Kapitel 10 - Die Pforte
Elvar
Geschockt musterte Elvar die Streifwunde, die der giftige Pfeil am Arm der Seelenlosen hinterlassen hatte. Eine hauchdünne Wunde. Sie blutete noch nicht einmal richtig. Ein winziger, harmloser Kratzer - wäre da nicht das Gift im Spiel gewesen. Dem Fluch erliegend, drückte Elvar sein Ohr an ihre Brust, versuchte ein Lebenszeichen zu erlauschen. Tatsächlich nahm er einen schwachen Schlag ihres Herzens wahr.
Sie lebt!
„Keine Sorge, mein Freund. Ich bring es zu Ende", sagte Roan.
„Was hast du getan?", murmelte Elvar fassungslos.
„Geh zur Seite, lass es mich zu Ende bringen", meinte der Mann nur.
Erst jetzt löste Elvar sich vom Anblick der Kriegerin, sah entsetzt zu Roan hoch, der stumm einen weiteren gelb markierten Pfeil auf die Seelenlose richtete.
„Ich befehle dir aufzuhören", rief Elvar, der Verzweiflung nahe, und warf sich schützend über den Körper der Frau.
Sofort lockerte Roan die Sehne seines Bogens.
„Mein Freund, ich versteh nicht", sagte er irritiert.
„Sie darf nicht sterben", flüsterte Elvar. „Sie darf nicht", wiederholte er mit einem Blick zu Roan.
„Aber natürlich, wie konnte ich nur! Natürlich willst du es selbst tun", sagte dieser und bot ihm den Bogen samt Pfeil an.
Daraufhin sprang Elvar auf, riss Roan den Bogen aus der Hand und packte ihn am Kragen. Erzürnt blickte das Halbblut in die hellen, jadefarbenen Augen, aus denen er versuchte, etwas herauszulesen.
„Warum bist du nur so wütend?", fragte Roan großäugig.
„Warum? Das fragst du auch noch? Ich dachte, ich kann dir vertrauen. Für dich bin ich doch auch nichts weiter, als ein nichts von Mensch! Nicht wahr?"
Roan schlug verärgert Elvars Hände von sich.
„Hör dich nur reden! Sag mir, was geschehen ist!"
„Spiel nicht den Unwissenden! Du warst es, nicht wahr?"
Roan sah ihn verblüfft an. „Was war ich?"
„Der Fluch!", brüllte Elvar Roan in die Mangel nehmend.
„Ein was?"
„Tu nicht so scheinheilig."
„Bist du von Sinnen? Ich bin dir ergeben, bis das Bündnis uns trennt, und darüber hinaus will ich dir ein Freund sein. Das weißt du doch! Die Götter haben entschieden, als du mir halfst."
„Ein Freund willst du sein? Wo warst du, als ich dich brauchte?"
„Zum Götterfunken, Elvar, sie hatten mich entdeckt! Ich musste sie auf eine falsche Fährte führen. Du hinterfragst mich, als wäre ich dein Feind! Wäre dir die gesamte Armee des Nachthofes am Halse lieber?"
Elvar sah Roan ungläubig an und wusste nicht mehr was er denken sollte.
„Während du eine falsche Fährte legtest, war ich meinem Ende nah. Doch... sie konnte mich nicht töten."
„Ist das nicht etwas Gutes?"
„Etwas Gutes?", fragte Elvar empört.
„Immerhin lebst du. Und jetzt lass mich dem Ganzen ein Ende machen! Lass mich das verfluchte Weibsstück umbringen."
Elvar verstummte zur Seelenlosen blickend.
„Elvar. Gib mir deine Zustimmung", forderte Roan.
Doch Elvar schwieg weiterhin.
„Sag es, mein Freund. Gib mir deine Zustimmung. "
„Begreif doch, ich kann es nicht zulassen! Du kannst sie nicht töten", schrie Elvar. „Wenn du es wagst sie anzurühren, werde ich dich umbringen." Zorn lag in seiner Stimme.
Roans Augen weiteten sich, während ein ungläubiges Grinsen über seine Lippen huschte. Verdutzt schüttelte er den Kopf und schrie mit einem Mal: „Was zum Götterfunken ist das für ein Fluch!?"
Elvar sah ihn stumm an.
"Ein Liebeszauber? Hat sie einen Liebeszauber über dich gelegt? Doch wozu? Das ergibt keinen Sinn", überlegte Roan laut.
"Ich mutmaße ein Abhängigkeitsfluch", erwiderte Elvar sich verzweifelt an den Kopf greifend.
Roans Mimik verfinsterte sich.
"Ein Abhängigkeitsfluch?" Er ging auf und ab. "Da liegt sie. Da vor deiner Nase und du willst mir weißmachen, wir können sie nicht töten wegen einem Abhängigkeitsfluch? Bist du dir sicher?"
"Ich weiß nicht. Doch eins weiß ich genau, wenn sie könnte, wäre ich bereits ein toter Mann", meinte Elvar mit hängenden Schultern.
Daraufhin legte Roan frustriert die Hände in den Nacken und blickte in die Höhe, als müsste er sich einen Augenblick sammeln.
„Der Pfeil hat sie nur gestreift. Sie wird doch wieder erwachen? ", fragte Elvar zu Roan blickend.
"Ich fasse es nicht, du benimmst dich in der Tat, wie ein Besessener", erkannte Roan mit weit aufgerissenen Augen.
"Es ist der Fluch! Nichts ist mir lieber, als sie tot zu sehen!", verteidigte sich Elvar.
„Schon gut, schon gut. Ich habe verstanden", zischte Roan sich nervös umblickend. "Ich weiß nicht, ob sie es überlebt", antwortete er auf Elvars Frage. "Doch wenn die Götter gut gestimmt sind, wird sie hier ihr Ende finden. Wir sollten schleunigst von hier verschwinden", nörgelte Roan. Ich fürchte sie sind uns bereits auf der Spur.
„Ich werde sie hier nicht zurücklassen."
„Was? Du scheinst deinen Verstand verloren zu haben", stellte Roan entsetzt fest. "Wohin willst du mit ihr? Etwa nach Prytanien? Willst du deines gleichen und die Asen in Gefahr bringen? Begreif doch, Tarvo wird keine Ruhe geben, bis er Zaria zurückhat. Er wird nicht aufgeben. Lass sie hier!"
"Ich kann sie nicht zurücklassen. Begreif doch!", sprach Elvar, ohne Roan in die Augen blicken zu können.
Ich kann nicht", erklärte Elvar nochmal. "Was, wenn durch den Fluch unsere Leben miteinander verbunden sind?"
"Verbunden? "
"Ich denke sie konnte mich nicht töten, weil sie meinen Schmerz fühlte, sowie ich den ihren vernahm."
Wenn Tarvos Männer sie nicht finden... Ich kann sie ihrem Schicksal nicht überlassen. Was, wenn es auch mein Schicksal bedeutet?"
"Wir müssen mehr über diesen Fluch herausfinden", meinte Roan ratlos und musterte die Kriegerin und das Halbblut, während Elvar sich ins Schweigen hüllte.
Was konnten sie nur tun? Tarvo und seine Schergen würden sie bis ans Ende von Taurius verfolgen, sie wären nirgends sicher. Nicht solange die Seelenlose bei ihnen war. Früher oder später würde Tarvo einen Weg finden, sie aufzuspüren. Schließlich hatte er Zorra an seiner Seite. Eine mächtige Zauberin. Vielleicht die mächtigste, die es je gab. Elvar wünschte sich vom Erdboden verschluckt zu werden. Und dann, dann hatte er plötzlich die Lösung für seine Not.
Die Pforte!
Mit einem Mal wusste Elvar, was er zu tun hatte, wohin er mit der Seelenlosen fliehen konnte. Er kannte den Weg. Er war schon einmal durch die Pforte hindurch geschritten. Damals war es aus Neugier geschehen, dieses Mal war es die Verzweiflung, welche ihn trieb.
„Du hast recht", sagte er zu Roan und sah ihn entschlossen an. „Ich kann nicht zurück nach Prytanien. Nicht mit ihr. Das wäre Hochverrat. Wir tauchen unter. Wir verstecken sie in der anderen Welt."
„Du meinst die Welt von der du erzählt hattest?", fragte Roan skeptisch die Braue hochziehend.
Elvar nickte. „Er wird sie nicht finden! Nicht dort", sagte Elvar mit aufgeregter Tonlage.
„Du bist wahrlich von allen Göttern verlassen!", schlussfolgerte Roan verdattert. „Wie kannst du dir so gewiss sein?"
„Bin ich nicht", meinte Elvar und sah Roan angespannt an.
„Und dann? Was wirst du tun, wenn sie dort ist? Bleibst du bei ihr, in dieser Welt? Erzählst du der Seelenlosen Gutenachtgeschichten, bis zum Ende deines Daseins? Der Mörderin von Noria?"
„Ich weiß es noch nicht", krächzte Elvar entkräftet. Den Spott in Roans Aussage ignorierend. Trotz seiner Erschöpfung versuchte er, die Seelenlose hochzuheben.
Roan stöhnte sogleich klagend auf: „Das kann ja keiner mitansehen! Jetzt geh schon zur Seite."
Elvar tat wie geheißen.
„Ich gebe auf", beklagte Roan, während er die Seelenlose vom Boden hochhob. " Es hat keinen Zweck, dir etwas zu erklären", regte er sich auf. "Doch eins wirst wohl auch du begreifen, wir sollten schleunigst von hier verschwinden! Und dann, dann zeigst du mir den Weg in diese andere Welt."
Elvar nickte müden Blickes. Stumm folgte Roan Elvar, mit der Seelenlosen am Rücken, bis eine Frage von ihm erklang: „Du hast mir nie erzählt, dass du den Weg zu dieser anderen Welt kennst."
„Es ist nichts worauf ich stolz bin."
Roan hielt an: „Weißt du, ob die Pforte von jemanden bewacht wird?"
„Ja."
„Ja, was?"
„Ein Torhüter ist auf der anderen Seite der Pforte."
„Doch nicht etwa der Mensch, von dem man sich noch immer erzählt. Der eine, wegen dem, den Halbblütigen all das Unglück widerfahren ist? "
Elvar drehte sich zu Roan um. Musterte ihn und die Seelenlose hinter ihm. „Genau der", verriet er und setzte sich wieder in Bewegung.
„Wie kannst du dir gewiss sein, dass dieser Torhüter uns durchlässt?"
„Er wird es", sagte Elvar nüchtern.
„Mögen die Götter uns bewahren, vor dem, was uns bevorsteht", murmelte Roan ehrfürchtig vor sich hin. „Was uns in dieser Welt wohl erwartet? Die Menschenwelt ... Gewiss nichts Gutes.
Elvar sagte nichts.
„Nichts für ungut mein halbblütiger Freund, jedoch wüsste ich nur zu gern, worauf ich mich einlasse. Wie diese Menschen dort wohl sind?"
„Sie sind frei", erwiderte Elvar nur.
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