42. Kapitel | Morgenstunden
Iwatch the night turn lightblue, but it's not the same without you
Stegi tippte mit dem Stift auf dem Tisch herum, sehr zum Missfallen von Lauren, die neben ihm saß. Aber es war Freitagnachmittag, letzte Stunde, und die Woche war anstrengend gewesen. Verdammt anstrengend. Kaum war er aus der Klausurenphase in Bayern raus, da fing die in Bremen gerade wieder an. Alle Lehrer fingen jetzt schon an, sich Sorgen darüber zu machen, wie sie den Stoff in die Köpfe ihrer Schüler prügeln konnten.
„Kannst du damit mal aufhören?", fragte Lauren, Augen halb auf ihr Buch gerichtet. Mathe fiel ihr schwer, jedenfalls behauptete sie das, aber sie war trotzdem ziemlich gut darin. Wahrscheinlich würde ihre Klausur besser ausfallen als Stegis. (Sie schrieb aber auch die Themen von der Tafel ab, während Stegi das vage Gefühl hatte, in München schonmal über genau dasselbe Thema geschrieben zu haben, also brauchte er das doch gar nicht, oder?)
Seufzend öffnete er seinen Block. Jetzt tippte er mit dem Stift auf dem Papier herum (Lauren rollte bloß mit den Augen) und überlegte, was er zeichnen sollte. In letzter Zeit schien sein Gehirn immer öfter einfach zu Tim zu schweifen, aber er schob den Gedanken beiseite. Er verbot sich selbst nicht mehr ganz so oft, über ihn nachzudenken, das brachte ja eh nichts, aber in der Schule? Da wollte er damit jetzt nicht auch noch auffallen. Und Lauren nebenbei Infos geben über diese mysteriöse Person, über die sie ihn immer noch regelmäßig ergebnislos ausfragte.
Also skizzierte er stattdessen das erstbeste, was ihm in den Sinn kam: Regen über dem Meer. Was nicht weniger Tim war, aber garantiert nicht so auffällig. Ein Mensch nur ein Tropfen im Meer. Langsam verstand er, was Tim damit gemeint hatte, mit diesem alleine unter Freunden. Warum niemand wusste, wie man wirklich war.
Irgendwie hatte er ja Freunde hier in Bremen. Mehr oder weniger. Aber sie kannten ihn noch lange nicht so gut wie Tim, und er hatte nicht das Gefühl, dass sie das in nächster Zeit tun würden. Damals waren sie irgendwie in diese Freundschaft gestolpert, beide etwas ahnungslos, wie so etwas eigentlich funktionierte, aber sie hatten sich sofort verstanden. Stegi mochte die bremer Leute, aber sie waren nicht Tim, und ihre Freundschaft war anders.
(Er wünschte, sie würden ihn auch so gut verstehen. Und dass alle von ihnen wüssten, wie viel Angst er davor hatte, Menschen zu vertrauen, wie das ganze Umziehen ihn kaputt gemacht hatte, dass er in seinen besten Freund verknallt war, dass er bi war, er wünschte, er könnte einfach er selbst sein.)
Langsam nahm die Skizze vor ihm Gestalt an, und er zeichnete noch ein kleines Boot ein, das überhaupt nicht zu den Proportionen der Regentropfen passte. Was sein Perfektionismus zwar hasste, aber er wusste nicht, was er sonst tun sollte, und seinem Lehrer zuhören würde das ganz bestimmt nicht sein.
„Soll ich dir die Themen später schicken oder hast du vor, dich dafür noch selbst zu bemühen?", fragte Lauren ihn trocken und schreckte Stegi damit auf.
„Kannst du mir das schicken?" Er lächelte. „Danke."
Sie seufzte, nickte aber. „Ich hab dir übrigens deine CD gebrannt, ich geb die dir dann heute Abend, falls das okay ist."
„Du bist die Beste." Er klappte seinen Block zusammen. Laut der Uhr waren es noch fünf Minuten bis zum Unterrichtsschluss, und er war verdammt hungrig und wollte dringend nach Hause, um was zu Essen und noch Energie zu tanken für den restlichen Tag.
„Nur netter, als ich sein müsste", murmelte sie.
„Und kannst du mir nochmal deine Adresse schicken? Sonst find ich deine Wohnung nicht."
„Werd ich tun, aber wenn du mich um eine weitere Sache bittest, reiß ich dir den Kopf ab." Sie riss ein Stück von dem Zettel ab, auf den sie die Themen geschrieben hatte, kritzelte eine Adresse darauf und schob sie Stegi hin. „Bitteschön."
„Danke." Langsam schob Stegi schonmal seine Sachen ein (dieser Lehrer war zum Glück keiner dieser Ich beende den Unterricht-Menschen), bereit, jeden Moment aufzuspringen.
Gott, er wollte Wochenende. Er wollte nach Hause.
Er wünschte, der Mensch, der sich am meisten nach zuhause anfühlte, wäre nicht 582 Kilometer weit entfernt.
~ * ~
Nachdem Stegi die letzte Verabredung der Gruppe so spontan abgesagt hatte, war Oskar der entschiedenen Meinung gewesen, sie müssten das ein anderes Mal nachholen. „Ohne die Playlist", hatte er versprochen, „Einfach nur zusammen und rumsitzen und, keine Ahnung, reden oder so."
Und da Laurens Eltern am Wochenende nicht da waren (allgemein waren sie das wohl öfter, weil sie arbeiteten oder die Familientreffen besuchten, aus denen Lauren sich immer geschickt herausredete), wollten sie sich heute bei ihr treffen. Immerhin hatte das den Vorteil, dass Stegi die Wohnung schon einmal gesehen hatte.
Auch, wenn seine Mutter ihn doch etwas merkwürdig ansah, als er ihr erzählte, dass er „schon wieder" zu Lauren gehen würde. Irgendwie wartete er bloß darauf, dass sie ihn fragte, ob da etwas lief. (Aber bei Tim war er fast eingezogen, und Tim bei ihm, und trotzdem hatte sie die Frage nie gestellt. Natürlich.)
Jetzt stand er also bei Lauren im Flur, hängte seine Jacke an die Garderobe und warf seine Schuhe auf den Haufen mit Schuhen, die bereits da waren. Sein Rucksack war relativ schwer, weil Lauren gesagt hatte, er solle was zu Essen mitbringen. Lauren war schonmal in ihr Zimmer gegangen, und Stegi entschied sich, ihr zu folgen.
„Hey, Stegi", meinte Oskar, der neben Luca und Pauline auf der Couch saß, auf der Stegi neulich auch übernachtet hatte. „Du bist auch etwas zu spät, oder?"
„Die Bahn ist nur noch so selten gefahren", verteidigte er sich.
Oskar nickte. „Nachts fahren die nicht mehr so oft. Eigentlich war's auch voll dumm, sich erst um Mitternacht zu treffen."
„Stimmt. Ich hab Chips dabei", wechselte Stegi das Thema und zog die Tüte aus seinem Rucksack.
„Sonst noch was?", fragte Pauline.
„Süßigkeiten. Und die Packung getrocknete Mango, die wir noch zuhause hatten."
„Super." Sie grinste und griff sich die Packung Katjes aus Stegis Hand. „Und jetzt?"
Stegi öffnete die Chipspackung, weil er mehr so der Chipsfan war, während Lauren bereits ihr Handy herausholte. „Ich bin für Musik", verkündete sie, und – ohne weitere Reaktionen abzuwarten – startete sie eine Playlist.
Aus der Box auf dem Regal spielte irgendein Lied, das Stegi nicht kannte, fast alle anderen aber anscheinend mitsingen konnten. Luca, die einzige Person mit genauso wenig Plan wie er, lächelte ihm aufmunternd zu.
Es war ganz gut, dass Luca hier war – dann fühlte Stegi sich nicht so alleine als neue Person in der Gruppe. Ein bisschen vielleicht, immer noch, weil er nicht so gut darin war, sich nicht alleine zu fühlen – aber nicht mehr so sehr wie sonst.
„Was macht ihr so an Weihnachten?", fragte Phil in die Runde. „Wo doch ab morgen Dezember ist."
(Noch 22 Tage, dachte Stegi, aber er schob den Gedanken zur Seite.)
„Familie." Lauren seufzte. „Diesmal kann ich mich wohl nicht drücken."
Stegi fragte sich, was genau das schlimme an Laurens Familie war. Oder ob sie einfach ganz allgemein kein Interesse an ihr hatte. „Ich krieg Besuch von meinem besten Freund", erzählte er (und er sah Oskar nur aus dem Augenwinkel, aber er hätte schwören können, dass der Typ eine Augenbraue hochzog). „Und meine Schwester kommt vorbei, schätze ich."
Während der Rest der Gruppe von ihren Plänen erzählte, versuchte Stegi, sich auf dem Boden etwas bequemer hinzusetzen. Natürlich hatte er mal wieder als Letzter da sein müssen. Phil fuhr mit seiner Familie weg, irgendwo in den Süden, und Luca besuchte Lucas Großeltern. Nur Oskar zuckte mit den Schultern und hatte wohl keine Ahnung.
„Die haben immer noch nicht gecheckt, dass ich Luca heiße", seufzte Luca und lehnte sich vor, um einen Chip aus der Packung zu angeln. „So schwer ist doch jetzt wirklich nicht?" (Zuerst verstand Stegi überhaupt nicht, was Luca meinte – bis ihm auffiel, dass Luca vielleicht nicht der Name war, den Lucas Eltern Luca gegeben hatten.)
„Menschen sind halt scheiße", erklärte Oskar bloß und lehnte sich an Lucas Schulter.
Pauline nickte zustimmend. „Darauf trink ich einen."
„Wir könnten ein Trinkspiel spielen", schlug Oskar vor. „Wahrheit oder Pflicht oder so."
„Aber ich trinke nicht, ich schau euch nur zu, wie ihr besoffen werdet. Gott, das wird anstrengend." Lauren lachte. „No offense. Aber wenn ich nichts trinken muss, bin ich gern dabei bei was auch immer, Flaschendrehen oder so."
„Flaschendrehen?", meinte Oskar abschätzig. „Wir sind nicht zwölf."
Lauren rollte mit den Augen. „Ach, aber Wahrheit oder Pflicht ist aber viel erwachsener, ne?"
„Eigentlich hat Oskar nur keinen Bock darauf, irgendeinen von euch zu küssen", mischte Phil sich sein.
„Genau", meinte der. „Dafür muss ich wesentlich betrunkener sein."
Stegi ließ sie diskutieren und tippte stattdessen lieber auf seinem Handy herum. In dem Chat mit Tobi und Veni herrschte ziemlich tote Hose – er musste wirklich mal wieder mit den beiden zocken. Also schrieb er ihnen das. Er war nicht sozial genug, um von Thema Trinkspiele Ahnung zu haben.
Letzten Endes einigten sich auf eine App, von der Phil wegen jemandem aus der Schülerzeitung wusste, und waren einstimmig dafür, sich Pizza zu bestellen. Lauren konnte dafür argumentieren, dass sie Ginger Ale trinken durfte (eigentlich wollte Oskar ihr Sauerkrautsaft aufdrücken, aber den hatten sie natürlich nicht da), und während Pauline die App herunterlud, beschäftigte Lauren sich damit, die Pizzas zu bestellen.
„Warum habt ihr in der Schülerzeitung überhaupt Leute, die trinken?", fragte Stegi, denn alles, was er vom Augustkäfer mitbekommen hatte, klang so, als würde er von nerdigen Siebtklässlern und Phil geschrieben werden. Aber vielleicht gab es ja noch andere, etwas ältere Leute, und von denen erzählte Phil nicht, weil sie weniger witzig waren.
Phil zuckte mit den Schultern. „Schreibe betrunken, editiere nüchtern, hat doch mal dieser eine Schriftsteller gesagt."
„Ich glaube, da ging es um ernsthafte Literatur", sagte Luca. „Nicht um Artikel über den Lehrer des Monats."
„Wer sagt, dass das keine ernsthafte Literatur ist?"
„Jeder", meinten Pauline und Stegi gleichzeitig.
„Ist es auch nicht. Es gewinnt immer derselbe Lehrer. Wir formulieren nur in jeder Ausgabe drei Sätze um, damit man nicht so sehr merkt, dass es immer derselbe Artikel ist."
„Tja." Pauline zuckte mit den Schultern. „Hey, Stegi, kannst du uns was zu trinken einschenken? Ist in meiner Tasche."
„Was wollt ihr denn trinken?", fragte er, während er nach ihrer Tasche griff.
„Wir können mit Gin Tonic anfangen", schlug Oskar vor.
Stegi war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, direkt harten Alkohol zu trinken, wenn er überhaupt erst angefangen hatte, das erste Mal seit Ewigkeiten überhaupt etwas zu trinken. Er griff sich erstmal ein Bier und holte den Gin aus der Tasche.
„Schütt den schonmal ein, ich hol den Rest", meinte Lauren. „Pizza ist übrigens in ner halben Stunde da."
Pauline riss ihm zwar schnell die Flasche aus der Hand - „Spinnst du, weißt du, wie viel du da grad reintust?" - und übernahm das Einschenken lieber selbst (Stegi hatte gar nicht das Gefühl gehabt, so viel eingeschenkt zu haben, aber vielleicht war das auch nur seine Eigenwahrnehmung), aber letzten Endes hatten sie alle ihre Getränke, Lauren auch ihr Ginger Ale, und Pauline prostete ihnen zu. „Dann wollen wir mal, was?"
Stegi setzte sich etwas aufrechter hin und griff sich eine Hand voll Chips.
„Das Ding stellt uns jetzt Fragen oder Aufgaben oder so – also. Dann wollen wir mal, was?" Sie lachte. „Nummer eins: Stegi fängt an, ein Lied zu singen. Wer es als erstes errät, darf drei Schlucke verteilen."
Gott. Es waren genau diese Fragen, die Stegi sofort alles vergessen ließen, wofür er sich je interessiert hatte. Schließlich fing er doch an, sehr schlecht einen Song zu singen, den hoffentlich jemand von ihnen kannte: „Sehr geehrter Kaliba, netter Versuch, kritische Texte, Weltverbesserer-"
„Alligatoah", unterbrach Oskar ihn. „Musik ist keine Lösung. Hey, Lauren, kannst du den Song anmachen?"
„Und ich dachte schon, ich dürfte endlich mein Ginger Ale trinken."
„Das meinetwegen auch", meinte er und grinste. „Trink, und mach meine Musik an."
Also hörten sie Alligatoah und spielten ein bisschen weiter. Stegi war irgendwann auch auf die Couch umgezogen, nachdem Luca sich für eine Aufgabe auf Oskars Schoß hatte setzen müssen und sich geweigert hatte, wieder wegzugehen. Sein Bier hatte er inzwischen auch gegen Gin Tonic (mit sehr wenig Gin) eingetauscht, und allgemein war die Stimmung gut.
Es klingelte. „Pizza ist da, Leute!" Lauren stand auf. „Ich hol die schon, wartet auf mich."
„Und es wurd grad interessant." Pauline legte ihr Handy zur Seite. „Aber Pizza is' auch nice."
„Was war die Frage?", fragte Luca.
„Irgendwas zum Thema Küssen. Ich mein, mein Kram ist da nicht so interessant, aber eurer? Ich will alles wissen." Lachend lehnte sie sich auf der Couch zurück.
Luca zuckte mit den Schultern. „Ich mein, viel gibt's da nicht zu erzählen. Oskar war mein erster Kuss."
„Tja", meinte Oskar. „Du aber nicht meiner."
„Idiot", grummelte Luca und küsste ihn kurz. „Aber ich war hoffentlich besser als dein Ex."
„Klar."
Ein leichter Stich von Neid durchfuhr Stegi – Klar, er freute sich für die beiden. Und sie waren schon süß zusammen. Aber er wünschte einfach, er hätte auch so etwas.
„Mein erster und leider letzter Kuss ist ewig her", erzählte Phil. „Auf irgendeiner Party. War nicht sehr romantisch, aber sonst ganz gut. Ist aber nichts draus geworden."
„Davon hattest du erzählt", erinnerte Pauline sich. „Der Typ, der dich gefragt hat, ob du Männerparfüm benutzt?"
„Der." Phil schüttelte den Kopf. „Gott, voll bescheuert. Stegi, wie sieht's bei dir aus?"
Er hatte diese Frage gefürchtet. Klar, es war nicht schlimmes daran, ungeküsst zu sein – aber all diese Leute schienen schon so viel Erfahrung zu haben. Im Gegensatz zu ihm. Er wusste auch nicht, warum ihm das so peinlich war. „Hab' noch nie wen geküsst." Er hoffte nur, dass er nicht rot wurde. Obwohl es inzwischen vielleicht dunkel genug im Zimmer war, um das nicht zu sehen.
„Das kommt schon noch. Hast ja noch Zeit." Phil schob seine Brille hoch, sah zu der Couch. „Bald sitzt du hier auch wie die beiden da."
Damit meinte er offensichtlich Luca und Oskar. Oskar hatte seine eine Hand mit Lucas verschränkt, mit der anderen fuhr er Luca durch die Haare, während er sanfte Küsse auf Lucas Stirn und Wange verteilte. Irgendwie hatte Stegi das Gefühl, bei den beiden war der Alkoholpegel schon etwas höher. Oder waren sie einfach immer so?
„Gott, ist das ekelhaft kitschig", meinte er einfach.
Luca streckte ihm die Zunge raus, bevor Luca sich noch näher an Oskar kuschelte.
„Pizza ist da", verkündete Lauren, als sie den Raum betrat. Sie hatten insgesamt drei bestellt, eine vegetarisch (für Phil und Oskar) und eine vegan (für Pauline), und sie legte die drei Kartons geöffnet auf den Boden. „Bedient euch, Leute."
Phil nahm sich ein Stück. „Hey, Lauren, letzter Kuss?"
„Ist das grad Thema?" Sie ließ sich auf den Boden vor den Pizzen sinken, anstatt wieder auf dem Bett platzzunehmen. „Meine Ex."
„Nichts geworden mit dem Typen von der Party?", fragte er.
„Ne. Weißt du, wie der drauf war, wenn man ihn mal näher kennenlernt? Wie der eine, der früher immer bei Jonas rumhing. Mit dieser furchtbaren Cap."
Allgemeines Lachen tönte zurück. „Davon hast du mir erzählt", meinte Luca mit einem Blick zu Oskar. „Gott, ist der bescheuert."
Stegi nahm sich ein Stück Pizza, um zu überspielen, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie gerade redeten. Im Gegensatz zu wohl so ziemlich jedem anderen. Mal wieder etwas, bei dem er nicht mitreden konnte. Stattdessen aß er, schaute kurz auf sein Handy (keine neuen Nachrichten), überlegte kurz, ob er Tim schreiben sollte, und verwarf die Idee dann doch wieder. Von diesem Abend könnte er ihm auch auf dem TS erzählen, oder?
Die Pizza war schnell leer. Lauren schob die Kartons zur Seite, setzte sich im Schneidersitz vor sie. „Will jemand Tischkicker spielen?"
„Die üblichen Teams?", schlug Oskar vor. „Und die Gewinner danach gegen Luca und Stegi."
Schulterzuckend stand sie wieder auf (Stegi fragte sich, warum sie sich überhaupt so hingesetzt hatte). „Klar. Kommt mit."
Es überraschte Stegi, dass sie überhaupt einen Tischkicker hatten, weil ihm die Wohnung irgendwie zu klein dafür vorgekommen war. Aber nein, er stand ihm Wohnzimmer (das er bisher noch nicht betreten hatte), und die vier teilten sich in Teams auf. Stegi setzte sich einfach auf die Couch, Luca nahm neben ihm Platz.
„Was denkst du, wer gewinnt?"
Stegi warf einen Blick auf die Gruppe. „Phil und Pauline."
„Ich müsste eigentlich für Oskar sein, oder?" Luca lachte. „Aber er ist furchtbar und wird sowas von verlieren, daher hast du vermutlich Recht."
Eigentlich war es ihm ziemlich egal, wer das hier gewann. Er war eh nicht besonders gut im Kickern, es war einfach nicht sein Spiel, und er würde vermutlich eh verlieren, wenn er dran war – Aber das spielte wohl keine Rolle. Andererseits war er, von Lauren abgesehen, der Nüchternste im Raum, also standen seine Chancen nicht so furchtbar schlecht. „Ich bin ein ziemlich mies darin", informierte er Luca trotzdem.
„Ach, ich auch. Aber wir gewinnen das trotzdem."
„eZ." Stegi lachte.
Luca grinste zurück und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Jesus, ich brauch nen Haarschnitt. Die tun schon wieder, was sie wollen."
„Ich lass meine Haare häufig einfach tun, was sie wollen."
„Deine Haare sind kurz genug dafür." Luca seufzte. „Meine haben genau die Länge, in der dieser messy Style nicht mehr gut aussieht. Außerdem fühle ich mich ziemlich unwohl, wenn die Haare zu lang sind."
„Warum?" Hoffentlich war die Frage nicht zu persönlich, aber Luca schien mit vielem relativ offen umzugehen. Und wenn nicht, würde Luca was sagen, oder?
„Das nennt sich trans sein, baby", lachte Luca. „Es fühlt sich einfach nicht mehr so richtig an wie ich, weißt du? Is' schon scheiße genug, sich so unwohl im eigenen Körper zu fühlen. Dann kann ich wenigstens alles, über das ich Kontrolle habe, so gestalten, dass es das etwas besser macht."
Oh ja. Da war ja etwas gewesen. Häufig vergaß Stegi einfach das kurze Gespräch, dass sie auf der Party gehabt hatten, wenn er mit Luca redete. Es spielte ja auch häufig nicht wirklich eine Rolle. Und so richtig hatte sich nicht die Gelegenheit ergeben, das näher zu besprechen. „Was heißt das eigentlich, dass was du da gesagt hast? Das du weder männlich noch weiblich bist? Dass du gern eins von beidem wärst, aber als das andere geboren wurdest?"
Luca schüttelte den Kopf. „Dann hätte ich dir gesagt, ich wär eins davon. Also das Geschlecht, als das ich mich identifiziere. Nur, weil du als Typ leider mit nem gottverdammten Uterus geboren wurdest, macht dich das nicht weniger zum Typen, weißt du?"
Ganz sicher war er sich nicht, ob er das wusste, aber er nickte einfach.
„Ich bin irgendwie – gar nichts von beidem. Von meiner Identität her. Das ist ziemlich verwirrend, wenn man das erste Mal davon hört, ich weiß. Aber ich, und viele andere, passen halt einfach nicht so richtig darein in dieses komische Konzept von Geschlecht. Beziehungsweise männlich und weiblich. Ich bin gar nichts von beidem, und ich möchte auch nichts anderes sein als das, was ich eben bin."
Erneut nickte Stegi. Er war sich nicht ganz sicher, ob er das verstand – Klar, er hatte davon schon irgendwann mal gehört. Das auf irgendwelchen Formularen immer Schüler*innen stand und nicht nur SchülerInnen, und niemand so richtig verstand, warum da eigentlich dieses Sternchen war, und dass die Leute sich ständig darüber stritten, wie das jetzt auf dem Ausweis war mit diesen Menschen, die irgendwie weder das eine noch das andere waren. Irgendwann in Biologie hatten sie das Thema mal angekratzt (obwohl es da nicht wirklich um Identität gegangen war, soweit er sich erinnerte?), aber sonst? Er hatte keine Ahnung. „Ist das nicht ziemlich scheiße?"
„Manchmal. Ich meine, ich existiere in den Köpfen der meisten Menschen nicht. Gender out of order. Und das kann echt beschissen sein. Meine Eltern verstehen das zum Beispiel nicht. Und ich will irgendwann ne Therapie anfangen, um Hormone zu bekommen, aber die meisten Therapeuten verschreiben Menschen wie mir keine Hormone."
„Und jetzt bist du?", fragte er. „Also, vom Geschlecht her?"
„Nichtbinär. Weil, nicht in diesem binären System drin mit Mann und Frau und alles andere gibt's nicht. Das gute daran ist höchstens, dass das Wort, dass dann quasi Mann und Frau ersetzt, Enby ist, und das ist einfach niedlich." Luca lachte. „Und, keine Ahnung, ich glaube, mich zu outen, war eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Hat vieles schwieriger gemacht – aber ich hab mich noch nie so wohl gefühlt wie mit Leuten, die mich dabei unterstützen."
Plötzlich fragte er sich, ob er sich auch irgendwann so fühlen würde. Weil ja, es war ziemlich scheiße, in Tim verliebt zu sein, ohne, dass er davon wusste. Aber es war auch ziemlich scheiße, bi zu sein, ohne dass die meisten seiner Freunde oder seine Familie davon wussten. Das war vielleicht noch etwas anderes als bei Luca, denn Stegi wurde von den Leuten immerhin nicht als Mädchen gesehen oder so, wenn er sich nicht outete – aber es war immer noch ziemlich beschissen.
„Danke", meinte er zu Luca, bevor er sich zu sehr in den eigenen Gedanken verlor. „Dass du mir das erklärst."
„Ach, ich kenne das." Luca zuckte mit den Schultern. „Mach ich dauernd. Ist so das Ding, wenn du nichtbinär bist."
Wie das wohl war – ständig erklären zu müssen, was man war? Und sich dafür rechtfertigen zu müssen, weil die Leute das nicht verstanden? Er selbst verstand es ja auch kaum. Vielleicht sollte er Luca das sagen – es kam ihm irgendwie fair wurde. Damit Luca wusste, woran er mit ihm war. „Ich glaube nicht, dass ich das komplett verstehe."
„Das tun die wenigsten, wenn man es ihnen das erste Mal erklärt. Aber ist schon okay. Du musst es nur akzeptieren und respektieren."
Luca musste ziemlich viel Erfahrung mit Outings haben, oder? Immerhin erforderte das ganze quasi, sich ständig zu outen. Und Luca wusste ja eh schon, dass er (vielleicht) bi war. Gerade wollte Stegi zu der Frage ansetzen - „Hast du eigentlich irgendwelche Tipps? So zu Outing und so?" -, als Pauline ihn unterbrach.
„Gewonnen, Bitches!" Sie grinste und schob die Punktezähler an dem Tischkicker auf den Nullstand zurück. „Nächste Runde?"
Luca sah Stegi an und lächelte. „Mögen wir nicht komplett haushoch verlieren."
~ * ~
Sie blieben verdammt lange wach.
Okay, sie hatten sich auch erst spät getroffen; und es wäre ziemlich sinnlos gewesen, dann schon um zwei oder drei schlafen zu gehen. Aber dennoch hätte er nicht damit gerechnet, so lange aufzubleiben. Wir bleiben wach, bis die Wolken wieder lila sind. Vielleicht heute ja schon?
Es war schon fast acht Uhr morgens, als Stegi sich verabschiedete. Okay, zwischendurch war er vielleicht einmal kurz eingenickt und hatte für ne Stunde geschlafen, und am Ende hatte er einen großen Teil der Zeit am Handy verbracht, während der Rest irgendwelche Anekdoten austauschte.
Er war auch der erste gewesen, der gegangen war; und vielleicht auch der einzige, der nicht bei Lauren schlafen würde. Aber ihm hatte die letzte Party schon gereicht, und langsam wurde ihm das alles etwas zu viel – Diese Menschen, die sich alle so gut zu kennen schienen. Vielleicht schon ewig. Und Luca, aber Luca war immerhin mit Oskar zusammen.
Und er.
Stegi war nicht besonders gut darin, sich nicht alleine zu fühlen, und vielleicht trug das dazu bei, dass er sich nicht wirklich in ihre Gruppe einfinden konnte. Ja, es war ganz witzig, ja, er konnte sich mit ihnen unterhalten – aber nicht mehr, nie mehr. (Was dieses mehr war, konnte er nicht genau definieren. Einfach das, was er mit Tim gehabt hatte, von Anfang an. Die Worte falling in love hatte er immer etwas merkwürdig gefunden, und er würde nicht sagen, dass das ihn und Tim gut beschrieb. Sie waren in diese Freundschaft hineingefallen, ohne darauf vorbereitet zu sein. Die Liebe war viel langsamer dazugekommen, schleichend, und manchmal fragte er sich, ob es da eine klare Grenze gab zwischen der Zeit, in der er in Tim verliebt gewesen war, und der, in der er es nicht gewesen war.)
Die Luft draußen war kalt, aber angenehm kalt im Gegensatz zu der stickigen Luft in Laurens Wohnung. Er hoffte, sie wurde das Gefühl wegwaschen, dass ihn am Ende doch in dieser Gruppe überkommen hatte – Fremd zu sein.
Auf dem Weg zur Haltestelle tönte aus seinen Kopfhörern Musik, die er zum großen Teil nicht kannte. Laurens Handy war irgendwann ausgegangen, und er hatte sich bereit erklärt, ihre Playlist mit seinem Spotify-Konto abzuspielen. (Weder Luca noch Pauline hatten das Geld für einen, und Oskar kaufte Musik direkt bei den Künstlern, weil das sich für sie angeblich mehr lohnte.) Jetzt lief ihre Musik immer noch, und er war zu fertig, um sich Gedanken darum zu machen.
Tatsächlich war er so lange aufgeblieben, dass die Bahnen wieder in ihrem normalen Rhythmus fuhren und nicht nur die Nachtlinien. Es musste kurz vor acht sein, würde er schätzen. Vielleicht würde Tim ja bald wachen werden – und auf die Nachricht antworten, die Stegi ihm geschickt hatte, kurz, bevor er gegangen war.
07:24 Weißt du, dass mir nie jemand so viel bedeutet hat wie du?
Er hatte nicht so viel getrunken wie beim letzten Mal, und an sich ging es ihm wesentlich besser, aber er war sich trotzdem ziemlich sicher, dass er die Nachricht bereuen würde, sobald er ausgenüchtert war. Na ja. Es war kein Liebesgeständnis, und es war nicht so, als wüsste Tim das nicht eh schon – richtig?
Als seine Bahn kam, setzte er sich (ohne ein Ticket zu ziehen – um die Uhrzeit würde doch niemand kontrollieren?) und lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Noch war es dunkel draußen, Dezember eben, und er starrte in die Schwärze der noch ziemlich leeren Stadt.
Das letzte Mal, dass er – mehr oder weniger – einen Sonnenaufgang gesehen hatte, war damals gewesen, als er das erste Mal bei Tim übernachtet hatte. Okay, sie hatten nur aus dem Fenster gesehen, während der Abspann des Films gelaufen war und in dem Moment war eben gerade die Sonne aufgegangen, aber das zählte trotzdem.
Jetzt saß er in einer Straßenbahn und die Stadt zog vorbei und die vibrierende Scheibe würde ihm wahrscheinlich noch Kopfschmerzen bescheren. Vielleicht bildete er sich das nur an, aber sobald er an seiner Haltestelle ausgestiegen war, schien der Himmel wirklich heller zu werden – nicht viel. Diese Stufe zwischen Nacht und Dämmerung, die er manchmal erlebt hatte, wenn er nicht schlafen konnte oder sich wieder in irgendeinem Spiel verloren hatte.
Die Straßenlaternen waren noch an, aber die in seiner Seitenstraße funktionierte nicht. Schon seit sie eingezogen waren (was, zugegeben, nicht so furchtbar lang war). So war das einzige Licht die Lampen von der angrenzenden Hauptstraße, und in der Stadt wurde es ja eh nie so richtig dunkel, aber hier fühlte sich etwas mehr so an.
Er setzte sich vor seine Haustür auf die Stufen.
Langsam merkte er doch, wie müde er war – während er etwas machte, konnte er die Müdigkeit recht gut unterdrücken. Aber jetzt, wo er angekommen war und sein Bett nur noch ein Stockwerk entfernt war, wurden seine Lider schwer.
Trotzdem blieb er sitzen. Er wollte seine Eltern nicht wecken (falls die überhaupt noch schliefen – es musste etwa acht Uhr morgens sein), und ihre Nachbarn, die sich bei ihnen schon zweimal wegen irgendwas beschwert hatten, und wenn er erst das Haus betrat, sobald in ihrer Wohnung das Licht angeschaltet war, sollte er doch auf der sicheren Seite sein.
Aber noch war es dunkel in den Fenstern, während der Himmel von schwarz zu blau zu lila wurde.
All we do is drive, all we do is think about the feelings that we hide, all we do is sit in silence waiting for a sign.
Vielleicht war es kitschig, oder zu viel, aber er holte sein Handy aus der Tasche – Tim hatte ihm noch nicht geantwortet, natürlich – und tippte eine weitere Nachricht. Er konnte die Schuld auf die Musik schieben – vielleicht.
08:27 Ich wünschte, du wärst hier.
Dazu schickte er ein Foto. Die Wolken waren tatsächlich lila, allgemein wirkte der ganze Himmel ganz leicht violett – Das war immer Stegis Lieblingszeit des Tages gewesen. Dieser kurze Moment, weder Nacht noch Morgen.
Er wünschte wirklich, Tim wäre hier, damit er ihm das erzählen könnte. Oder alles andere, dass ihm heute Nacht durch den Kopf gegangen war.
Der Himmel wandelte sich von violett zu orange, und Laurens Playlist spielte weiter und weiter und weiter.
Would it really kill you if we kissed?
Es tut mir Leid für die eigentlich gar nicht plotrelevante Szene mit Luca, aber ich fand es wichtig, das nochmal anzusprechen - besonders, weil ich ein paar verwirrte Kommentare dazu bekommen hab (was kein Vorwurf an euch sein soll!). Ich hoffe, das war verständlich und hat nicht schon zu viel Vorwissen zum Thema trans* erfordert, ich kann das manchmal schlecht einschätzen, aber falls ihr noch Fragen habt, go ahead und stellt sie ruhig.
(Songzitat: Owl City - Vanilla Twilight)
(Zitierte Songs: Alligatoah - Musik ist keine Lösung, FaulenzA - Trans Pride, Marteria - Lila Wolken, Halsey - Drive)
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