SISTER
Meine Blicke versuchte ich nicht zu intensiv wirken zulassen, probierte nicht auffallend zu sein, bei dem was ich eigentlich fokussierte. Es sollte nicht so aussehen, als würde ich sie wie ein Objekt, wie eine Statur im Museum begutachten. Doch genau dies tat ich. Ich fühlte mich schlecht, da ich doch eigentlich hätte Lächeln sollen, da ich mich doch eigentlich hätte freuen sollen. Aber meine Mundwinkel hoben sich kaum, um der Wahrheit zu entsprechen, eigentlich garnicht. Nari strahlte pure Freude aus und unterhielt sich erfreut mit Ten neben mir, ich sah nur zu und protokollierte alles in meinem Kopf. Ihre Haare waren nun Hüft-lang, nicht mehr bis zur ihren Schultern. Sie schminkte sich, was sie sonst doch immer für überflüssig empfand. Und dann war dort dieser Bauch, ihr Bauch, der Bauch in welchem ein neues Leben heranwuchs und woran ich mich kein Stück zurückerinnerte. Meine Tränen wollte ich unterdrücken, doch ich schaffte es nicht und einzelne Tropfen liefen an meinen Wangen hinunter.
Schnell wischte ich mir diese weg, jedoch hatten meine Sitznachbarn diese bereits bemerkt gehabt. Sie sahen zu mir, ihre Hand legte sich auf mein Knie und ich sah zu dieser. "Warum weinst du?" Lächelte mir meine ältere Schwester entgegen, doch anstatt zu gestehen, dass ich weinte, weil ich mich schlecht fühlte, weil ich traurig über meine verlorenen Erinnerung war, log ich. "Nichts, i-ich bin nur froh dich zu sehen." Meinte ich zu ihr und lächelte meinen Frust fort. "Ich hab dich vermisst Nari." Ihre Arme hoben sich und zogen mich in eine feste Umarmung. "Neami," hauchte sie und ich wartete, doch es kam nichts mehr. Was hätte sie denn schon großartiges sagen sollen?
'Schade, dass du diesen Unfall hattest'?
'Ich bin froh, dass du nicht gestroben bist'?
'Es tut mir leid, dass dir deine Erinnerungen genommen wurden'?
Es war egoistisch von mir zu denken, dass sie Worte für mich hatte, die mir meinen Schmerz erträglicher hätten machen können. Einfach nur egoistisch.
"Warum bist du schon wieder da?" Wollte ich wissen, rutschte mit meinen Blicken zu Ten, welcher hinter ihr saß. Hatte er was damit zutun? Hatte er ihren Urlaub zerstört, weil er nicht mit mir und meinem Gemütszustand zurecht kam? Da er nicht wusste, wie er mit mir umgehen sollte? "Zwar hatte Ten mich gebeten, nicht zu kommen.." Fing die Ältere an und erhielt wieder meine vollständige Aufmerksamkeit. "Doch nachdem ich von deinem Unfall hörte, hab ich den nächst besten Flug zurück nach Korea gebucht." Mit zitternder Unterlippe nickte ich, verstand ihren Standpunkt, denn ich hätte ebenso in ihrer Position gehandelt, doch wusste auch, was sie hatte auf sich genommen. Ich hatte ihr den letzten gemeinsamen Urlaub mit ihrem Ehemann genommen, ihnen die gemeinsame Zeit in Spanien entrissen. "Warum wolltest du nicht, dass meine Schwester kommt?" Wandte ich mich nun ersterer Miene an den Thailänder, fasste es nicht, dass er hinter meinem Rücken über Dinge entschied, die mich betrafen. "Neami." Die Hand meiner Schwester auf meinem Knie verfestigte sich und ich sah wieder zu ihr. "Er wollte doch nur nicht, dass du Schuldgefühle wegen mir bekommst. Er weiß doch, dass du dir immer die Schuld an solchen Dingen geben würdest, Ten kennt dich doch immerhin besser wie niemand anderes." Es stimmte, ich gab mir die Schuld daran. Es war wahr, dass in mir Schuldgefühle waren, wegen ihrem gestrichenen Urlaub. Das er mich jedoch am besten kannte, jenes bezweifelte ich, hoffte innerlich, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Denn es jagte mir Angst ein.
Ruckartig erhob ich mich, sah zu den beiden mir gegenüber hin. "Ich leg mich etwas hin," murmelte meine unwohle Stimme. "Alles gut? Soll ich mitkommen-.." Ich hob meine Hände meiner Schwester entgegen, stoppte sie dadurch. "Nein-, ja, es, es ist alles gut. Ich brauche nur etwas Ruhe, allein." Drehte ihr den Rücken zu und verschwand den Gang entlang, schloss die Tür hinter mir, ließ mich in seinem Bett niederfallen. Meine Augenlider verschlossen sich und ich war meiner Erschöpfung an Emotionen dankbar, durch sie konnte ich im Moment keine weitere Träne vergießen. Wo waren sie? Wo waren meine Erinnerungen? Wie schön war mein Leben wohl mit ihnen? Ich hatte einen Freund, einen Job, eine Wohnung, ein eigenes Leben. Konnte mich aber an nichts davon entsinnen.
Ein dumpfes Klopfen schallte durch mein Trommelfell, ich verzog mein Gesicht. Es ertönte erneut und langsam öffnete ich meine Augen. Ich war eingeschlafen. Ich versuchte anfangs nicht zu reagieren, innerlich betend, dass die Person einfach wieder verschwinden würde. Aber das konnte ich nicht. Das Klopfen ertönte erneut und ich räusperte mich, "ja?". Ich erwartete Nari, die gefragt hätte, wie es mir mittlerweile gehen würde. Ten, der sich ebenso über meine Wenigkeit erkundigen wollte, doch so kam es nicht. Rotes Haar bahnte sich den Weg in den Raum und die großen dunkelbraunen Augen Taeyongs kamen zum Vorschein. Er lächelte. "Hunger?" In seiner Hand hielt er einen Teller mit Keksen. Ich schmunzelte leicht auf bei seinem naiven Anblick während er sich auf der Matratze neben mir nieder ließ. "Selbstgemachte?" Meine Hand schnappe nach einem der mit Schokostückchen verzierten Köstlichkeiten, während er nur beschämt mit seinem Kopf schüttelte. "Nein," beichtete der Ältere. "Leider nicht."
"Du hast also die ganze Zeit geschlafen?" Den Teller stellte er beiseite und ich nickte mit vollem Mund. Taeyong schien sich wirklich um mich zu sorgen, langsam konnte ich mir tatsächlich vorstellen, dass einst ein guter Freund von mir war. "Was dachtest du denn, was ich sonst die ganze Zeit über in meinem Zimmer gemacht haben sollte?" Kurz kam eine angenehme Stimmung auf, doch verschwand mein Lächeln sofort wieder. "In seinem, in seinem Zimmer." Verbesserte ich mich ganz leise, sodass nur ich es mitbekam. "Immerhin ist deine Schwester hier und da du nicht bei ihr warst, dachte ich, du würdest wieder Schreiben und dabei wollte ich dich wie üblich nicht stören." Verwirrt sah ich zu ihm auf. "Was? Wie meinst du das?" Aus kompletter Überforderung heraus stammelte der Ältere nur vor sich hin, brachte dabei keinen deutlichen Satz heraus. Ich legte ihm meine Hand auf seine Schulter, stoppte ihn dadurch. "Taeyong," sagte ich sanft woraufhin er sich zusammenraufte.
"Du hattest immer ein kleines Buch worin du geschrieben hast, vermute ich mal." Ich zog nicht wirklich erleuchteter eine Augenbraue in die Höhe, weshalb er fortfuhr. "Du warst immer sehr eigen was dieses Thema betraf, niemand von uns durfte es auch nur in die Hände nehmen. Wir spekulierten immer darüber, was wohl da drin stehen könnte, ich glaube, nicht einmal Ten durfte hineinsehen." Es klang merkwürdig, dass ich anscheinend so sehr von einem Gegenstand besessen gewesen war, doch viel mehr verwunderte es mich, dass es mir offensichtlich so wichtig und von Bedeutung war, dass nichtmals der Thailänder Einblick erhalten hatte. Bislang redete immer jeder in meinem Umfeld von mir und dem Jungen als seien wir ein Herz und eine Seele gewesen. Er liebte mich über alles und das wäre auch andersrum nicht anderes gewesen. Was hatte ich also in dieses Buch so akribisch, so direkt hinein geschrieben, dass es niemand anderes erfahren durfte?
Die Stille im Zimmer wurde langsam zu auffällig und noch weniger wollte ich im Moment, dass Taeyong verdacht schöpfte über meine Unwissenheit. "Was habt ihr denn immer vermutet, was ich in mein Notizbuch hineingeschrieben habe?" Versuchte ich die Atmosphäre zu verändern. Ein leises Kichern schallte seine Kehle hinauf, seine Hand fuhr durch seine voluminösen Haare. "Wir haben an schmutzige Phantasien von dir gedacht," lachte er drauf los und prompt stieg mir die Röte ins Gesicht. "Ihr Schweine!" Mit meiner Hand, welche noch immer auf seiner Schulter verweilte, schlug ich den Koreaner auf seinen Rücken. "Wie war eigentlich euer Date?" Wollte Taeyong wissen nachdem wir uns beide wieder einiger Maßen gefangen hatten, ich hielt kurz Inne. "Ihr wart im Theater oder?" Erstaunt über das Wissen des Rothaarigen blinzelte ich zunächst nur mit meinen Augenlidern. Sollte ich ihm wohl erzählen, wie unsere gemeinsame Konversation verlaufen war? Das wir über ihn gesprochen hatten?
"Ja, waren wir, hat er dir das gesagt?" Mein gegenüber nickte nur verstehend. "Nein, ich hatte aber die Tickets zuvor in der Küche liegen sehen und konnte es mir denken." Kurz herrschte wieder Stille bis Taeyong das Wort ergriff und weiter ansetzte. "Ihr habt über mich geredet, stimmts?" Geschockt wusste ich nicht zu antworten, stimmte ihm dann aber bejahnt zu. "Du brauchts dich nicht dafür zu schämen, es war mir von vornherein klar gewesen. Ten hatte schon immer einen Drang zur Überinterpretation." Ich runzelte meine Stirn. "Warum denn das? Ist irgendwas in der Vergangenheit vorgefallen?" Hackte ich genauer nach, vielleicht kam ich ja an mehr Informationen. "Nein, glaub mir. Er ist einfach nur etwas eifersüchtig." Ich glaubte Tae, weshalb sollte er auch schon anlügen und wenn er nichts passiert war, dann lag es vermutlich einfach in Tens Natur schnell misstrauisch zu werden. Doch das er sogar seiner eigenen Freundin misstraute, auch nach drei Jahren Beziehung, dies weckte schon leichte Skepsis in mir. Die Tür des Raumes wurde aufgemacht und in ihr stand ein monoton drein schauender Thailänder, seine Augen geradewegs auf meine Hand fokussiert, welche noch immer auf Taeyongs Rücken lag. Rasch zog ich diese weg, Tae presste seine Lippen aufeinander, gab mir mit einem flüchtigen Blick zu verstehen, dass er nun gehen müsse und stand auf.
"Einen Keks?" Ich hielt Ten den Teller von Taeyong entgegen, doch er verneinte stur. "Warum bist du nicht zu uns gekommen, wenn du anscheinend schon die ganze Zeit wach warst?" Mochte der Junge von mir wissen und so sehr mir sein Unterton gegen den Strich ging, blieb ich ruhig. "Ich bin erst vorhin aufgewacht. Ist Nari noch da?" Ten bemerkte, dass ich nicht weiter darauf eingehen wollte, womit er sich dann auch widerwillig abfand. "Ja, aber sie geht in einer Stunde, ihr Mann holt sie ab." Ich nickte und deutete ihm an, dass er schonmal zurückgehen konnte. Der Schwarzhaarige verschwand wieder zurück in Richtung Wohnzimmer. Mir durch die Haare fahrend erhob ich mich, starrte auf den Verband an meinem Fuß, er störte am meisten. Er war bereits so abgenutzt, dass einige Fasern von ihm abstanden, ich sollte sie besser abscheiden bevor sie mich in den Wahnsinn treiben würden. Ich machte mich zum Schreibtisch auf, da die erste Schublade ja klemmte versuchte ich erst garnicht an dieser zu ziehen und zog direkt die zweite auf. Ich kramte etwas in dieser herum, machte mir Licht an, da es bereits etwas dämmerte und setzte mich auf den Stuhl. Reines Chaos herrschte in dieser Schublade, doch dann stoppte ich und starrte etwas glänzend silbernes interessiert an. Es war ein dünner Füller mit einem schönen Muster an den Seiten, doch weniger fiel er mir auf, da er so edel aussah, er fiel mir auf, weil ich ihn wiedererkannte.
Ich erinnerte mich an ihn.
..Fortsetzung folgt..
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