Kapitel 13 - Allein, mit ihm
Die letzte Unterrichtsstunde zog sich wie jeden Freitag in die Länge, heute besonders zäh. Ich konnte es kaum erwarten Mr. Wilds langweiligem Geographieunterricht zu entfliehen und mich in das hoffentlich aufregende Wochenende zu stürzen.
Die Schulglocke läutete. Voller Vorfreude auf heute Abend sputeten ich und Lui aus dem muffigen Klassenzimmer in den unglaublich heißen, fast schon erdrückend stickigen Sommertag hinaus. Sofort stach mir Liam ins Auge. Er wartete an unserem Treffpunkt, einem großen Kastanienbaum mitten im Schulhof. Geschützt vor der prallen Sonne stand er im Schatten des Baumes und wartete wie jeden Tag dort auf mich. Es verging kein Tag, an dem er mich nicht mit seiner orange - farbigen Rostlaube mitnahm. Ich tat so, als ob ich ihn nicht sehen würde. Lieber wäre ich zu Fuß nach Hause gegangen. Wäre da nicht Lui, die sich mit zunehmender Geschwindigkeit von mir weg Richtung Liam entfernte. Nur widerstrebend folgte ich ihr.
„Hi", begrüßte Lui meinen Bruder zuckersüß. Ich schwieg lieber und sah mich desinteressiert um.
„Hey!", begrüßte er sie flüchtig, aber dennoch freundlich und spurtete sofort in Richtung Parkplatz. So eilig, dass wir an Tempo zulegen mussten.
Bei seinem alten Jeep angekommen, setzte sich Liam schweigend ins Auto und startete es. Es brummte laut, während er mir einen Komm-endlich-Blick zuwarf.
„Okay Minnie, ich glaube, dein Bruder hat es eilig. Wir sehen uns abends, ich beeile mich", sagte Lui und nahm mich zum Abschied fest in den Arm.
Sie winkte Liam zum Abschied und flitzte zu ihrem Auto. Sehnsüchtig schaute ich ihr hinterher und setzte mich schließlich in das heiße Auto, ohne Klimaanlage.
Während der Fahrt nach Hause schwieg Liam, sprach kein einziges Wort mit mir. Jede Minute kam mir doppelt so lang wie in der Schule vor. Ich blickte schweigend aus dem Fenster, während wir eine Landstraße entlangfuhren und beobachtete die flackernden Tannen, an welchen wir in Windeseile vorbeizogen. Die Stille erfüllte mich mit Unbehagen und die Luft um uns knisterte negativ geladen. Ich ertrug es nicht länger, in diesem glühend heißen Auto mit ihm darin festzustecken. Schließlich machte ich das Radio an. Ein fröhliches Lied ertönte. Sofort drückte Liam auf die Ausschalttaste. Wieder diese peinliche Stille. Ich schaltete das Radio erneut an. Er machte es wieder aus. Eher aus Trotz wollte ich erneut die Einschalttaste drücken, als Liam mir zuvorkam und nach meiner Hand griff. Mit voller Wucht drückte er auf die Bremse, immer noch meine Hand fest mit seiner umklammernd. Ich kreischte erschrocken und kniff die Augen zusammen.
„Bist du völlig durchgeknallt!!!", schrie ich adrenalingeladen, meine Hand aus seiner reißend.
Ich blickte nach hinten. Zum Glück fuhr diese gottverlassene Straße selten ein Auto entlang. Ich spürte jeden einzelnen Schlag meines wild pochenden Herzens.
„Was stimmt nicht mit dir?" Vorwurfsvoll starrte ich zu Liam.
Er sah mich stumm an, während die Sonnenstrahlen durch die Frontscheibe brachen und ihn direkt in die Augen trafen. Es schien ihm nicht im Geringsten was auszumachen. Ohne ein einziges Mal zu zwinkern, hielt er meinem Blick stand, bis seine Augen sich senkten und an meinen Lippen haften blieben. Kurz schien es, als ob er mir was sagen wollte. Doch abrupt wand er sich von mir ab und drückte aufs Gas.
Mein Herz war dabei, mir aus der Brust zu springen. Warum verspürte ich wieder diese Gefühle für ihn. Das darf nicht sein. Nein. Er darf es niemals erfahren.
Den Tränen nahe, blickte ich aus dem Fenster. Ich schluckte trocken, als unerwartet doch das Radio ertönte. Warum tut er mir so weh?
Zu Hause angekommen, blieb ich in meinem Zimmer, der Moment von vorhin ließ mich noch immer nicht los. Dieser Augenblick, als wäre da mehr. Dieses Empfinden für ihn. Diese Unruhe in meiner Brust. Ich dachte, ich hätte mich unter Kontrolle. Verdammt er ist mein Bruder! Ich versuchte, wie so oft, all meine Gedanken und Gefühle irgendwo in mir drin zu vergraben.
Erst als der Abend anbrach und Lui aufkreuzte, konnte ich mich dank ihrer quirligen Art ablenken. Ich überspielte so gut es ging, meine trübe Stimmung. Die Musik in meinem Zimmer spielte laut, während Lui sich im Spiegel meines Kleiderschrankes bewunderte. Lui sah verboten gut aus, in ihrem kurzen Jeansrock und enganliegendem Top. Egal was sie trug, sie sah immer großartig aus. Kein Wunder, Lui war groß, schlank und gesegnet mit einer langen blonden Mähne. Der Traum jedes Mannes. Manchmal fragte ich mich, wieso sie ausgerechnet mit mir abhing. Klar, wir kannten uns seit dem Kindergarten, doch eigentlich waren wir grundverschieden. Sie das reiche Modepüppchen, ich das rebellische Dorfkind ohne Dorf. Skeptisch betrachtete nun auch ich mich im Spiegel. Ich trug hellblaue Shorts und ein weißes, mit blauen Blumen besticktes, locker sitzendes Shirt. Mein haselnussbraunes Haar ließ ich offen, sodass es meine Schultern streifte. Sogar geschminkt war ich. Meine Sommersprossen hatte Lui „dezent" unter einer fetten Schicht Make-up und Wangenrush verspachtelt. Meine Augen brachte sie mit zartem, rosa Lidschatten und voluminöser Wimperntusche zur Geltung. Lipgloss glänzte speckig auf meinen Lippen und schmeckte leicht nach Kaugummi. Ich sah so anders aus. In diesem Moment wünschte ich mir, diese andere Person zu sein, welche ich im Spiegel erblickte. Zumindest für heute Abend.
„Lui, ich muss gestehen, meine Nerven lassen mich gerade im Stich. Ich war noch nie auf einer Strandparty. Ach was, überhaupt einer Party!" Nervös kratzte ich mich am Hals.
„Sei einfach du selbst", antwortete sie breit grinsend.
Du selbst. Das sagt sich so leicht.
Wir gingen herunter ins Wohnzimmer. Dad schaute fern und Liam lag auf der anderen Seite des Sofas, wie immer mit einem Buch in der Hand.
"Dad, wir würden gehen", murmelte ich und wollte mich gerade verziehen.
"Warte." Dad nahm Lui und mich etwas skeptisch unter die Lupe. Ich warf meiner Freundin einen auffordernden Blick zu. Unser Plan!
„Oh, beinah hätte ich es vergessen. Mister Spring, hier ist die Nummer meiner Mutter! Sie bestand drauf, dass ich sie Ihnen gebe. Sie können jederzeit anrufen, wenn Sie besorgt sind." Lui überreichte meinem Vater ein Stück Papier.
Dad nickte das Papier in Augenschein nehmend. Ich staunte nicht schlecht. Sie war gut, sogar ich kaufte es Lui ab.
„Hast du dein Handy?", fragte Dad mich.
Ich sah, wie Liam hinter seinem Buch hervorspähte und das Geschehen beobachtete.
„Alles da", sagte ich leicht genervt und klopfte auf die Tasche, um meine Schulter.
„Also gut Mädchen, dann viel Spaß."
„Danke, Dad." Ich umarmte ihn erleichtert. Wir wollten uns aus dem Staub machen, als sich plötzlich Liam räuspernd vom Sofa erhob und das Buch auf den Couchtisch legte. Er kam mir aufdringlich nahe, dabei steckte er seine Hände in die ausgeleierte Jogginghose und bückte sich zu mir auf Augenhöhe hinunter. „Was hast du da im Gesicht, Sprosse?"
„Wonach sieht es wohl aus?"
„Du siehst lächerlich aus", sagte er eiskalt und sah mich scharf an.
„Lass es mal meine Sorge sein, wie ich aussehe", giftete ich zurück.
„Lui! Ihr habt euch ja mächtig in Schale geworfen fürs gemeinsame Hausaufgaben machen oder so etwas Ähnliches", wandte sich Liam jetzt an meine Freundin.
Lui kicherte nervös: „Du weißt doch, wie wir Mädchen so sind?"
„Tu ich das?" Unbeeindruckt sah Liam Lui an.
„Natürlich weißt du es nicht. Du bist ja kein Mädchen", sagte Lui und kniff ihre Lippen peinlich berührt zusammen.
„Ihr geht doch nicht zu der Strandparty, von der alle reden?", verhörte Liam die Lui dreist weiter, während er mich mit seinem Blick erschlug.
Mein ganzer Körper versteife sich, und ich hatte das Gefühl, rot wie eine Tomate anzulaufen.
„Ist die Party heute?", fragte Lui und spielte plötzlich die Nichtsahnende.
Lui, du kleine Bitch, was würde ich nur ohne dich machen?
Liam gab ihr keine Antwort mehr, ließ mich mit seinem belehrenden Blick nicht aus den Augen. Entweder wurde ihm das Ganze zu dumm, oder er hatte uns durchschaut. Ich tendierte zum „Durchschaut".
„Jetzt haut schon ab, ihr zwei, und habt einen schönen Abend", sagte überraschend Dad, mich und Lui zur Haustür drängend.
Liam stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
„Alex!", sagte er laut.
„Lass es gut sein, Liam", antwortete Dad kühl.
Es war wie ein Befreiungsschlag, als die Haustür hinter uns zuging.
Lui sah mich irritiert an. „Ich nehme alles zurück. Dein Bruder hat wirklich nicht alle."
„Sag ich doch!"
„Trotzdem find ich ihn süß", schwärmte Lui per Druckknopf das Auto öffnend.
„Wir sollten nicht zu dieser Party gehen", nuschelte ich und setzte mich ins Auto.
„Er wird dort auftauchen, wird mich bloßstellen." Panik breitete sich in mir aus.
„Willst du dir wirklich die Party entgehen lassen, weil du deinen Bruder fürchtest?", fragte Lui, die plötzlich eine kleine Flasche Prosecco aus dem Handschuhfach neben mir zog und mir reichte.
„Du hast recht, soll er nur kommen, mir egal."
Es zischte zwischen meinen Fingern, als ich die Flasche öffnete und einen Schluck der prickelnden Flüssigkeit zu mir nahm.
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