7. Tropfen: Aus Steinen Brücken bauen I
36. Tag Tas Saru 2129 n.n.O
Mit einem erleichterten Seufzten stellte Trudi das Gas vom Herd aus und goss die warme Milch aus dem Topf in die Flasche. Wider besseren Wissens schüttelte sie die Flasche kurz und ließ einen Schluck auf ihr Handgelenk tropfen.
Es war heiß.
„Autsch...", zischte Trudi mit verkniffenen Gesicht und schüttelte intuitiv die Hand aus. Dann wandte sie sich an den jüngsten Spross der Familie und nahm diesen aus den kleinen Stubenwagen heraus auf den Arm: „Dann wirst du dich wohl noch ein bisschen gedulden müssen."
Glücklicherweise schien das Senga nicht ganz so zu stören, denn das kleine Mädchen gluckste vergnügt und schaute munter auf die Flasche, die auf dem Tisch stand. Immerhin schien der Hunger noch nicht zu groß. Ihre Nichte konnte sehr laut werden, wenn sie Hunger hatte.
Trudi seufzte und spürte tief in sich hinein, wo sich gerade ein anderes Kind genüsslich zu räkeln schien. Zumindest fühlten sich die flatterhaften Bewegungen in ihrem Bauch so an. „Immerhin bist du schon mal eine gute Übung für mich, um wieder rein zu kommen. Spielst du dann auch viel mit deinem kleinen Vetter oder deiner kleinen Base?"
Senga gluckste, was Trudi als ‚ja' wertete.
„Gut so. Ich denke auch, dass ihr viel Spaß haben werdet. Und vielleicht ist das kleine Würmchen ja nicht ganz so wild wie Sumsa." Zumindest hoffen konnte sie das.
Mit diesen Worten schnappte sie sich die Flasche und ließ das Küchenchaos hinter sich, das nun mal nicht ausblieb, wenn das Essen für heute und die nächsten zwei Tage vorgekocht wurde. Einen Moment lang war es Trudi, als würde sie den missbilligenden Blick ihrer Mutter regelrecht spüren – erst auf sich selbst, dann auf die Küche. Bei ihr sah es nach dem Kochen nie so aus.
Püh, dachte die zum zweiten Mal werdende Mutter und zog eine Schnute. Vielleicht schaffte sie es ja später noch, aufzuräumen. Nach dem Einkaufen mit den beiden Kindern – hoffentlich würde Senga da Mittagsschlaf machen. Und dem Wäsche aufhängen. Und dem Windeln auskochen.
...
Oder ihre Mutter müsste das eben doch morgen machen.
Ein ganz kleines bisschen tat es Trudi leid, dass sie ihrer Mama das auch noch aufbürden würde. Aber sie schaffte es einfach nicht mehr, seit ihr Bauch dicker und dicker geworden war. Zumal es bei ihr zu Hause kaum besser aussah als im Haus ihres Bruders.
Wieder glitt ein Seufzen aus ihrer Kehle. „Da werden wir eine andere Lösung für dich und deinen Papa finden müssen", murmelte Trudi ihrer kleinen Nichte zu und nahm ihr die Flasche wieder ab. „Oma und ich schaffen nicht alle Arbeiten. Und dein Papa muss neben der Arbeit auch mal schlafen und essen."
Wenn er das nur mal tun würde. Entschlossen schob Trudi all die aufkommenden, finsteren Gedanken beiseite und ging mit Senga auf dem Arm ins Erdgeschoss, wo die Tischlerwerkstatt untergebracht war. Durch die offene Tür hörte sie Markus' leise Stimme etwas sagen und Sumsas ausgelassenes Lachen, das ihr wie von selbst wieder ein Schmunzeln ins Gesicht zauberte. Als sie in der Tür stand, sah sie auch, was ihren Sohn in solche Begeisterung versetzte: Markus war dabei, alte Farbe von einer Schranktür herunter zu schleifen und hatte mit dem Schleifpapier ein Strichmännchen in den Lack der Holztür gekratzt.
„Was macht ihr Schönes?", fragte Trudi, obwohl die Antwort offensichtlich war. Doch damit zog sie die Aufmerksamkeit der beiden auf sich.
„Wir leifen die Tür!", krähte Sumsa mit seinen fröhlich funkelnden, fast schon goldenen Augen und versuchte, die Schranktür hochzustemmen, die vor ihm lag.
Mit einem raschen Griff zur Seite, stabilisierte Markus den Versuch seines Neffen und half ihm, die Tür soweit anzuheben, dass Trudi die fünf Schrammen bewundern konnte, die ihr Sohn mit dem Schleifpapier darauf hinterlassen hatte.
„Das ist ja großartig!", begeisterte sich die Mutter für die Arbeitsergebnisse ihres Dreijährigen – und vor allem für die Tatsache, dass ihr Bruder den kleinen Wirbelwind die letzten Stunden in seiner Werkstatt beschäftigt hatte. „Aber nun ist Mittag fertig! Also husch! Hoch, denn wiiiiir haben Hunger!", ergänzte sie noch und deutete dabei auf die kleine Senga in ihrem Arm, bei deren Anblick Markus Augen aufleuchten.
„Jaaaaa! Hunger! Hunger!", rief Sumsa fröhlich aus, sauste an Trudi vorbei und stapfte die Treppe zu den Wohnbereichen und der Küche hoch.
Markus sah seinem Neffen noch kurz hinterher, ehe er mit schnellen Schritten bei seiner Schwester war und ihr seine Tochter mitsamt der langsam abgekühlten Milchflasche abnahm. „Dankeschön", murmelte er leise. „Geh schon mal zu Sumsa. Wir kommen gleich."
„Aber wirklich, Markus!", mahnte Trudi mit einem ernstem Blick, den ihr Bruder mit einem müden Achselzucken abtat.
„Mach dir keinen Kopf. Ich Fall schon nicht vom Fleisch."
„Doch. Genau das tust du!", brauste Trudi auf und musterte die abgemagerten Gestalt ihres Bruders mal wieder kritisch. Seit Agnes' Tod achtete er kaum noch auf sich. Trudi blinzelte die Tränen weg und verbot sich jeden weiteren Gedanken an ihre verstorbene Freundin. Vielleicht heute Abend, wenn Sumsa im Bett und der Tag geschafft war. "Du tust weder dir noch Senga einen Gefallen, wenn du nicht genug isst."
Der müde Blick, den Markus ihr daraufhin zuwarf, schnitt Trudi tiefer ins Herz, als jedes böse Wort es je gekonnt hätte. „Ich habe keinen Hunger", flüsterte er schließlich leise. „Von jedem Bissen, den ich herunterwürge, wird mir schlecht." Einen Moment lang erwiderte er noch ihren Blick, dann wandte er sich ab. „Geh zu Sumsa. Ich füttere die Kleine und häng noch kurz die Wäsche ab. Dann komm ich auch."
Noch während er das sagte, setzte er sich mit seiner Tochter auf einen Stuhl und gurrte ihr ein paar liebe Worte zu. Trudi lächelte matt. Egal wie müde er von der Arbeit in der Werkstatt, dem Haushalt oder seiner eigenen Trauer war - bisher hatte er es sich fast nie nehmen lassen, seine Tochter zu füttern.
„Aber Markus. Bitte. Ich kann nicht mehr lange und Mama schafft es nicht allein. Irgendwas müssen wir ändern."
„Jaja, ist gut, Trudi", antwortete er ihr desinteressiert. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Markus sie überhaupt gehört hatte.
Seufzend wandte sie sich ab. Er würde sowieso nicht zuhören. Mit einem Schaudern dachte sie an die toten Augen ihres Bruders, als sie auf Agnes' Beerdigung gewesen waren.
Wäre Senga nicht gewesen, Trudi hätte geschworen, dass er an diesem Tag in den Wald gegangen wäre, um nie wieder zurückzukommen.
„Verflixt! Wo steckt der Junge nun schon wieder?"
Mit zusammengekniffen Augen stellte Trudi vorsichtig die Gemüsenetze voller eingekaufter Kartoffeln und Kohlköpfe an den Straßenrand und streckte den schmerzenden Rücken durch. Ihre Schwangerschaft war bereits im letzten Drittel und langsam wurde jeder Tag anstrengender. Besonders mit so einem Wildfang von Sohn. Wo war er nur wieder hingerannt?
„Sumsa?", rief die junge Frau – viel leiser als sie eigentlich gewollt hätte. Aber die kleine Senga war erst vor wenigen Minuten im Kinderwagen eingeschlafen. Sie hatte ewig dafür gebraucht.
„Sumsa!" Wieder schaute Trudi sich suchend um.
Doch von dem Jungen war nichts zu sehen.
„Sumsa!"
Das Baby zuckte zusammen und warf den Kopf unruhig hin und her.
„Ach verdammt", murmelte Trudi und begann den Kinderwagen schuckelnd die Straße herunter zu fahren, während sie weiterhin Ausschau nach ihrem Sohn hielt. Das war so typisch. Einmal hatte sie nicht hingeschaut und schon war er weggeflitzt. Schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe. Kurzerhand entschloss sich Trudi, die Einkäufe erst einmal stehen zu lassen und später zu holen, wenn sie ihren Sohn wieder eingesammelt hatte. Weit konnte er ja nicht sein und immerhin war in dem kleinen Örtchen hier nichts, wovor die Mutter sich wirklich sorgte. Ein paar Schritte später sah sie einen kleinen, dunklen Schopf um die nächste Kurve herum huschen. Zügig schob Trudi den Kinderwagen in Richtung dieses Hinweises.
„Sumsakras!", zischte die Mutter nun doch etwas lauter und sehr viel ungehaltener, als sie eigentlich wollte. „Wirklich! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass-" In dem Moment bog sie mit dem Kinderwagen um die Ecke des Haushaltswarenladens und stockte.
Auf einer Bank gegenüber dem hiesigen Haushaltswarengeschäft saß ein kleines Mädchen mit braunen, geflochtenen Zöpfchen, die ihr links und rechts auf die Schultern fielen und einen süßen Kontrast zu ihrem himmelblauen Kleidchen bildeten. Trudi schmunzelte, als ihr Sohn gerade wieder angelaufen kam und zwei weitere handvoll Steine anschleppte und sie zu den anderen legte, die bereits auf der Bank neben dem Mädchens lagen. Zusammen breiteten sie die Schätze regelrecht akribisch über die Sitzfläche aus und begutachteten jeden einzelnen von ihnen.
Trudi seufzte wieder und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Das hätte sie sich eigentlich denken können. Mit einem sanften Kopfschütteln hockte sie sich vor ihrem Sohn und ignorierte dabei gekonnt das protestierende Klopfen von dem Würmchen in ihrem Bauch. Es wurde nicht gern so zusammengestaucht. Aber was soll's? Sie alle mussten irgendwo Abstriche machen.
„Ach Schatz", setzte die Mutter an, als sie schließlich auf Augenhöhe mit ihrem Sohn war. „Du kannst doch nicht einfach weglaufen, nur weil du Epoh irgendwo siehst!"
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Lichtis Quatschecke:
Ich hoffe, ihr mögt den kleinen Ausflug in die Vergangenheit. :D
Wenn ich es schaffe, kommt morgen der zweite Teil. ^^
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