43. Kapitel | Outing
Vielzu lange haben wir mit uns gerungen, viel zu lange hatten wir Angstvor uns selbst
Den Samstag hatte Stegi hauptsächlich damit verbracht, zu schlafen. Und dann damit, immer noch ziemlich fertig zu sein, und ein bisschen mit Tim zu schreiben.
Aber jetzt war es Sonntagabend, und er musste am nächsten Tag früh aufstehen, aber wen kümmerte das schon, wenn man auch irgendwelche Fremden im Internet fertigmachen konnte? Rafi hatte keine Zeit (er schrieb dieses Jahr Abi und hatte einen Nebenjob und war daher selten dabei), aber Tobi hatte ja eh kein Leben, also hatten sie sich verabredet, heute Abend zu zocken.
„Gott, was ein Arsch", murmelte er, als irgendein Typ ihn umbrachte und damit das Spiel gewann. „Hat der grad eZ in den Chat geschrieben? Ich hasse ihn."
„Sollen wir was anderes zocken?", fragte Tobi. „Hier sind irgendwie heute nur solche Menschen unterwegs."
Stegi zuckte mit den Schultern, aber das konnte Tobi offensichtlicher Weise nicht sehen. „Klar, können wir machen." Er schloss das Spiel und trank etwas von der Cola, die er sich in weiser Voraussicht neben den PC gestellt hatte. „Was denn?"
„Kein Plan."
„Läuft ja gut. Genauso wie alles andere." Tatsächlich war der Abend für sie nicht sehr erfolgreich verlaufen. Beziehungsweise hatten sie in so ziemlich allen, was sie spielten, wirklich absolut verkackt. Stegi schätzte, dass es zumindest bei ihm daran lag, dass er einfach zu viele andere Dinge im Kopf hatte. Vielleicht war das bei Tobi ja auch so? „Wie geht's dir eigentlich?", fragte er, während er mehr oder weniger aufmerksam seine Spielebibliothek durchsah.
„Ganz okay, schätze ich." Tobi lachte. „Muss ja alles, oder?"
„Hm-hm", murmelte er. „Was ist los?" Er erinnerte sich daran, wie gut es ihm getan hatte, mit Oskar zu reden, und er hoffte, das wäre bei Tobi vielleicht ähnlich. Außerdem machte er sich eben Sorgen um seine Freunde.
„Ziemlich viel Schulstress. Zu wenig Schlaf. Du kennst das."
Stegi nickte. Ja, er kannte das. Okay, wegen der Schule machte er sich meistens nicht mehr Stress, als nötig war (außer vor wirklich wichtigen Klausuren vielleicht), aber er war auch generell immer nicht so furchtbar schlecht gewesen. Zu wenig Schlaf hingegen war auch sein Dauerzustand. „Kenne ich, absolut."
„Wie geht's dir eigentlich? Man hört gar nichts mehr von dir."
„Hey, ich hab mir eben erfolgreich Freunde gesucht", grinste Stegi. „Ne, ehrlich. Es ist merkwürdig. Da ist nicht nur Tim, sondern irgendwie bin ich hier einfach an so ne Gruppe von Leuten geraten, und irgendwie sind wir jetzt wohl Freunde, schätze ich?"
„So ne Gruppe von Leuten?", hakte Tobi nach.
Ihm fiel auf, wie wenig er mit Tobi redete. Und dass er das definitiv wieder mehr tun sollte. Immerhin war der Typ einer seiner besten Freunde – Aber mit dem ganzen Kram, der gerade passierte, bei beiden von ihnen, war das eben manchmal schwierig. Besonders über die Distanz. Umso beruhigender war es, dass sie trotzdem noch miteinander redeten wie vorher.
„Aus der Schule." Kurz überlegte Stegi, wie er sie beschreiben sollte – was nicht so einfach war, wie er gedacht hatte. „Einfach ne Gruppe von ziemlichen Chaoten, schätze ich? Sie sind nett, aber ich weiß nicht. Die meisten von denen kennen sich schon gefühlt Jahre. Es ist merkwürdig, zu versuchen, da reinzupassen."
„Und? Wie sind sie so drauf?"
„Ganz okay, schätze ich", wiederholte er Tobis Antwort von vorhin. „Keine Ahnung. Einer von denen ist irgendwie n bisschen merkwürdig, aber auf die positive Art. Einer ist n Nerd" - jedenfalls war das der Eindruck, den er von den paar Gesprächen mit Phil von ihm bekommen hatte - „Die eine ist nett, aber aufdringlich, etwas, und – ach, keine Ahnung. Aber weißt du, was witzig ist?"
„Du wirst es mir sicherlich sofort erzählen."
„Zuerst hab ich mich mit Tim angefreundet und dann hier zielsicher wieder mit der erstbesten Freundesgruppe, in der gefühlt einfach keine heterosexuelle Person ist. Ehrlich. Bei einer hab ich keine Ahnung, aber der Rest..."
„Du ziehst diese Menschen einfach an, oder?", stellte Tobi fest. „Warum auch immer."
Stegi hatte eigentlich eine ziemlich gute Erklärung dafür. Er meinte, dass mal irgendwo gelesen zu haben (wahrscheinlich nur irgendwo im Internet), dass sich Menschen wie er fast immer in Gruppen zusammen fanden. Manchmal ohne es zu wissen – Er verstand nicht, warum. Mit Sicherheit gab es da irgendwo eine Studie zu.
Als er das gelesen hatte, hatte er es für ziemlichen Bullshit gehalten. Und irgendwie kam ihm das immer noch ziemlich bescheuert vor, und vielleicht war das ja auch alles nur Zufall.
Wie er das Tobi erklären sollte, wusste er aber auch nicht.
„Keine Ahnung", meinte er also bloß, „Zufall?"
„Kann sein."
„Hm." Stegi lehnte sich in seinem Stuhl etwas zurück und seufzte. Würde er nicht eh irgendwann erzählen müssen, dass er bi war? Okay, müssen vielleicht nicht. Aber falls – nur falls – er mal eine Beziehung mit einem anderen Typen haben würde, hätte er auch keine Lust, dass vor Leuten zu verstecken.
Und Tobi war weniger riskant als seine eigene Familie. Tobi war sein Freund – und er würde das akzeptieren. Bestimmt. Immerhin war er, nun ja, ein ziemlich cooler Typ; und erwartete anders als seine Familie nicht, dass er „eigene" Kinder haben und ganz klassisch heiraten würde.
„Tobi?", fragte er. „Kann ich dir was erzählen?"
„Klar, schieß los."
Er wusste, dass Tobi ihn nicht anschreien würde. Oder verurteilen. Oder aufhören würde, sein Freund zu sein. Fuck, es war Tobi gewesen, der selbst Kommentare dazu gemacht, dass Stegi vielleicht nicht hetero war. Trotzdem hätte er am liebsten wieder einen Rückzieher gemacht.
Die nächsten Worte überschlugen sich fast, weil er einfach schnell damit durch sein wollte. „Ich bin bi – also, glaube ich. Vielleicht. Wahrscheinlich. Ja."
„Okay." Tobi klang nicht enttäuscht, oder überrascht, oder freudig, oder sonst irgendwie, als hätte er irgendeine Emotion. „Okay. Du bist bi."
„Ja", bestätigte er.
„Das..." Er schien zu überlegen, was er sagen wollte. „Okay. Das ist okay. Fuck man, was soll ich dazu überhaupt sagen?"
„Jetzt tu nicht so, als wäre dein Part der unangenehmere gewesen."
Tobi lachte. „Nein. Vermutlich nicht." Wieder schwieg er für eine Weile, und Stegi konnte das anzügliche Grinsen in seinen Worten spüren. „Liegt es an Tim?"
Stegi seufzte tief. „Ja. Okay. Liegt es. Du hattest recht."
„Ich wusste es. Aber ehrlich, ich kann nicht glauben, dass dein ganz furchtbarer neuer Projektpartner der Grund ist, aus dem du jetzt schwul bist."
„Bi", korrigierte er, weil er irgendwie nicht wollte, dass Tobi ihn für schwul hielt. Also, nicht dass Schwule etwas schlechtes gewesen wären – oder dass er es schlimmer gefunden hätte, schwul zu sein. Aber er war eben nicht schwul. Jedenfalls dachte er das. Und es wäre merkwürdig, wenn Tobi das denken würde. „Und ich bin jetzt nicht wegen ihm bi. Und er ist jetzt auch nicht der einzige Typ, den ich heiß finde."
„Wen denn noch? Mich?"
„Also dich garantiert nicht. Aber es gibt schon ein paar echt gut aussehende Schauspieler und sowas. Keine Ahnung. Ich dachte halt immer, dass wäre normal, die attraktiv zu finden."
Tobi lachte. „Ehrlich? Also ich find auch, dass manche Typen gut aussehen – aber nicht dieses Ich will ihn ficken attraktiv, weißt du?"
Wenn er Tobi gerade neben sich gehabt hätte, hätte er ihn vermutlich geboxt. Trotzdem musste er lachen. „Von ficken war hier nie die Rede!"
„Nur mit Tim."
„Alter."
„Benutzt Kondome."
„Gott, ich hasse dich", murmelte Stegi. „Ehrlich, ich mach gleich einfach den Laptop aus."
„Du kannst mir nicht entkommen. Ich hab deine Nummer. Und dein Twitter. Und Insta. Und Snapchat. Und Discord. Und Skype. Und -"
„Halt einfach die Fresse, Tobi. Oder such dir endlich ein verdammtes Spiel aus."
„Overwatch?", schlug er vor.
Stegi zuckte mit den Schultern. „Warum nicht. Besser als das hier ist das allemal."
(Songzeile: Schrottgrenze - Glitzer auf Beton)
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