55. Kapitel | Herzrasen
We're biting our nails, you're biting my lips, I'm biting mytongue
„Ich glaube, mein Körper hat noch nie so wehgetan", beschwerte Stegi sich später, als sie wieder bei ihm zuhause waren. Direkt nach dem Klettern hatte er bereits das Gefühl gehabt, ihm würden bald die Arme abfallen, und über die letzten Stunden hinweg war das nicht unbedingt besser geworden.
„Frag mich mal." Tim lag neben ihm auf dem Bett, Arme hinter dem Kopf verschränkt. „Du hast dich immerhin nicht an dieser Höllenstrecke versucht."
„Du hättest das nicht tun müssen, um mich zu beeindrucken."
„Ich wollte dich nicht beeindrucken."
„Das würde ich an deiner Stelle auch behaupten." Bevor Tim antworten konnte, legte er sich etwas gemütlicher hin, legte seinen Kopf auf die Oberschenkel seines Freundes. Mit einer Hand dieser Tim geistesabwesend, ihm durch die Haare zu fahren, drehte einige Strähnen um seine Finger. „Aber keine Sorge, ich mag dich immer noch, obwohl du versagt hast."
Einen positiven Aspekt hatte die Sache mit dem Muskelkater: Sie hatten eine gute Entschuldigung, warum sie den Rest des Tages nichts mehr taten, als YouTube zu schauen. Gerade lief etwas über Cannabiskonsum in München. Wie genau sie dort gelandet waren, hätte Stegi nicht sagen können, und von der Doku selbst hatte er nicht viel mitbekommen – Stattdessen waren seine Gedanken zu Tim abgedriftet. (Neben ihm zu liegen war einfach nicht genug. Vielleicht war das gierig, aber wenn dem so war, war gierig sein verdammt angenehm.)
„Mögen? Nette Umschreibung", sagte Tim gerade lachend.
Dem Bildschirm schenkte Stegi kaum noch Beachtung. Stattdessen beobachtete er Tim, dessen Blick ebenfalls auf ihm ruhte; sein leicht hochgezogener Mundwinkel, das Leuchten seiner Augen. „Vielleicht mehr als mögen", gab er zu und lehnte seinen Kopf noch ein Stück weiter nach hinten, bis Tim den Hinweis verstand und sich nach unten beugte, um ihn zu küssen – Einmal, kurz, zweimal, dreimal.
Er ließ eine seiner Hände zu Tims Hinterkopf wandern und zog ihn näher zu sich, bevor er den Kuss beenden konnte. Das laufende Interview verkam zu Hintergrundrauschen, als Stegi in diesen Sog hineingezogen wurde – Da war er, da war Tim; alles andere spielte für diesen Moment keine Rolle.
Erst, als es wehtat, seinen Hals so zu verdrehen, ließ er von ihm ab. Stattdessen drehte er sich um und stützte sich auf seinen Ellenbogen ab, um Tim sehen zu können: Die paar Haarsträhnen, die Stegi gerade durcheinandergebracht hatte, seine Atemlosigkeit. Er sah fast enttäuscht aus, und Stegi musste lächeln. „Keine Sorge, ich – Fuck, meine Arme", lachte er, gescheitert im Versuch, weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Er hätte bedenken sollen, dass er immer noch nicht Herr seiner Muskeln war.
Tim lachte ebenfalls, dann setzte er sich so auf, dass er mit dem Rücken an der Wand lehnte, legte eine Hand auffordernd auf seine Oberschenkel. „Ist das besser?"
„Sicher, dass das nicht unangenehm wird?" Bevor er die Frage überhaupt beendet hatte, war Stegi schon halb damit fertig, auf Tims Schoß zu klettern. Wenn er sich beschweren wollte, konnte er das auch später noch machen.
Er legte beide Hände um Stegis Schultern. „Keine Sorge, Kleiner."
Für ein paar Augenblicke nutzte Stegi die Augenhöhe, die sie jetzt hatten (er musste zugeben, dass ihm das besser gefiel), dann küsste er ihn erneut. Oder Tim ihn? Es schien keine Rolle mehr zu spielen. Zähne streiften seine Lippen, und gerade war ihm selbst das egal: Wieder er, wieder Tim. Er konnte nicht genug davon kriegen.
Tims Hände wanderten von seinen Schultern seinen Oberkörper hinab und er erschauerte – Ein Schauern, dass nur dafür sorgte, dass er noch näher an Tim heranrückte. Er hatte das Gefühl, kein Blatt Papier würde mehr zwischen sie passen, aber er wagte es nicht, die Augen zu öffnen, um nachzuschauen.
(Vielleicht würde es dann doch nicht real sein. Vor wenigen Tagen hätte er hiervon nicht einmal zu träumen gewagt.)
Selbst, als sie den Kuss unterbrachen, um zu Atmen, hielt er sie geschlossen. Dann wieder: Tims Zunge, für die er seine Lippen öffnete, eine Hand an seiner Seite, eine an seinem Hals. (Tim, und Tim, und Tim.) Stegi vergrub eine Hand in Tims Haaren – hatte sie bisher nur an seiner Seite gelegen? – und presste seinen Oberkörper gegen die Wand.
Als Reaktion darauf verschränkte Tim Stegis freie Hand mit seiner, und sein Atem stockte für einen Herzschlag. Dieses Mal waren die Zähne auf seinen Lippen nicht nur ein Versehen, und das gedämpfte Geräusch, das Stegi von sich gab, ließ Tim in den Kuss grinsen.
Schließlich schlug er die Augen auf, sie lösten sich voneinander; aber Tims Gesicht war höchstens Centimeter von seinem entfernt.
Das war bloß ein Kuss gewesen, und Stegi war schon süchtig – Wie von selbst verhakte sich seine Hand wieder in Tims Haaren, er schloss die Augen, ließ seine Lippen langsam über Tims Mundwinkel, seinen Kiefer, seinen Hals wandern, bis hin zu seinem Schlüsselbein.
Tims Fingernägel gruben sich in seinen Handrücken, so stark, dass sie Abdrücke hinterlassen würden. „Soll ich aufhör –", begann Stegi, aber Tim unterbrach ihn.
„Bloß nicht." Der Schmerz an seinem Handrücken ließ nach. „Sorry, ich war –"
Den Rest seiner Worte sprach er nicht aus. Der Gedanke, dass er es war, Stegi, der dafür sorgte, dass Tim keinen klaren Satz formulieren konnte – Das war vielleicht noch besser als alles andere zusammen. Während er sich mit einem Schlüsselbein beschäftigte, fanden Tims Finger ihren Weg unter Stegis Kinn, folgte ihm einfach für eine Weile. Dann neigte er Stegis Kopf nach oben.
In seinem Kopf konnte Stegi die Herzschläge zählen, in denen er bloß Tims Lippen anstarrte. Eins. Zwei. Drei.
Dann küsste er ihn erneut, Lippen und Zunge ein Chaos. Tims Hand wanderte auf Stegis Arsch, Stegis seinen Rücken hinab bis zum Ende seines T-Shirts. Für ein paar Sekunden zögerte er, aber dann verstärkte Tim seinen Griff und Stegi schob seine Hände unter Tims Shirt. Er fuhr die Sehnen und Knochen nach, die er unter der Haut spüren konnte – Irgendwann würde er die Chance erhalten, alles davon zu erkunden, jeden Quadratzentimeter. Die Erkenntnis ließ ihn mit seiner Hand noch ein Stück höher wandern.
Wie in Trance bekam er mit, dass Tim seine Hand losließ und sie stattdessen in Stegis Haare senkte, die Finger seiner anderen verhakten sich in seinem Hosenbund. Stegi machte sich bereit, sich wieder für eine kurze Zeit Tims Nacken zuzuwenden und seinen Freund zu Atem kommen zu lassen.
„Stegi?!"
Scheiße, scheiße, scheiße. Die Stimme seiner Schwester riss ihn aus jeglichen Gedanken. Irgendwie schaffte er, von Tim herunterzurollen, bevor sie die Tür aufgestoßen hatte, sogar so zu tun, als würde er dem Video folgen. Dann stand Lucy im Raum und Stegi wurde übel.
Nicht gerade die angenehmste Art und Weise, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen. Das Gefühl von Tims Lippen tanzte noch über sein Gesicht wie ein Schatten, und jetzt starrte er Lucy an und versuchte, so zu tun, als hätte er nicht gerade noch seine Hände unter seinem T-Shirt gehabt und keinen klaren Gedanken fassen können.
„Abendessen", meinte Lucy. „Ihr habt die Rufe aus der Küche nicht gehört. So spannend?"
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er realisiert hatte, dass sie das Video meinte. „Ja", meinte er platt. Sie hatte Recht: Natürlich war Tim interessanter als Abendessenrufe, aber das konnte er ja kaum sagen.
„Über Heroin?" Sie lachte. „Warte mal, bis Mom und Dad das hören. Ihr kommt dann gleich, ja?"
Er schaffte es gerade noch, zu nicken und das Video auf Pause zu stellen – Anscheinend war die erste Doku bereits vorbei. Dann verließ sie den Raum.
Tim fuhr sich durch die Haare, als würde sie das weniger chaotisch machen. „Alles okay?"
Er konnte sein Herz bis zum Hals schlagen hören. „Wird wieder", brachte er heraus. „Wir sollten bald rüber."
Beim Essen konnte er seine Gedanken nicht von einer Frage abbringen: Was wäre, wenn Lucy hereingekommen wäre? Seine Eltern? Oder wenn sie sie gehört hätte? Falls seine Familie bemerkte, wie merkwürdig er sich verhielt, ließ sie es sich nicht anmerken.
Selbst, als sie ins Bett gehen wollten und Tim schon im Halbschlaf war, konnte er das Gefühl nicht abschütteln – Es wäre nur zwei Sekunden gewesen und alle hätten es gewusst, auf eine der beschissensten Weisen, die möglich war.
Aber er konnte es seinen Eltern nicht sagen, noch nicht. Er wusste, dass sie enttäuscht sein würden. Nicht so sehr, dass sie ihn rausschmeißen würden; eher auf die Art und Weise, wie seine Eltern enttäuscht wären, wenn er durchs Abitur fallen würde. Inklusive des Mitleides.
Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Seine Eltern waren also keine Option. Stattdessen stieg er möglichst leise aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zu seinem Schreibtisch.
~ * ~
Stegi tippte mit dem Kugelschreiber auf seinem Schreibtisch, tap-tap-tap, und starrte den Zettel vor ihm an. Das hier war insgesamt eine furchtbare Idee, ohne Zweifel. Er biss sich auf die Unterlippe, starrte die bisher einzige Zeile an: Hey, Lucy.
Eigentlich sah er sich selbst nicht als wortkargen Menschen, aber jetzt fühlte jede Formulierung, die ihm einfiel, sich unangenehm und gekünstelt an. Genau das passierte, was dazu geführt hatte, dass er ein persönliches Gespräch vermieden hatte: Alles, was er sagen wollte, blieb ihm in der Kehle (im Stift?) stecken. Dabei sollte es doch einfacher werden, wenn er länger darüber nachdenken konnte, was er sagen wollte.
Er hätte von Anfang an wissen sollen, dass das eine dumme Idee war, und dass er vorher mit Tim darüber reden hätte sollen – Aber konnte er das nicht morgen noch genauso gut tun? Morgen. Gerade klang dieser Gedanke unendlich verlockend: Sich ins Bett zu legen, wo Tim gerade schlief, und das hier am nächsten morgen zu Ende zu schreiben. Aber was, wenn Lucys Zug fuhr, bevor er fertig war?
Nein, er hatte sich dazu entschieden, das hier zu machen. Er würde jetzt nicht aufgeben, nur, weil es schwierig war.
Er griff nach einem Kaugummi aus der Schachtel, die er immer auf dem Schreibtisch aufbewahrte, dann sah er wieder auf den Zettel hinab.
Ich muss dir etwas sagen, schrieb er, strich die Worte wieder durch. Dann: Vielleicht hast du bemerkt, dass; aber er war sich nicht sicher, was genau sie bemerkt haben könnte, also kritzelte er auch ein paar Linien durch diese Worte. Wie fing man so etwas an? Wie hatte Tim das angefangen? Sollte er einfach schreiben: Ich bin bi, oder war das zu platt?
Er schrieb Ich bin bisexuell, und dann las er das noch einmal durch, und noch einmal, ehe er den Zettel zerknüllte und den Kugelschreiber gegen die Wand warf. „Fuck", murmelte er. „So ne Scheiße."
Er lehnte sich nach hinten und atmete durch. „Nicht aufregen", meinte er zu sich selbst. Aber er regte sich auf: Warum musste das hier sein? Warum konnte es ihm nicht egal sein, ob Lucy so erfuhr, dass er nicht hetero war? Warum konnte er nicht einfach Tims Hand halten, oder es in einer Konversation fallen lassen, oder einfach in Ruhe leben?
Und dazu noch die Tatsache, dass er kein gescheites Wort rauskriegte. Gerade hätte er wirklich jemanden schlagen können, aber stattdessen musste er aufstehen und den Stift wiederholen.
Gerade, als er sich nach unten beugte, um ihn aufzuheben, hörte er eine Stimme hinter sich. „Stegi?", fragte Tim schläfrig. „Was machst du?"
Oh, shit. „Alles gut, schlaf weiter." Er wollte Tim nicht mit da hineinziehen, und es musste inzwischen zwei Uhr nachts sein, nicht die richtige Zeit, um wach zu sein.
„Alles in Ordnung?" Tim hörte sich bereits weniger vernebelt an und hatte sich aufgesetzt, Stegi aufmerksam musternd. „Was machst du?"
Er war versucht, nichts zu antworten, aber die angeschaltete Schreibtischlampe und der Stift in seiner Hand erzählten eine andere Geschichte. „Ich schreibe einen Brief", sagte er also. „An Lucy."
„Sie ist in derselben Wohnung."
„Ja, aber, weißt du – Ich will ihr erzählen, dass ich bi bin." Er senkte seine Stimme am Ende des Satzes, nur für den Fall, dass jemand an der Tür lauschte. (Egal, wie unwahrscheinlich das war.)
„Ich verstehe." Tims Tom änderte sich schlagartig, wurde weniger belustigt. Er kämpfte sich aus der Decke und lehnte sich mit dem Oberkörper gegen die Lehne des Stuhls. Stegi nahm auf dem Stuhl Platz. „Brauchst du Hilfe?"
Was für eine Situation. Tim trug ausschließlich eine Sushi-Boxershorts, und das allein wäre schon absurd genug gewesen; dazu war es noch mitten in der Nacht und er hatte ihn geweckt, weil er frustriert einen Stift gegen die Wand geworfen hatte. Ja, er brauchte Hilfe. „Wäre super." Er griff einen neuen Zettel. „Tut mir übrigens leid. Ich wollte es dir sagen, aber es war echt ne spontane Idee und ich wollte dich nicht wecken und –"
„Kein Problem", beschwichtigte Tim ihn, legte eine Hand auf seine Schulter. „Ich nehm dir das doch nicht übel."
Stegi nickte. Der Stift in seiner Hand fühlte sich immer noch fremd an, und Tims Anwesenheit machte es nicht unbedingt einfacher, die Worte zu formen.
„Warum jetzt?", fragte Tim.
Stegi zuckte mit den Schultern. „Sie fährt morgen und, na ja, die ganze Sache beim Abendessen..." Er fühlte immer noch, wie sein Herz ihm bis zum Hals schlug, der Schockmoment: Was, wenn jemand es herausfand? Selbst Tim hatte ihn später noch darauf angesprochen hatten, dass er sich distanziert verhielt, aber er wollte vermeiden, dass so etwas noch einmal passierte.
Und Lucy war einfach ein viel kleinerer Schritt als seine Eltern, die immer noch erwarteten, dass er die ganze Heiraten-Und-Kinder-Kriegen-Sache durchziehen würde, und zwar mit einer Frau, dankeschön.
„Warum ein Brief?"
„Ich habe das vor ein paar Tagen gegoogelt." War das nicht absurd? Vollkommen bescheuert? „Also, Outing-Methoden und so. Und einen Brief schreiben kommt mir am wenigsten abschreckend vor. Ich dachte nur nicht, dass ich den Brief so schnell schreiben würde." Auf einen neuen Zettel schrieb er Hey, Lucy auf, dann legte er den Stift beiseite. „Aber ich komme nicht weiter."
„Die Karte an Weihnachten war auch gut", versuchte Tim, ihn zu ermuntern. „Das hier kriegst du auch noch hin."
„Aber das war anders." Stegi seufzte. „Außerdem magst du mich. Du bist nicht objektiv."
„Und Lucy tut das nicht?"
„Na ja, Geschwisterliebe, du weißt ja, wie das ist."
„Hey, Stegi – Ich finde, Lucy wirkt echt ganz cool und so, als hätte sie damit kein Problem, okay? Außerdem bist du ihr kleiner Bruder. Wenn ich an Max denke, bezweifle ich, dass ich ihn für irgendwas wirklich hassen könnte, auch, wenn ich ihn häufig nicht ausstehen kann."
„Nicht mal Terrorismus?"
„Du wirst doch Bisexualität jetzt nicht ernsthaft mit Terrorismus vergleichen."
„Aber was soll ich denn schreiben?", fragte Stegi, langsam wirklich verzweifelt. „Sie fährt morgen. Ich hab echt nicht viel Zeit."
Tim griff sich zwei seiner Pullis, einen davon warf er Stegi zu. „Zieh dir erstmal was über. Du erfrierst ja noch."
Tatsächlich war es über Nacht im Zimmer kalt geworden und Boxershorts und T-Shirt waren dafür kein angebrachtes Outfit, aber Stegi hatte das nicht einmal bemerkt. Dankbar zog er den Pulli über (in jeder anderen Situation wäre er wohl noch glücklicher darüber gewesen, wie sehr er nach Tim roch).
„Und wir überlegen zusammen einen Anfang, hm?"
Stegi atmete tief durch und nickte. „Klar. Das können wir machen."
Vielleicht würde das hier ja doch noch etwas werden.
Könnt ihr es fassen? Ich auch nicht. (Und nein, ich besitze die Fähigkeit nicht, mit dem Hochladen zu warten, wenn etwas fertig + überarbeitet ist.)
Ach ja, und wow, Kusszenen sind schwierig.
(Songzeile: Lorde, World Alone)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro