2 0 e n t y : Ehrlichkeit
Ich habe noch nie geschwänzt. Wirklich, nie. Wenn ich im Unterricht gefehlt habe, dann war ich wirklich krank, oder hab mich miserabel gefühlt.
Es gibt für alles ein erstes Mal, nicht wahr?
Zum Glück hat mein Opa mir erlaubt heute im Bett zu bleiben. Vielleicht hat er gemerkt, dass es mir nicht gut geht, oder er hat angenommen, dass es etwas mit Weihnachten zu tun hat, das immer näher rückt. Ich bin auf jeden Fall nicht in die Schule gegangen, habe mir stattdessen eine Höhle aus Decken gebaut, weil wir das früher immer gemacht haben, und mich in diese hereingelegt. Während ich im Hintergrund irgendeine Playlist laufen lasse und mein Kissen tiefer unter meinen Kopf presse, gehe ich die Szene, die sich gestern bei Alec abgespielt hat, immer wieder durch.
Wieso küsst er mich zurück, wenn er nur befreundet sein will? Wieso lässt er sich darauf ein und macht mir unnötige Hoffnungen und bringt mein Herz durcheinander und meinen Körper auf Adrenalinkonsum und wieso muss er so ein Idiot sein.
Wieso muss ich so ein Idiot sein? Wieso musste ich ihn küssen? Oh Gott, ich habe ihn zuerst geküsst!
Frustriert presse ich mein Gesicht in mein Kissen und beginne für eine Weile nur zu schreien, weil die Situation einfach dumm ist. Ich weiß, dass ich mich wohl verdammt kindisch verhalten muss, aber habe ich nicht ein Recht dazu? Ist meine Reaktion vielleicht doch etwas zu übertrieben? Es war doch nur ein Kuss, oder? Für ihn war es sicherlich nur ein dummer Kuss. Er hat sicherlich schon eine Menge Mädchen geküsst, und ich habe auch schon Jungs geküsst, ohne so ein Drama daraus zu machen also wo liegt bitte mein Problem?
Ich weiß, dass es für mich mehr war. Aber ich muss lernen die Dinge nicht nur aus meinen Augen zu betrachten. Alec war eventuell verwirrt. Die Trennung, die Sache mit Jonny, diese neue Freundschaft. Es ist viel, nicht wahr? Ist es das nicht?
Schniefend kugele ich mich stärker zusammen und schalte Let it be lauter, so laut es geht. Vermutlich so laut, dass selbst meine Großeltern etwas von unten mitbekommen werden. Aber es übertönt mein Geschluchze. Die beiden sollen lieber die Beatles hören, als mein klägliches Weinen.
Ich verfluche mich dafür, dass ich das Kribbeln auf meinen Lippen immer noch spüre. Es will einfach nicht weggehen. Selbst seinen Duft bekomme ich nicht aus meinen Gedanken. Es scheint mir, als wäre er in meinem Zimmer, als würde er mich kritisch aus meinem Stuhl mustern und sich vielleicht darüber lustig machen, wie sehr ich übertreibe.
Übertreibe ich? Vielleicht.
Ich drehe mich auf die andere Seite, weg vom Fenster, aus dem ich nur den fallenden Schnee sehe. Mein Computerbildschirm leuchtet in einem hellen Blau. In meine Decke gekuschelt mache ich mich auf den Weg zu ihm, sauge die Worte, die in verschiedenen Posts geschrieben wurden, ein, muss aber schnell feststellen, dass nichts wirklich hilft. Zum ersten Mal seit so langem komme ich mir hilflos vor. Ich kann so viel lesen wie ich will, so viele Bilder anstarren wie möglich, aber keines trifft wirklich zu. Keines kann mir helfen. Ich fühle mich alleine.
Frustriert kicke ich um mich, werfe mich auf den Boden und schluchze weiter.
Home von Passenger ertönt aus meinen Boxen, machen die Situation nur schlimmer.
They say home is where the heart is
but my heart is wild and free
So am I homeless
Or just heartless?
Oh they say love is for the loving
Without love maybe nothing is real
So am I loveless or do I just love lessOh since love left
I have nothing left to fear
Es hilft nicht. Traurige Lieder zu hören, während man sich fühlt, als würde die gesamte Welt über dir zusammenbrechen. Das müsste ich eigentlich besser wissen. Ich höre trotzdem nicht auf.
Meine Mutter hatte sich, immer wenn ich traurig war, neben mich auf den Boden gelegt und mir ihre traurigen Lieder vorgespielt, mich in den Arm genommen und mir versichert, dass alles gut sein wird.
Jetzt, wo sie nicht mehr da ist, jetzt wo sie es mir nicht mehr versichern kann, weiß ich nicht, ob überhaupt noch einmal etwas gut werden kann.
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"Schlagt bitte eure Bücher auf Seite 54 auf und lest den ersten Abschnitt", kommt Mrs Hill Stimme wie durch einen Tunnel zu mir hindurch. Ich starre vor mich hin, während ich nach meinem Buch greife und wahllos darin herumblättere. Welche Seite sollten wir lesen?
Die Klasse verfällt in Schweigen, anscheinend lesen alle ihren Text. Und da Jonny nicht da ist fallen auch keine bescheuerten Sprüche durch den Raum. Jonny, der zwei Wochen lang suspendiert wurde, nachdem er die Nummer abgezogen hat. Er musste sich einiges vom Rektor anhören. Er hat es definitiv verdient, keine Frage. Ich bin froh, dass er nicht ungestraft davon gekommen ist. Ich frage mich nur wer ihn gemeldet hat. Wahrscheinlich war es Alec, vielleicht auch Maja. Ich war es auf jeden Fall nicht.
Meine Motivation zu lesen hält sich in Grenzen. Stattdessen starre ich nur abwesend auf die gedruckten Wörter vor mir und verirre mich wieder in meinen Gedanken. Ich habe Alec gesagt, dass Freunde sich nicht so verhalten. Freunde kommen nicht plötzlich in dein Leben und küssen dich auf einem teuren, schwarzen, edlen Flügel eine Woche nachdem sie sich von ihrer Langzeitfreundin getrennt haben. Und sie tauchen auch nicht sturzbesoffen vor deiner Türe auf, oder verletzen sich die Hand, weil sie einen Mitschüler aus rasender Wut ins Gesicht schlagen.
Ich bin so dumm. Alec ist nicht nur ein Freund für mich. Und was ich für Alec bin ... kann ich mir nicht beantworten.
"Charly?", reißt mich Mrs. Hill unbarmherzig aus meinen Gedanken. "Willst du vielleicht lieber nach Hause gehen?"
"Was?", stammele ich unbeholfen zurück und hebe meinen Blick in die Richtung meiner Lehrerin, die mich streng mustert.
"Du bist nicht anwesend. Konzentriere dich oder geh raus", meint sie und widmet sich wieder der gesamten Klasse, lässt mich in einer Wolke des Unbehagen alleine an meinem Platz sitzen, mit vereinzelten Augenpaaren, die mich ebenfalls anstarren. Ich seufze nur auf, fahre mir übers Gesicht und nehme mir vor meine Lehrerin nicht noch mehr auf die Palme zu bringen.
Alec sitzt nicht in unserer Leseecke in Margot Spuren vertieft. Zugegeben hatte ich etwas gehofft ihn hier aufzufinden, nachdem ich ihn den ganzen Tag noch nicht gesehen hatte. Entweder er ging mir aus dem Weg, oder er war einfach nur beschäftigt oder er hat das Buch bereits durchgelesen und keinen Grund mehr seine Pause in der Bibliothek zu verbringen. Vielleicht will er mich auch einfach nicht sehen. Er hat ja auch keinerlei Verpflichtung hier mit mir zu sitzen.
Die Zeilen in meinem Buch schaffen es heute nicht, meine Aufmerksamkeit für sich zu erlangen. Die ganze Zeit driften meine Gedanken zurück an den Kuss, an meine Aussagen an ihn und an seinen verletzten, unschlüssigen Blick. Mein Buch langweilt mich so sehr, dass ich es sogar wage mein Handy einzuschalten, obwohl es verboten ist. Das erste Mal, dass ich es mich traue seit ich auf diese Schule gekommen bin, aber ich fühle mich so alleine und verwirrt, dass ich gerade jetzt einen Freund gebrauchen kann.
Ich gebe meinen Pin ein, warte bis sich mein Handy hochgefahren hat und tippe auf das Icon des blauen Begleiters, der mir beim Öffnen sofort ein besseres Gefühl gibt und die Nervosität ablöst.
Ein paar Bilder von Sonnenuntergängen scheinen mir entgegen, eine kleine Entenfamilie die über die Straße watschelt, Erdbeeren und sonnige Vibes. Alles schön und gut, aber ich brauche einen Rat.
Was soll ich tun? Soll ich zu Alec gehen und ihn fragen was er denkt? Was er von der ganzen Situation hält? Ob er genauso verwirrt ist wie ich? Oder soll ich ihn in Ruhe lassen, ihm Freiraum geben und mich wieder auf die Schule konzentrieren, die ich in den letzten Wochen zugegeben etwas vernachlässigt habe.
Jonny, denke ich direkt und verdrehe meine Augen. Ich bin, wer auch immer ihn verraten hat, total dankbar. Schule ohne ihn und seine miesen Aktionen ist viel entspannter. Und dass ich, zumindest für eine kurze Zeit, seine dummen Sprüche nicht hören oder ihn sehen muss kommt mir ebenfalls zu Gute.
Obwohl das Problem mit Jonny für ein paar Tagen gelöst ist, hilft es nicht sonderlich die Gesamtsituation zu verbessern. Und wie es aussieht hilft Tumblr mir auch kein Stück weiter. Ich bekomme eine Menge Bilder angezeigt; Bilder von Kunst und Landschaften und besonders viele Bilder von verliebten Pärchen, die man sich nur anguckt und sich wünscht, man würde auch so etwas haben. Es ist, als will Tumblr mir unter die Nase reiben, was ich nicht habe. Als will es mich provozieren.
"So hilfst du mir nicht weiter", seufze ich frustriert und schließe die App nach kurzer Zeit, ohne Erfolgsgefühl, wieder.
"Wer hilft dir nicht weiter?", erschreckt mich die Stimme von Alec, mit der ich nicht mehr gerechnet habe. Die Pause war beinahe vorbei. Ruckartig hebe ich meinen Kopf und blicke in seine ruhigen Augen, die gezielt auf mich gerichtet sind. Er steht vor mir, in kuscheligem Hoodie und mit verstrubbeltem Haar, als hätte er heute Morgen keine Zeit mehr gehabt sie zu richten.
"Was?", stammele ich unbeholfen.
"Du meintest etwas wie 'So hilfst du mir nicht weiter'", sagt er dann und bewegt sich keinen Meter. Er steht weiterhin nur vor mir und blickt mich an.
"Oh meine Oma", murmele ich flunkernd und stecke mein Handy in meine Hosentasche, lege meine Hände auf den Tisch vor mir und spiele an meinem Buch rum. "Was machst du hier?"
Ich sehe wie Alec seine Schultern hebt und frage mich, warum er so komisch ist.
"Wir sind doch immer hier in den Pausen, oder? Außerdem wollte ich nach der Aktion erstmal nicht mehr in die Cafeteria. Alle starren nur."
"Sie starren dich an?", frage ich.
"Ja. Genau wie du gerade", meint er und zieht den Stuhl zurück, um sich an den Tisch zu setzen. "Muss wohl für viele interessant sein, was da abgelaufen ist."
"Vermutlich", murmele ich. Ich hatte Alec nicht so eingeschätzt. Ich dachte es ist ihm egal was über ihn geredet wird und erst recht kümmert es ihn nicht was andere von ihm denken. "Geht es dir gut?", frage ich stattdessen und lasse das Thema fallen, nachdem ich ihn etwas genauer gemustert habe.
Ich sehe ihn das erste Mal mit prägnanten Augenringen, die ihn müde wirken lassen. Dazu kommen die ungestylten Haare und der hängende Kopf.
"Ja", antwortet er sofort nickend, beißt sich auf der Lippe herum und schüttelt dann doch den Kopf. "Na ja, ich hab wenig geschlafen."
"Ich auch", murmele ich.
"Ich habe über deine Worte nachgedacht und du hast recht. Wir verhalten uns nicht wie Freunde."
Dass er direkt an unser letztes Gespräch anknüpft trifft mich unvorbereitet. Ich hatte eher das Gefühl, dass er mir aus dem Weg geht und es vermeidet darüber zu reden. Stattdessen schafft er es wieder meinen Herzschlag mit einem Satz zu beschleunigen.
"Oh", mache ich nur und blicke auf den Tisch, starre meine eigenen Finger an, ehe ich mich dazu zwinge wieder zu ihm zu gucken.
"Und dazu bin ich nicht bereit", fährt er langsam fort und kratzt sich den Nacken. Überrascht öffne ich meinen Mund, bin allerdings nicht in der Lage etwas herauszubringen. Ohne mir die Zeit zu geben, etwas zu erwidern, fährt er fort. "Ich habe mich erst vor wenigen Tagen von Jules getrennt und ich bin nicht bereit direkt etwas Neues anzufangen. Ich brauche Zeit für mich, um zu verarbeiten was passiert ist."
Das Stechen in meinem Brustkorb, dass mit jedem Herzschlag stärker wird, versuche ich krampfhaft herunterzuschlucken. Seine Worte treffen mich unvorbereitet, dafür umso härter. Ich habe nicht damit gerechnet ihn heute noch zu sehen, nur damit er mir klar macht, dass er nicht so empfindet wie ich für ihn.
"Okay", hauche ich verstehend aus und drücke sämtliche Gefühle herunter, in der Hoffnung dass er mir nichts anmerkt. Es war so klar, schreie ich im Stillen. Es hätte mir direkt klar sein müssen.
"Aber ich will dich auch nicht als Freundin verlieren", fährt er fort und blickt nun vorsichtig in meine Richtung. "Ich mag dich sehr Charly. Du hast ein gutes Herz und du verurteilst mich nicht dafür, dass ich nachts vor deiner Türe stehe und dir Probleme bereiten könnte. Ich fühle mich wohl in deiner Gegenwart."
Die Friendzone ... die gefürchtete Friendzone hat mich ein weiteres Mal in ihren Bann gezogen.
"Verstehe", erwidere ich, nachdem er eine Weile nur schweigt. Da ich davon ausgehe, dass er alles, was er sagen wollte, gesagt hat, suche ich nun nach den richtigen Worten.
Soll ich ihm sagen, dass es für mich okay ist, auch wenn ich ihn mehr mag als nur einen Freund? Oder soll ich ihm beichten wie ich wirklich stehe? Welche Option wäre die Beste?
Ich bin kein selbstsüchtiger Mensch, und die Voraussicht darauf, dass Alec und ich keine Zeit mehr miteinander verbringen, weil ich es nicht schaffe nur mit ihm befreundet zu sein, klingt nicht gerade toll. Ich mag es Zeit mit ihm zu verbringen. Ein bisschen Zeit ist besser als keine Zeit, nicht wahr? Alles andere wäre selbstsüchtig. Seine Entscheidung zu akzeptieren ist das Einzige, das ich machen kann ohne ihn zu verlieren. Ich kann es wenigstens versuchen..
Also rackere ich mir ein Lächeln ab, schlucke und strecke ihm meine Hand entgegen. Verwirrt lässt er seinen Blick auf dieser ruhen.
"Was machst du da?", fragt er.
"Freunde", ringe ich heraus und lächele weiter. "Wir versuchen es als Freunde. Also richtig dieses Mal."
"Bist du sicher?", erwidert er daraufhin und blickt weiterhin skeptisch ohne sich zu regen. "Ich-"
"Ich bin sicher", unterbreche ich ihn jedoch, bevor er etwas anderes erwidern kann und winke ab. "Freunde."
"Okay", murmelt er entgegen und schlägt nach ein paar weiteren Augenblicken in mein Angebot ein.
Ich lächele ihn weiter an und kann die Frage, ob es mir gelingen wird ihn anders zu sehen, nicht beantworten.
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Hey :)
Ich weiß, es ist weder Weihnachten, noch Advent, aber ich wollte die Geschichte trotzdem irgendwie noch abschließen, weshalb ich dies versuchen werde.
Die Geschichte war als Adventskalender-Geschichte gedacht, und da ich dies nicht mehr einhalten kann, habe ich mich dazu entschlossen, anstatt den geplanten 24 Kapiteln doch noch ein paar dran zu hängen und die Sache etwas auszubauen.
Würde mich freuen, euch hier wieder anzutreffen xx
Alina
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