51. Kapitel | Eine kleine Ewigkeit
Laughing til our ribs get though, but that will never be enough
Auf der Rückfahrt saßen sie auf den Treppen, weil im Abteil kein Platz mehr frei war.
Wenn viele Leute nach Bremerhaven wollten, um ihre Familie zu besuchen, dann wollten offensichtlich noch mehr Leute dazu nach Bremen. Oder sie fuhren nach Hause. Vom Bahnhof aus irgendwo anders hin. Hatten einfach kein Bock mehr auf diese grau-in-graue Kleinstadt. Stegi konnte das verstehen.
Und so durchnässten sie immerhin nur die Treppenstufen und nicht die Sitzkissen.
Sie ernteten (nicht gerade überraschenderweise) einige merkwürdige Blicke, wie sie da so saßen, triefend nass. Stegi saß so nah wie möglich an Tim, weil ihm jetzt doch verdammt kalt war, ohne Schuhe. Er musste zugeben, Tims Idee, die vorher auszuziehen, war ziemlich intelligent gewesen.
Tim hatte wieder einen Arm um Stegis Schulter gelegt.
„Ich will gleich einen Kaffee", meinte er. „Einen heißen, an dem ich mir die Zunge verbrennen kann. Das ist genau das richtige."
Tim lachte. „Ich wäre eher für warmen Kakao."
„Das ist auch okay. Solange ich mir ein bisschen Kaffee untermischen kann."
„Nach dem Kälteschock bist du noch müde?"
„Ja? Also jetzt, wo ich langsam wieder auftaue. Ich fühle immerhin die Kälte wieder." Stegi hatte beide Hände in seinen Jackentaschen vergraben, was nicht viel brachte, weil die auch von innen durchnässt waren. Aber immerhin konnte er so mit den beiden Muscheln spielen, anstatt mit den Fingern auf der Zugtreppe zu trommeln. Die sah so dreckig aus, dass er sich dabei höchstwahrscheinlich zehn verschiedene Infektionen geholt hätte.
Tim grinste. „Das ist ein Fortschritt? Also mir war ja schon im Wasser kalt."
„Und du bist nicht rausgegangen? Idiot."
„Als hättest du das jemals zugelassen", lachte er. „Ich kenne dich doch."
Wo er Recht hatte, hatte er wohl Recht. „Bevor du erfroren wärst, hätte ich das aber getan", erklärte er dennoch. Schließlich wollte er auch später noch was von Tim haben.
„Oh, wie gütig von dir. Ich verneige mich vor deiner Bescheidenheit."
„Ha, ha, sehr witzig."
Immerhin kamen sie Bremen langsam näher. „Findest du auch, dass Lübberstedt ein lustiger Name für eine Stadt ist?", fragte Tim, während der Name des Ortes gerade durchgesagt wurde. „Ich meine, die wenigsten Stadtnamen ergeben Sinn, aber Lübber ist nicht nur sinnlos, sondern hört sich auch noch scheiße an."
„Vielleicht kommt es ja von Leber", überlegte Stegi. „Altdeutsch oder so."
„Leberstadt wäre auch ein dummer Name. Das klingt, als wäre die Stadt bekannt dafür, dass dort ein Kannibale die Lebern der Bewohner isst."
Stegi lachte. „Ich meine, die Endstation von diesem Zug ist Twistringen. Das hört sich an wie Twister. Also sag mal nichts."
„War Twister nicht dieses Spiel, wo man so die Füße und Hände auf bestimmte Felder stellen muss?", fragte Tim. „Das man immer in der Grundschule gespielt hat?"
„Das war lustig."
„Wenn du darauf stehst, dir irgendwas auszurenken, bestimmt."
„Du musst eben mehr Sport machen."
Tim zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts.
Nach der Leberstadt waren es immerhin nur noch 5 Stationen bis Bremen. Als die Ansage ertönte, „Bremen Hauptbahnhof. Sie haben hier Anschluss zu...", schob Stegi Tims Arm zur Seite und stand auf.
„Ich will nach Hause und mich umziehen", meinte er, während sie aussteigen. Auf dem Gleis war es kühler als im Zug, und das machte wirklich nichts besser. „Dann will ich was Warmes trinken. Und dann können wir dein Geschenk hören, falls du Lust hast."
„Hätte ich", lächelte Tim, „Aber auch in dieser Reihenfolge, bitte."
Stegi lachte. „Hey, soll ich dir noch die Fotos schicken?"
„Die Fotos?"
Stegi hielt ihm sein Handy unter diese Nase, mit dem ersten Bild, auf dem Tim sich gerade zur Seite flüchtete, während ein dutzend Möwen auf ihn zuflogen. „Die hier." Er wischte durch die Bilderstrecke, die Tims Flucht ziemlich eindrucksvoll zeigte. „Aber ich find das hier am besten."
Das letzte Foto, auf dem Tim in die Kamera lachte.
„Ehrlich?"
Stegi zuckte mit den Schultern. „Ich mag dein Lachen darauf. Sieht echter aus als auf dem ersten, weißt du?"
„Ich denke schon."
„Ich schick dir die während der Bahnfahrt", antwortete Stegi auf die Frage, die Tim gar nicht beantwortet hatte. „Und jetzt komm. Ich friere."
~ * ~
Sie hatten einen Kakao und einen Kakao-Kaffee-Mix und saßen in Stegis Zimmer auf seinem Bett. Stegi hatte sich einen neuen Pulli angezogen, dessen Ärmel um einiges zu lang waren, und auch Tim hatte sich umgezogen. Ihre nassen Klamotten hingen über der Heizung.
„Dann wollen wir mal, oder?", fragte Stegi, drückte Tim seine Tasse in die Hand und stand dann auf, um die CD in den CD-Player zu legen, den er aus dem Wohnzimmer geklaut hatte. Auf der Disk stand „Für Tim". Kurz sah Stegi den Schriftzug an und lächelte, dann klappte er den CD-Player zu und drückte auf Play.
Der erste Song spielte an. Er setzte sich neben Tim, während die ersten paar Takte spielten.
„Happy Birthday", sang der Typ von dem Lied.
Tim grinste. „Du warst ja sehr kreativ."
Keiner von uns mag dich, aber heut behalten wir für uns, was du für ein Arsch bist.
Stegi griff sich seinen Kaffee-Kakao wieder. „Ach, nein?"
„Danke auch", meinte Tim, während der Song weiterging – Du sollst wissen, was wir heute feiern, bist du nicht, denn wir finden ja, du feierst dich genug.
„Hey, es ist witzig!" Stegi rückte auf dem Bett nach hinten, so, dass er an der Wand lehnen konnte. Noch saß Tim an der Bettkannte, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, aber Stegi beobachtete – soweit von seinem Platz aus möglich – seine Miene und versuchte, zu erraten, was er dachte.
Schließlich drehte Tim sich zu ihm um, als das Lied gerade endete. „Der Song ist echt gemein."
„Ach, so kennst du mich doch." Stegi grinste.
Der nächste Song war weniger lustig. Und auch nicht wirklich persönlich. Aber Stegi mochte ihn. Anscheinend war Tim davon beruhigt genug, um sich neben ihn zu setzen und ihn nur ein bisschen fake-böse anzublicken. „Er sagt, dass Vergangenheit und Gegenwart gar nicht wichtig sind", meinte Tim dann, während der Sänger Watch, you're moving in elliptical pattern sang. „Dabei ist die Gegenwart doch das Wichtigste gerade, oder?"
Stegi zuckte mit den Schultern. „Als ich das gemacht habe, warst du noch ein paar Wochen weg."
Tim nickte. „Da hast du Recht."
Das war schön, einfach Musik zu hören. Und besonders, weil sie dabei nicht viel reden mussten. Stegi fror immerhin immer noch, und so konnte er seine Tasse in der Hand halten und hin und wieder einen Schluck trinken und dabei Tim beobachten und seine Reaktionen. Wie er manchmal lachen musste. Und einige Songs ihm gefallen zu schien.
Ich würde weniger sprechen, wärst du nicht ein Teil von mir.
„Das ist wahr", murmelte Stegi und sah zu Tim, der auch lächelte. Immerhin würde er ohne Tim immer noch alleine sein. Außenseiter. Das war eine merkwürdige Vorstellung – eine Welt ohne Tim. Wie konnte das sein?
Immerhin kannte er seine eigene Tracklist noch, stellte Stegi erleichtert fest, als er schon vorher wusste, welcher Song als nächstes kommen würde.
Tim aber nicht. Dementsprechend sah er ihn erst einmal fassungslos an. „All Star? Dein Ernst?"
„Somebody once told me the world is gonna roll me!", antwortete Stegi nur, den Text mitsingend. Dann lachte er. „Der Song sollte in jeder Playlist vertreten kann. Mindestens einmal."
Tim rollte mit den Augen. „Ehrlich jetzt? Das ist deine Ansicht zu Musik?"
„Es ist an sich kein schlechter Song. Helene Fischer macht schlechtere Musik."
„Aber du hast ihn garantiert nicht deswegen reingenommen."
Stegi grinste nur. „Ja."
„Ist auch ‚Never Gonna Give You Up' drin?"
„Nein", meinte er bloß. „Aber ich wünschte, ich wäre darauf gekommen."
„Du bist ein Idiot, Stegi." Tim stellte seinen halbleeren Kakao auf den Nachttisch und lehnte seinen Kopf gegen Stegis Schulter – Wozu er ziemlich nach unten rücken musste. Stegi lachte.
„Ach, aber du nicht?"
„Habe ich nie behauptet?"
Die Musik lief weiter. Mit all den Songs, bei denen Tim manchmal wissend dreinblickte und manchmal auch fragend, und Stegi ihm dann erklärte, was er damit bezweckt hatte („Ist es nicht gut, ist es verdammt noch mal nicht das Ende, nein. Ist doch offensichtlich, Timmi", hatte er gesagt und ihm dabei langsam durch die Haare gestrichen, in einer Hand immer noch die Tasse. „Denn wir kriegen ein Happy End." Jedenfalls hoffte er das. Sehr).
„Hey", fragte Stegi dann, als der nächste Song anspielte. „Erinnerst du dich noch?"
Stegi nämlich doch, irgendwie, an den Abend vor gefühlten Ewigkeiten, an dem sie Musik gehört und dazu verdammt beschissen getanzt hatten. Vielleicht hätte er Tim damals einfach küssen sollen. Das hätte viele Dinge vielleicht einfacher gemacht. Und andere komplizierter.
„Counting Stars?" Tim erhob sich von Stegis Schulter, stand auf und hielt ihm eine Hand hin. „Klar."
Lately I've been, I've been losing sleep dreaming about the things that we could be.
Stegi griff nach Tims Hand und ließ sich von ihm hochziehen. „Hätte ich nicht gedacht", meinte er und lachte. Dann zog er Tim zu sich und lächelte. „Schon wieder tanzen?"
„Schon wieder? Das ist bestimmt drei Monate her."
„Ich glaube, weniger." Trotzdem fing Stegi an, sich halbwegs im Takt bewegen. Alle zwei Monate musste man schließlich mal tanzen, richtig? I see this life like a swinging line. Stegi grinste Tim an und trat einen Schritt auf ihn zu, um mit ihm zusammen durch sein Zimmer zu tanzen, obwohl das eigentlich zu klein dafür war.
Tim konnte nicht tanzen, musste Stegi mal wieder feststellen.
Zu dem gerade relativ schnellen Teil versuchte er wohl irgendwie, seine Arme passend im Takt zu bewegen, aber es sah er absolut furchtbar auf. Zwar bezweifelte Stegi, dass er irgendwie besser aussah, aber er bewegte sich immerhin nur um Tim herum, die Lyrics zu laut mitsingend.
„I could lie, could lie, could lie" - Er stieß Tim an, damit der einstimmte, obwohl er nicht wirkte, als könnte er den Text – „Everything that kills me makes me feel alive!"
Tim unterbrach seine komischen Handbewegungen. „Was?"
Stegi lachte bloß. „Du sollst mitsingen."
„Said no more counting dollars, we'll be counting stars", sang er dann doch den Refrain, den ja sogar er auswendig kannte, und Stegi grinste zufrieden.
Schnell griff nach seiner Hand und drehte ihn mit sich, die Welt wurde schneller um sie herum. „Lately, I've been, I've been losing sleep." Er hatte das Gefühl, seine Stimme brach halb weg, weil er vergessen hatte, zu atmen, aber das war okay. Tim war hier und neben ihm und hin und wieder sprang er so sehr herum, dass er von ihm nur ein Lachen erntete, aber das war okay.
Aber auch Counting Stars war irgendwann vorbei.
Das nächste Lied schien Tim noch weniger zu kennen. Auf jeden Fall wirkte er wesentlich verwirrter als bei Counting Stars. Um fair zu sein, es war nicht ganz so bekannt, und sie hatten nicht ganz dieselbe Beziehung dazu.
„Mir ist schwindelig", beschwerte Stegi sich und vergrub den Kopf an Tims Schulter.
„Wir könnten uns hinlegen."
„Ne", murmelte er gegen Tims Pulli, der seine Stimme fast komplett dämpfte. „War doch erst ein Lied."
Tim lachte und legte seine Arme um ihn. „Wenn du das meinst."
Der Song war zu schnell, um sich langsam dazu zu bewegen, und Stegi hob den Kopf und legte die Arme um Tims Nacken und fuck, er war ihm wieder so verdammt nah. Tims Haare standen noch etwas ab, wegen dem Regen, aber das sah gut aus bei ihm. Fast hätte er das gesagt, aber er konnte sich gerade noch zurückhalten.
Stattdessen tanzte er mit Tim in dieser Position. Irgendwie. Einmal stolperte er fast, aber er konnte sich gerade noch auffangen, und dann legte er sein Kinn auf Tims Schulter.
Vielleicht war das eine dumme Idee. Oder Tim würde es merkwürdig finden. Aber in diesem Moment hätte er es kaum ausgehalten, das nicht zu tun, weil Tim so verdammt schön war (nicht nur auf sein Äußeres bezogen), und er weiter nicht gehen konnte, ohne es endgültig merkwürdig zu machen.
Schnell küsste er Tim in den Nacken, weil es sich anbot. Als Reaktion strich Tim ihn bloß kurz durch die Haare.
Stegi zog sich noch etwas näher an ihn heran. „Ich -", setzte er an, aber er wusste nicht, was er sagen wollte. Irgendwas, dass die Dinge in Worte fasste.
Aber Worte waren schwer.
Inzwischen war ihm tatsächlich schwindelig. Mehr als vorher. Er ließ sich aufs Bett fallen und zog Tim mit sich, während der nächste Song begann – Hey darling, I hope you're good tonight and I know you don't feel alright when I'm leaving – und rollte etwas zur Seite, damit Tim nicht auf ihm lag.
„Ich habe das vermisst."
Tim sah zu ihm und lächelte. „Ich auch."
„Der Song ist schön", murmelte er. If you can't wait til I get home then I swear to you that we can make this last. Hoffentlich. Er erinnerte sich noch, als er das erste Mal überlegt hatte, den Song in die Playlist zu nehmen. Er hatte sich fast sofort dafür entschieden, auch, als er sich nicht sicher gewesen war, was er eigentlich genau für Tim empfand.
Das es mal eine Zeit gegeben hatte, in der er das getan hatte, war verrückt. Jetzt saß er hier und es war so offensichtlich, warum sein Herz schneller schlug, seine Gedanken sich im Kreis drehten, wegen Tim und wegen Stegis verdammten, dummen Herz.
Während der Song im Hintergrund lief, You want it but I can't help it, I just feel complete when your by my side, sah Stegi Tim an. Irgendwann hatte er wohl versucht, seine Frisur zu retten, und seine Haare standen jetzt nur noch leicht ab. Er hatte die Augen geschlossen, sein Daumen strich über Stegis Handrücken; und warum saßen sie so weit auseinander? Warum konnte da nicht mehr sein? Gott, er wollte das hier, aber es reichte einfach nicht.
„Ich möchte dich küssen", flüsterte er. Für einen furchtbar langen Moment dachte (hoffte? fürchtete?) er, es wäre zu leise gewesen, um es zu hören.
Dann küsste Tim ihn.
Zuerst konnte er nicht glauben, dass das hier wirklich passierte. Dass das wirklich Tims Lippen auf seinen waren und nicht wieder irgendein verdammter Tagtraum. Er schloss die Augen und erwiderte den Kuss, und ja, das hier war echt – es war anders als seine Vorstellungen. Leiser, irgendwie. Kein großes Feuerwerk. Keine dramatischen Reden. (Aber es war so viel besser.)
Die wenigen Augenblicke fühlten sich an wie eine Ewigkeit.
Langsam zog Tim die Hand zurück, die er auf Stegis Wange gelegt hatte. „Weißt du, wie lange ich das schon tun wollte?"
Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Ich auch, vielleicht, aber das klang so pathetisch. „Warum hast du es nicht getan?" Ein Teil von ihm versuchte immer noch, so zu klingen, als wäre das keine große Sache, aber er hatte das Gefühl, es gelang ihm nicht besonders gut. Seine Stimme war so weich, dass sie ihn verriet. (Er konnte es immer noch nicht glauben. Tim hatte ihn geküsst und das war so unfassbar absurd.)
„Woher sollte ich denn wissen, dass du", begann Tim, stoppte aber kurz. „Dass du das überhaupt wollen könntest? Ich dachte, du wärst hetero, du Idiot."
Stegi lachte. „Nicht so wirklich."
Vorsichtiglehnte er sich vor und küsste Tim nochmal.
Hallo. Es ist passiert. Und das nicht an Silvester, ich hoffe, ihr verzeiht mir das!
Ich dachte, ich lade es heute schon hoch, weil das Kapitel ja quasi heute vor zwei Jahren spielt und weil Weihnachten ist und weil ich mich dafür bedanken wollte, dass ich insgesamt hundert Reviews auf ff.de geknackt habe. (Hundert! Ihr seid doch alle verrückt. <3)
Ich hoffe, ihr habt noch schöne Tage, egal, ob ihr Weihnachten feiert oder nicht & dass ihr jetzt glücklich seid. :D
(Songzeile: Lorde - Ribs)
(Zitierte/Erwähnte Songs: Weekend - Happy Birthday, Phoenix - 1901, EstA - 24/7, Smash Mouth - All Star, Rick Astley - Never Gonna Give You Up, Casper - Ariel, One Republic - Counting Stars, A Day to Remember - If It Means a Lot To You)
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