennoch, die Verzweiflung spornte ihn an, es erneut zu versuchen, als die Kriegerin dazwischenfunkte und ihn aus seinen Gedanken wachrüttelte.
„Bist du taub, ich sagte: Lass dein Spielzeug fallen", hauchte die Seelenlose kalt in sein Ohr, während sie ihr Schwert noch fester an seine Kehle drückte.
Ihre Stimme war ruhig und wohlklingend. Elvar ließ es sich nicht noch einmal sagen und warf den Bogen samt Pfeil von sich weg.
„Hast du nicht etwas vergessen?", hauchte sie erneut in sein Ohr.
Stumm streifte Elvar den Köcher vom Rücken und warf diesen mit den restlichen, gewöhnlichen Pfeilen zur Seite.
„Dreh dich langsam um."
Der Halbblütige spürte ihren Atem im Nacken, sah geknickt zu dem Baum gegenüber und tat schließlich, was sie befiehl. Dabei musste er unwillkürlich in ihre ausdrucklosen Augen blicken. Wieder überkam in dieses fremdartige Gefühl, noch intensiver, noch einnehmender.
Unsanft riss die Seelenlose ihm die Tarnung vom Gesicht. Nun konnten ihr seine menschlichen Ohren, die durch das kinnlange hellbraune Haar hervorlugten, nicht verborgen bleiben. Ergebend ließ Elvar seinen Kopf hängen.
„Hat Roan seinen Stolz am Berg der sieben Sünden gelassen? Schickt einen Knecht? Ein Nichts von Mensch?", fragte die Seelenlose herablassend und wandte den Blick von seinen Ohren ab.
Zornig ballte Elvar die Hände zu Fäusten.
„Ich bin niemandes Knecht!"
Die Seelenlose machte zwei Schritte rückwärts, ohne auf seine Worte einzugehen, das Schwert in seiner vollen Pracht auf seine Brustmitte richtend. Erstarrt in seiner letzten Bewegung kniff der Halbblütige die Augen zusammen und fügte sich seinem Schicksal. Jedoch passierte nichts. Hatte er wirklich geglaubt, sie würde ihm einen schnellen Tod gewähren? Seine verkrampften Gesichtszüge lockerten sich ein wenig und er wagte einen vorsichtigen Blick. Die Kriegerin hatte lediglich sein Gewand mit der Klinge in zwei Teile zerfetzt.
Unbeeindruckt musterte die Seelenlose ihr von Hunger gezeichnetes Opfer und umkreiste es. Dies war der Beginn von etwas Schrecklichem, da war Elvar sich sicher.
„Auf die Kniee."
Er ignorierte ihre Aufforderung.
„Ich sagte runter!"
„König Tarvos Hure hat mir nichts zu sagen! Niemand sagt mir, was ich tun soll. Bring es zu Ende", erwiderte er furchtlos.
„Nicht so ungeduldig", entgegnete sie unbewegt.
Ein heftiger Tritt gegen die linke Kniekehle zwang Elvar in die Knie. Er empfand eine tiefe Demütigung. Sie sollte auf keinen Fall das Vergnügen bekommen, sich an seinem Leid zu ergötzen. Er starb in Würde, davon war er überzeugt. Und dennoch, die Ungewissheit ließ ihn nicht ungerührt.
„Worauf wartest du?", rief er.
Aufs Neue überkam ihn beim Betrachten ihrer Augen diese befremdliche Gefühlsregung. Da war etwas. Etwas, das auf unerklärliche Weise und Stück für Stück Besitz von ihm ergriff. Irritiert wandte er seinen Blick von ihr ab.
„Sag mir, wo dein Herr steckt, und ich lasse dich gehen."
„Ich bin mein eigener Herr", murmelte Elvar in eingeknickter Körperhaltung zu Boden blickend.
„Weißt du denn nicht, was einem Halbblut wie dir am Schattenhofe droht? Einem, der sein eigener Herr ist?"
„Was kümmert es dich? Sag nicht, dir liegt was an meinem Wohle?", sprach Elvar provozierend.
„Gewiss nicht, Mensch. Es ist mir schlichtweg egal, ob du lebst oder stirbst."
In ihrem Blick lag keine Spötterei. Nicht einmal Platz für ein triumphierendes Lächeln war in ihrer gefühlskalten Miene aufzufinden.
„Du bist nicht von hier. Nicht wahr? Du warst am Berg der sieben Sünden", fuhr die Kriegerin fort. „Du hast ihn befreit. Ist es so?"
Ihre Vermutung war richtig.
„Sag, was hat der Bastard dir versprochen?"
Elvar versuchte sich nichts anmerken zu lassen, schwieg.
„Führe mich zu Roan und du bleibst weiterhin dein eigener Herr", sagte sie plötzlich.
„Ich bedauere, aber kriechen und lecken wurde mir nicht in die Wiege gelegt", antwortete er und spuckte auf ihre Stiefel.
„Du hast gewählt", erwiderte sie unbeeindruckt.
Hasserfüllt stierte Elvar zurück, während die Seelenlose die Schwertspitze auf seine Brust richtete, knapp unterhalb des linken Schlüsselbeins. Mehr und mehr drückte sie die Klinge in sein Fleisch und drehte sie dabei langsam, sehr langsam um die eigene Achse. Blut trat hervor. Ein pulsierender Schmerz aus Feuer und Druck durchzog Elvars linken Arm. Der Geruch von verbrannter Haut stieg ihm in die Nase. Die Stofffetzen, welche vom feuchten und warmen Blut durchtränkt wurden, schmiegten sich fest um seine Haut.
Ich werde nicht schreien. Ich werde nicht flehen. Diese Genugtuung werde ich der Seelenlosen nicht bereiten.
Die Kriegerin drehte das Schwert in der blutenden Wunde sachte weiter, während es sich noch tiefer, noch brennender hineinbohrte. Der Halbblütige biss die Zähne zusammen, bis sie knirschten. Der Schmerz breitete sich immer tiefer in seinem Fleisch aus, bis er einen kläglichen Schrei von sich gab. Überraschend ließ die Kriegerin von ihm ab.
Was hat sie vor?
Sofort drückte Elvar ächzend die pochende Wunde mit seinen Händen ab. Die Seelenlose zwang ihn, den Kopf zu erheben. Er wehrte sich nicht und folgte ihrer Aufforderung, als sie die Schwertspitze unnachgiebig gegen sein Kinn drückte.
Entehrt richtete er seinen hasserfüllten Blick auf die Kriegerin, sah zu ihr auf, den Schmerz in der Brust unterdrückend. Kalte Schweißperlen rannen ihm die Schläfen hinunter. Sein Mund war staubtrocken, sein linker Arm wie taub.
Ungerührt sah sie in seine von Qual gezeichneten grauen Augen. Trotz seines Dilemmas, trotz der unermesslichen Feindseligkeit, die er für dieses Weibsstück hegte, und trotz des Pulsierens seiner Wunde vergaß Elvar sich aufs Neue in ihrem Blick. Ungeniert starrte die Kriegerin zurück, zog ihn immer mehr in ihren Bann. Erst jetzt fielen ihm winzige Pigmente in zartem Gelbton auf, die im Türkisblau ihrer Augen verstreut waren. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Elvar war wie ihm Wahn. Je mehr er sich bemühte ihren Blicken sich zu entreißen, desto mehr verfing er sich in ihrem Netz aus Täuschung und Irreführung. Schwerfällig wanderte sein Blick auf ihre spröden, doch sinnlichen Lippen. Abrupt sehnte er sich danach, diese zu berühren. Diese Anziehung zu ihr konnte keines natürlichen Ursprungs sein.
„Hör auf, mich anzustarren", sagte sie plötzlich. „Glaubt Roan, mich auf die Art aufhalten zu können?", fragte sie überraschend aufbrausend.
Verwirrt sah Elvar sie an.
„Mach es rückgängig", forderte sie und nahm ihn plötzlich mit der linken Hand in den Würgegriff. Er spürte wie sich ihre Hand immer fester um seinen Hals legte und ihm die Luft abdrückte.
„Mach es rückgängig, sagte ich", wiederholte sie.
„Ich weiß nicht, was du meinst", krächzte er luftschnappend.
Viel zu schnell lockerte sich daraufhin ihre Linke. Die Seelenlose ging unerwarteter Weise auf Abstand. Was hatte das zu bedeuten? Fühlte sie etwa dasselbe wie er? War das der Grund, warum sie sich seiner nicht entledigen konnte? Oder gehörte das alles zu ihrem kranken Spiel? Fest stand, er fühlte etwas, was nicht sein dürfte. Und sie? Sie hatte ihn nicht getötet. Weil sie nicht konnte? Elvar hatte schon davon gehört, von der Magie, welche Männer zu blinden Liebessklaven von machtgierigen Weibern machte. Doch das hier war anders. Das hier beruhte, wie es schien, auf Gegenseitigkeit.
„Ein Abhängigkeitszauber!", flüsterte er mit großen Augen, den Gedankenblitz über die Lippen bringend.
Fassungslos sah er sie an, die Seelenlose, die sein Herz höherschlagen ließ.
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