1 7 v e n t e e n : Es veränderte alles
24. Dezember, drei Jahre zuvor
"Du musst ihn füttern! Er verhungert ja beinahe schon!"
"Schon gut, Teddy. Ich bin schon in der Lage auf ihn aufzupassen!"
"Wirklich? Wenn du das wirklich wärst, dann würdest du ihn nicht so quälen! Deine Kinder werden mir echt leid tun!"
"Wenigstens werde ich in der Lage zu sein, welche zu haben!", schieße ich zurück und strecke ihm meine Zunge heraus.
"Die werden genauso schnell eingehen, wie Pou", meint er nur und schnauft auf. "Du lässt mich nicht einmal mit ihm spielen."
"Ich habe nicht vor ihn unnötig zu quälen", erwidere ich nur und schließe die App auf meinem Handy. Später werde ich noch einmal nah Pou sehen. Teddy hat unrecht. Es geht ihm gut bei mir. Er ist einfach nur blöd. "Außerdem bist du nur neidisch, dass du noch kein Handy bekommen hast."
"Charly, Teddy, schnallt euch bitte an", sagt meine Mutter, als sie sich auf den Beifahrersitz des Fahrzeugs setzt und ihre Brille aus dem Handschuhfach holt. Mein Vater, der gerade noch die Scheiben freikratzen musste, kommt kurz darauf dazu und schaltet sofort die Sitzheizung an.
"Puh, ist das kalt", sagt er und reibt seine Hände aneinander."
"Ich habe dir gestern noch gesagt, dass du lieber das Auto hereinstellen sollst."
"Ja, Hase", meint er nur abwinkend. "Ein bisschen Kratzen ist auch nicht schlimm."
"Wie du meinst", seufzt meine Mutter nur und beendet die kurze Diskussion.
Da Teddy immer noch Probleme damit hat, sich eigenhändig anzuschnallen, übernehme ich diesen Part für ihn und ziehe ihm neckend seine Mütze etwas herunter, sodass sie über seine Augen fällt.
"Hey!", jappst er auf.
"Ups", kichere ich nur und setze mich richtig auf meinen Sitz, schnalle mich ebenfalls an.
"Oasis oder Beatles?", fragt mein Vater uns und hält die beiden CD's in seinen Händen.
Einstimmig stimmen wir für die Beatles und kurz nachdem mein Vater die CD in den Lauf gelegt hat, erklingt schon das erste Lied. Let it be.
"Los geht's! Auf zu Oma", sagt mein Vater und schaltet den Motor an, fährt rückwärts aus der Ausfahrt heraus und auf die Straße, auf der immer noch eine Schicht Schnee liegt. Schon die ganzen letzten Tage hat es so viel geschneit, dass die Räumungsdienste keine Chance haben hinterherzukommen.
Es sieht aber wunderschön aus. Die Bäume voller weißer Masse runden das Bild einer winterlichen Märchenwäld ab. Aus den Schornsteinen quillt Rauch, von den Kaminen, die angezündet wurden, weil es viel schöner ist sich zusammen am Feuer zu wärmen, als an der Heizung. Und die ersten Lichter gehen ebenfalls an.
"Guck mal wie schön Familie Monroe ihren Garten geschmückt hat!", ruft Teddy aus und klebt mit seinem Gesicht praktisch an der Fensterscheibe. Ich recke mich in seine Richtung um ebenfalls einen Blick auf die vielen, bunten Lichterketten zu werfen, als wir daran vorbei fahren.
"Wahnsinn", staune ich ebenfalls und genieße Teddys Locken, die mich ein wenig am Hals kitzeln.
"Meinst du unsere Schneemänner stehen übermorgen noch, wenn wir von Oma zurückkommen?", fragt Teddy meinen Vater, der ihn kurz durch den Rückspiegel anguckt.
"Na klar", versichert mein Vater ihm. "Und wenn nicht, dann bauen wir eben gleich einen neuen."
"Aber dann klauen wir Mama doch alle restlichen Karotten weg", kichert er leise vor sich hin.
"Ihr wart das? Deswegen fehlt die Hälfte meiner Karotten?", lacht meine Mutter nur, aber ich höre heraus, dass ihr klar war, wer dahinter gesteckt hat.
"Ein Schneemann braucht doch nur eine Nase", meint Mama und lächelt uns an. "Warum fehlen mir dann so viele?"
"Der kleine Mann hatte Hunger. Ich konnte ihn mitten in der Bauphase wohl kaum verhungern lassen!"
Ich lache bei der Erklärung, und dem darauf folgendem Blick meiner Mutter amüsiert auf, ebenso wie Teddy.
Während mein Vater unsere Straße verlässt und ins Stadtzentrum abbiegt, durch das wir fahren müssen, verschwindet die Sonne schnell und taucht die Welt wieder ins Dunkle. Aber im Winter mag ich die Dunkelheit. Im Winter ist es nicht wirklich Nacht. Nicht, wenn so viele Lichter um die Wette strahlen.
"Opa hat einen neuen Fernseher gekauft", sagt Papa dann, nachdem er um einen Kreisverkehr gefahren ist. "Ein riesiges Ding. Aber es hat eine echt gute Bildqualität."
"Ein neuer Fernseher?", frage ich mich großen Augen. "Etwa so einen, der so groß ist wie ein Kino?"
"Nicht ganz", sagt meine Mutter. "Aber nah dran."
"Wie cool", staunt Teddy mit mir um die Wette.
Meine Mutter erzählt von dem neuen Gerät, das mein Opa sich gekauft hat, um besser seine Fußballspiele anschauen zu können, und zeigt uns mit ihren Händen circa die Größe an, die er hat. Ich habe keine Ahnung, ob sie irgendwann nicht doch übertreibt, aber ihrer Ansicht nach passt der Bildschirm auf keinen Fall ins Auto. Er sei einfach viel zu groß. Ich habe keinen Grund ihr nicht zu glauben, aber ich will mich zuerst selbst davon überzeugen.
"Wenn ihr lieb fragt könnt ihr ihn ja gleich mal ausprobieren", meint mein Vater.
"Aber die Geschenke", wendet Teddy sofort ein. "Wir müssen doch erst unsere Geschenke öffnen. Der Weihnachtsmann hat sie doch schon bei Oma und Opa abgelegt, oder?"
"Ja Teddy", meint meine Mutter nickend. "Das haben wir euch doch vorhin schon gesagt."
Ich weiß natürlich, dass es den Weihnachtsmann nicht wirklich gibt. Nicht wirklich zumindest. Ich weiß nicht, wie weit man gehen soll. Meine Vater kann man nämlich nicht als solchen abstempeln, nur weil er sich immer einen langen, weißen Bart ins Gesicht klebt.
Vor drei Jahren habe ich es erfahren, als ich abends vor Weihnachten vor Aufregung einfach nicht einschlafen konnte. Der Weihnachtsmann hätte jeden Moment ankommen können und ich wollte ihn auf keinen Fall verpassen.
Also habe ich mich aus meinem Bett geschlichen und bin die Stufen heruntergeschlichen, um einen Blick durch den Türspalt ins Wohnzimmer werfen zu können. Es war kein Weihnachtsmann zu sehen, nur meine Eltern, die lachend miteinander im Wohnzimmer zu ihrem Lieblingslied getanzt haben. Ich habe mich vor die Türe gesetzt und ihnen zugeguckt, wie mein Vater sie herumgewirbelt und gedreht und anschließend geküsst hat. Als sie im Anschluss unsere Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt haben, war mir klar, dass es nicht das erste Mal war. Ich habe eins und eins zusammen gezählt und wusste irgendwie, dass es den Weihnachtsmann nie gab. Meine Eltern haben ihn nur all die Jahre ziemlich gut gespielt. Aber Teddy glaubt noch daran. Er glaubt noch an einen Mann im Schlitten, der mit seinen fliegenden Rentieren jedes Jahr zu Weihnachten seine Runde dreht, um Geschenke auszuliefern. Er soll es auch noch etwas glauben. Ich fande es immer ziemlich schön an so etwas glauben zu können.
"Er hat uns doch nicht vergessen, oder?", will sich mein Bruder schnell vergewissern.
"Natürlich nicht Teddy. Du warst doch brav dieses Jahr!"
"Aber Charly nicht", meint er und zeigt auf mich. Mit offenem Mund starre ich ihn nur an.
"Das stimmt überhaupt nicht! Ich war brav!", verteidige ich mich sofort. "Du Blödian."
"Hey, hey, hey", höre ich meinen Vater lachen. "Ihr seid beide ganz brave Kinder."
"Aber ich bin braver als Charly", wendet Teddy schnell ein, ehe ich meinen Arm um ihn schlinge und ihn zu mir ziehe, um ihm unbarmherzig durch die Haare zu wuscheln.
"Hey!", quiekt er auf und versucht sich aus meinem Griff zu befreien, aber ich lasse nicht locker.
"Du hast 'ne viel zu große Klappe", grinse ich siegessicher und stichele ihn weiter an, lasse nicht los und genieße es sichtlich, wie er leidet.
"Du bist blöd!", ruft er mir nur verzweifelt entgegen und krallt sich in meinen Arm um zu versuchen ihn wegzudrücken.
"Lass ihn los Charly", bittet mich meine Mutter, nachdem ich noch einige Augenblicke nicht losgelassen habe. Also gebe ich mich geschlagen und löse meinen Griff um ihn und lasse ihn, mit verwuschelten Haaren, los.
"Du hast meine ganze Frisur kaputt gemacht", beschwert er sich sogleich und geht sich durch die Mähne, die in alle Richtungen absteht.
"Du Armer", erwidere ich nur unbeeindruckt und schaue ihm grinsend dabei zu, wie er versucht das Chaos wieder in Ordnung zu bringen.
Ich blicke aus dem Fenster, um zu bemerken, dass wir die Stadt gerade verlassen haben. Große Tannen wachsen bis an den Straßenrand und werfen schwache Schatten, vom Mond aus, auf den Asphalt, der im sanften Licht glitzert. Mein Vater beschleunigt, weil es erlaubt ist schneller zu fahren und lehnt sich in seinen Sitz zurück.
Wir fahren, keiner sagt ein Wort, nur die Beatles singen weiter ihre Lieder in der Reihenfolge, die wir schon zig Male durchgehört haben. Ich erkenne Paul McCartneys Stimme heraus und freue mich darüber, dass ich ihn erkennen konnte. Meine Mutter gähnt vorne, Teddy spielt an seinem Reißverschluss herum, und ich starre meine Reflektion in der Scheibe an.
Hello Goodbye, das nächste Lied, das angespielt wird, soll das Lied sein, bei dem es passiert.
Hello, an den betrunkenen Fahrer des Wagens, der hinter der nächsten Kurve die Kontrolle verliert, von der Bahn abkommt und auf unsere Bahn zieht, ohne daran zu denken, was das für Nachwirken haben könnte. Ich habe keine Ahnung, ob er sich überhaupt irgendetwas gedacht hat, als er sich hinter das Steuer gesetzt hat. Wahrscheinlich hat er gar nichts gedacht. Das muss es wohl sein.
Goodbye an meine Eltern, meinen Bruder und einen Teil von mir selbst, den ich im nächsten Moment auch schon für immer verlieren werde. Es ist kein freiwilliger Abschied, oh Gott, auf keinen Fall.
Es ist kein trauriges Lied. Ein trauriges Lied wäre passender, aber der schnelle Beat und der freudige Klang der Melodie bringen einen nicht zum Weinen, oder jagen einem Gänsehaut über den ganzen Körper. Es regt eher zum Tanzen an. Man kann gut dazu wippen, gut seine Hüften schwingen und man kann dazu auch lachen. Aber schreien kann man nicht. Man kann nicht weinen oder sich verfluchen oder vor Tränen zusammenbrechen.
Niemand schreit, dafür geht es zu schnell. Wir starren einfach nur mit großen Augen auf die Lichter, die auf uns zurasen. Ich sehe im Augenwinkel, wie meine Mutter ihre Hand vor ihre Augen zieht, als würde ein einziger Arm ein ganzes Auto abwehren. Das tut sie nicht. Ich weiß nicht, was es abhalten hätte können.
Wir hätten vermutlich einfach Zuhause bleiben und dort heilig Abend verbringen sollen. Wir sind aber nicht Zuhause geblieben. Wir haben uns entschieden zu fahren.
Inmitten einer unspektakulären Straße in den Wäldern oben hat sich alles geändert, wurde mir alles genommen, das mir wichtig war.
Verbringen wir Heilig Abend doch mit Oma und Opa.
Was für eine dumme Entscheidung, nicht wahr?
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#Throwback.
Ily,
Alina xx
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