44. Kapitel | Zwölf
Ifyou love me, won't you let me know?
„Hey, dein Geschenk ist angekommen. Also das Paket", meinte Tim.
„Ehrlich? Ich hatte schon Angst, es wäre zu spät." Stegi hatte das Telefon auf seinen Schreibtisch gelegt, Lautsprecher an, während er auf dem Rand seines Französischzettels zeichnete. „Aber das ist gut."
„Ne, keine Sorge."
„Nächste Woche dann also dein Geburtstag, hm? Du wirst alt, du."
Tim lachte. „Ich komme der Volljährigkeit immer näher. Im Gegensatz zu dir."
Irgendwas an der Zeichnung war merkwürdig. Wahrscheinlich, weil er sie hatte abschneiden müssen, damit sie sich nicht mit dem Text überschnitt, den er eigentlich hätte lesen müssen. „Reit auch noch drauf rum, dass ich jünger bin als du."
„Du darfst dich gern immer darüber lustig machen, dass ich älter bin", meinte Tim gutmütig. „Und? Wie läufts so? Wir kommen viel zu wenig zum Reden."
„Das letzte Mal war Freitag!" Und das war erst drei Tage her. Trotzdem kam es Stegi ebenfalls wie eine Ewigkeit vor, aber entweder er oder Tim hatten keine Zeit gehabt – Tim war komplett mit diesem komischen Filmprojekt beschäftigt, dass sie beide am Ende ziemlich verdrängt hatten. Zwar hatte er Noa als Schauspielerin einspannen können, aber der Großteil der Arbeit blieb an ihm hängen, hatte er erzählt. Oh, und Klausuren.
Stegi schrieb eigentlich nur Klausuren. Und er hatte jetzt wohl so etwas wie Freunde, und während er lange nicht zu allen ihren Treffen eingeladen wurde (und zu noch weniger tatsächlich hinging), war er auch damit abends häufig beschäftigt.
Seitdem er Tim die betrunkene Nachricht geschickt hatte, war etwas mehr als eine Woche vergangen – zum Glück hatte er dazu keine weiteren Fragen gestellt. Aber er hatte sie gelesen, natürlich. Vielleicht war es also gut, dass sie beide nicht so viel Zeit hatten, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Weder Tim über Stegis betrunkene Nachrichten noch Stegi über seine Gefühle für Tim.
„Und?", fragte Tim. „Das fühlt sich eben länger an."
„Ja. Kann man wohl so sagen." Er legte den Bleistift beiseite, schob den Zettel etwas weg, wartete darauf, das Tim das Schweigen unterbrach. „Was ich so mache – Ich wollte grad für französisch lernen. Weil ich Mittwoch ne Klausur schreibe. Aber ich werd die eh verhauen, also was soll's. Und du so?"
„Ich schlafe zu wenig. Ich trinke manchmal sogar Kaffee."
„Oh, es ist übel!", antwortete Stegi theatralisch. „Sicher, dass ich nicht vorbeikommen und nachschauen soll, ob du gesund bist?"
„Komm doch her." Da war eine scherzhafte Herausforderung in Tims Stimme. „Wenn du dich traust."
„Ich würd ja liebend gerne", meinte er nur. „Wirklich. Aber hey – noch zwölf Tage." Noch zwölf Tage. Nicht mehr lange, und er würde so eine Art Tim-Countdown starten können. Zehn. Neun. Acht.
46 Tage. Das war ihm ewig vorgekommen, und es war das auch gewesen; allein, wenn er daran dachte, wie viel zwischen ihm und Tim passiert war in den 42 Tagen, bevor er umgezogen war. Und jetzt? Jetzt war das alles fast vorbei.
„Genau. 6 Tage bis zu meinem Geburtstag, dann noch 6 Tage, bis ich wieder bei dir bin."
„Ich hoffe, ich kann solange warten." Zwölf Tage. Das klang doch machbar. Gar nicht mehr so lang.
Tim seufzte. „Bestimmt geht die Zeit schnell rum."
So ewig, wie sich die letzten Wochen gezogen hatten, bezweifelte Stegi das zwar, aber er stimmte trotzdem zu. „Ach, übrigens", meinte er dann – denn wer wusste, wie oft er bis zu seinem Geburtstag mit Tim sprechen würde. Und wie oft er noch daran denken würde. „Tut mir Leid, dass ich dir neulich diese Nachrichten geschrieben habe und so. Ich hab etwas zu viel getrunken."
„Kein Ding." Tim lachte. „Ich finde das sehr süß, dass du nachts betrunken nach Hause stolperst und einer deiner ersten Gedanken ist, mir eine Nachricht zu schicken."
Stegi schloss die Augen. Gut, dass sie nur telefonierten – Sonst hätte Tim sehen können, dass er wahrscheinlich gerade furchtbar rot wurde. Und nervös. „Okay. Gut. Danke, meine ich."
Fast hätte er erwartet, dass Tim jetzt wieder einen Witz dazu machen würde. Schließlich war süß hier nicht so gemeint, richtig? „Und es waren nicht so furchtbare betrunkene Nachrichten."
„Es hätte schlimmer kommen können", bestätigte er. Und wie es das hätte. Verdammt.
Für einen Moment erlaubte er sich die Vorstellung, was dann passiert wäre. In einer besseren Welt, in der alles nicht so beschissen für ihn lief. Vielleicht hätten er und Tim dann tatsächlich darüber reden müssen – aber dann wäre dieses Geheimnis immerhin nicht mehr zwischen ihnen. Und in einer besseren Welt wäre er für Tim vielleicht auch nicht ausschließlich ein Freund.
All we do is think about the feelings that we hide. Fuck, konnte das nicht weniger wahr sein?
~ * ~
„Wie fandest du Französisch?", fragte Oskar, der im selben Kurs war, aber schon ein paar Minuten vor Stegi abgegeben hatte.
Stegi zuckte mit den Schultern. „Etwas besser als erwartet."
„Ich weiß, es klang, als würde es richtig schwierig werden, oder? Aber es ging dann doch. Gut, dass ich nicht gelernt hatte, das wäre nämlich verschwendete Zeit gewesen."
Auch Stegi hatte letzen Endes kaum gelernt, sondern mit Tim telefoniert. Und am Dienstag hatten seine Eltern sich dann für einen Familientag entschieden, was hieß, sie hatten die Wohnung irgendwie so hingerichtet, dass Lucy für drei Wochen einziehen konnte, wenn sie Samstag ankam. Außerdem hatten sie einen familienfreundlichen Film gesehen, also irgendwas von Disney, und er war dementsprechend nicht so richtig zum Lernen gekommen.
„Was hast du stattdessen so gemacht?", wechselte er das Thema, weil er Französisch am liebsten einfach vergessen wollte.
„War gestern mit Luca bei irgendsoeinem Barabend, zu dem Luca schon länger mal hinwollte, aber sich alleine nicht getraut hat."
Stegi runzelte die Stirn. „Barabend? An nem Dienstag?"
„Anscheinend ja. Frag nicht, wieso. Aber war witzig. Wir mussten nur früh los, weil Luca nicht wollte, dass ich wegen Luca Französisch verhaue. Als wenn ich das nicht auch alleine hinbekommen hätte im Zweifelsfall."
„Aber du hast sie ja nicht verhauen."
Grinsend nickte Oskar. „Muss an Luca liegen, was?"
„Sieht wohl so aus. Kommst du mit, einen Kaffee holen?"
„Warum nicht? Solange ich selbst keinen trinken muss."
Stegi schüttelte den Kopf und machte sich auf dem Weg zu ihrem Stammladen. Für die fünfzehn Minuten, die sie noch hatten, bevor die nächste Stunde anfing, lohnte es sich wohl nicht, sich reinzusetzen, also bestellte er den Kaffee To Go. Während er bezahlte, fing Oskar wieder an, zu reden.
„Wir schenken uns nicht zu Weihnachten, oder? Ich bin nämlich pleite. Und ich kann nichts zeichnen oder so."
„Ist okay", meinte Stegi nur und nahm den Kaffeebecher. „Hab mit dem Rest eh abgemacht, dass wir uns nicht schenken."
„Und, was machst du so bis zu den Ferien? Ist ja bald endlich soweit."
Ja. Neun Tage. Nicht mehr lange, nicht mehr lange, nicht mehr lange. „Freitag kommt meine Schwester an", erzählte er, während er den Laden verließ. „Und Samstag ist Tims Geburtstag. Und in der Woche darauf? Keine Ahnung."
„Was schenkst du Tim zu Weihnachten? Ich muss alles wissen." Oskar lachte. „Ehrlich, hast du ne Idee? Er kommt doch vorbei, oder?"
„Jap." Irgendwie antwortete er damit auf beide Fragen. Er hatte eine Idee, was er Tim schenken konnte. Eine vage jedenfalls. Aber das musste er Oskar nicht erzählen. Jetzt noch nicht. „Und du? Was schenkst du Luca?"
„Luca feiert kein Weihnachten", meinte Oskar bloß simpel. „Darf ich eigentlich mal deinen Kaffee halten? Meine Hände frieren ab. Ehrlich, es sind fast Minusgrade."
Stegi händigte ihm den Becher aus – schließlich würde Oskar eh nichts davon trinken – und vergrub die eigenen Hände in den Jackentaschen. Tatsächlich war es um einiges kälter geworden, seitdem er damals den Sonnenaufgang beobachtet hatte. Inzwischen wäre es vermutlich wirklich zu kalt dafür. „Luca feiert kein Weihnachten? Warum nicht?"
„Luca ist jüdisch. Und Luca ist zwar nicht superreligiös, aber feiert eben trotzdem jüdische Feiertage."
„Aber fährt Luca nicht über die Feiertage zu irgendwelchen Familienleuten?"
„Jap. Am 25. ist Chanukka, aber wir schenken uns halt trotzdem nichts. Warum auch." Oskar grinste. „Außerdem ist Weihnachten nur noch Konsum und Weihnachten zu ignorieren ist quasi ein antikapitalistischer Akt. So wie ausschlafen zum Beispiel."
Stegi sah ihn verwirrt an. „Was redest du für einen Unsinn?"
„Unsinn trifft es ganz gut, ja."
Schnell schnappte er den Kaffee aus Oskars Händen. Langsam wurden seine Hände nämlich auch kalt (er brauchte dringend eine vernünftige Winterjacke), und außerdem brauchte er das Koffein.
„Die Jugend von heute." Oskar schüttelte den Kopf. Dabei war er nur zwei Monate älter als Stegi. „Was machst du an Silvester?"
„Silvester?" Stegi zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht?"
„Ich wollt bei mir vielleicht ne Party schmeißen. Der Rest kommt natürlich, und vielleicht ein paar andere Leute aus der Schule und meine Freunde, die nicht auf die Schule gehen. Hättest du Bock?"
„Tim kommt vorbei", erinnerte Stegi ihn.
„Umso besser. Dann kann ich ihn endlich kennen lernen."
„Ich kann ihn mal fragen, ob er Lust hat." Er trank den letzten Schluck vom Kaffee, behielt den Becher aber in der Hand. Noch war er warm. „Ich schreib dir dann?" Besser als Silvester mit Tim und seiner Familie zu feiern war es bestimmt, denn das würde nur wieder unangenehm werden. Und seine Eltern waren so begeistert Stegis plötzlichem Sozialleben, dass sie ihm quasi alles erlaubten.
„Super." Oskar grinste und nahm sich den Becher in genau dem Moment, in dem es klingelte. „Danke für den Handwärmer!", rief er Stegi noch zu, der leider in die komplett entgegengesetzte Richtung musste und sich wohl von seinem Handwärmer verabschieden musste.
Natürlich würde Tim Lust auf die Silvesterparty haben. Besonders, wenn man bedachte, dass sie sonst wahrscheinlich bei Stegi feiern würden. Wie merkwürdig alle Situationen waren, in denen Tim in einem Raum mit Stegis Eltern war, wussten sie ja beide zu gut.
Also Silvester bei Oskar. Das konnte ja heiter werden.
(Songzeile: Coldplay - Violet Hill)
(Zitierter Song: Halsey - Drive)
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro