37. Kapitel | Telefonat
Every sky is blue, but not for me and you
Irgendwie schaffte er es, am nächsten Morgen nicht so zu wirken, als hätte er um halb zwei darüber nachgedacht, seinen besten Freund zu küssen. Irgendwie schaffte er es auch, Tim noch ein paar ermutigende Worte zu schicken, bevor er zur Schule musste.
Seine erste Stunde montags war Deutsch. Inzwischen saß er neben Oskar und nicht mehr neben Marius, und ihre Lehrerin war genauso inkompetent wie am ersten Tag – darum ertrug er statt Deutschunterricht Geschichten vom Wochenende.
Stegi tippte eine kurze Nachricht an Tim (Und, hat es jemand erfahren? Alles (halbwegs) okay?), als Oskar gerade eine kurze Pause machte, um tatsächlich etwas aufzuschreiben.
Keine Antwort, auch nicht, als es endlich klingelte.
Niemand bemerkte, dass er in regelmäßigen Abständen sein Handy checkte. Dass er ihren Unterhaltungen nur mit kurzem Nicken beiwohnte und eigentlich kaum zuhörte, weil seine Gedanken 582 Kilometer weit entfernt waren. Wahrscheinlich antwortete Tim nicht, weil er sein Handy zuhause gelassen hatte oder der Akku leer war oder es einfach ausgeschaltet war – Trotzdem wurde er das ungute Gefühl nicht los, dass er hatte, wenn einfach keine Nachricht kam. Was, wenn doch etwas passiert war?
Am liebsten hätte er angerufen, aber da waren die ganzen anderen Leute um ihn herum. Außerdem könnte es merkwürdig werden, nach letzter Nacht, und das wollte er ganz dringend vermeiden.
Es war nicht so, als hätte er nicht schon lange darüber nachgedacht, dass er Tim nicht nur als Freund sah. Es war nicht so, als hätte er es nicht schon ewig gewusst. Es war nur so, dass es eine ganz feine Linie gab zwischen Es könnte sein und Es ist so.
Und irgendwie hatte er die Linie letzte Nacht überschritten. Wie auch immer ein Gedanke, den er schon ewig zur Seite schob, das auslösen konnte. Vielleicht, weil er es plötzlich nicht mehr geschafft hatte, ihn zu verdrängen. Vielleicht, weil einem an irgendeinem Punkt die Wahrheit einfach einen Wink mit dem Holzpfahl gab.
Er wollte Tim küssen. Was definitiv nicht das war, was man als bester Freund tun wollte. Besonders nicht als bester Freund, der sich selbst für hetero gehalten hatte. Fuckfuckfuck.
Wäre das nicht schon scheiße genug, nein, da war auch noch die Tatsache, dass die Haken bei der Nachricht einfach nicht blau wurden.
Zwar gab es nur ungern zu, aber er brauchte gerade wirklich jemandem zum Reden. Tim kam nicht in Frage. Und die Leute aus der Schule? Nein. Die kannte er zu wenig. Und die Internetmenschen, das waren nicht die, mit denen er die wirklich ernsthaften Gespräche führte.
An diesem Tag bekam er weder besonders viel von der Schule noch von seinen Mitschülern mit.
„Du fährst heute nicht mit der Bahn?", fragte Paulina ihn, als er an der Haltestelle einfach weiterlief. Sie musste in dieselbe Richtung, fuhren darum meistens zusammen (beziehungsweise saßen beide mit Kopfhörern drin nebeneinander) – jetzt schien es ihr aber völlig egal, dass die Bahn gerade einfuhr, sie folgte Stegi einfach nur.
„Nein. Muss einfach mal ein bisschen laufen."
„Soll ich mitkommen? Ich will nicht, dass du dich verläufst." Sie lächelte kurz. „Da fällt mir ein, hast du am Wochenende Zeit? Fiona schmeißt ne Party und hat gesagt, ob ich noch Leute einladen will."
Wer war bitte Fiona? „Sorry, aber nein", sagte er, darauf bedacht, seine Antwort vage zu halten. „Ich muss nur ein bisschen allein sein. Du kannst ja einen von den anderen fragen. "
Wieder lächelte sie. „Hab ich schon. Was ist los?" Und ließ ihn nicht alleine. Natürlich. Es war Paulina, sie würde ihn nicht alleine lassen, bis sie eine zufrieden stellende Antwort hatte.
„Geht dich nichts an", murmelte Stegi, plötzlich geschockt, wie unhöflich das war. Früher wäre ihm das egal gewesen. Tja, vielleicht machte Tim wirklich einen besseren Menschen aus ihm.
„Hat es was damit zu tun, dass du den ganzen Tag wie ein Irrer auf dein Handy starrst?"
Anscheinend hatte es doch jemand gemerkt. „Bitte, ich will einfach nur meine Ruhe habe." Stegi beschleunigte seine Schritte, nahm die Abwehrhaltung ein, die vor ein paar Wochen noch sein ständiger Begleiter gewesen war. Tim hätte ihn wahrscheinlich alleine gelassen, wenn er so drauf war und wirklich mal den Kopf frei kriegen musste – ganz anders als Paulina. Gott, er vermisste Tim.
„Komm schon. Man muss auch über seine Probleme reden."
Nicht mit jemandem, den ich seit eineinhalb Wochen kenne. Nicht mit jemandem, der nichts über mich weiß. Nicht mit jemandem, der es vielleicht nicht für sich behält. „Ich komm schon klar."
„Wenn du meinst." Trotzdem eilte sie neben ihm her, beobachtete ihn, schien darauf zu warten, dass er mit irgendwas herausrückte. Aber Stegi war das gewöhnt, Neugierige, die versuchten, etwas aus ihm herauszukriegen. Er konnte es ziemlich gut ignorieren. „Du kannst dir ja nochmal überlegen, ob du kommen willst. Schreib mich einfach an dann."
„Kann ich machen. Ich glaube, ich nehm doch lieber die Bahn", meinte er, als sie die nächste Haltestelle erreichten. Immerhin musste er irgendwann umsteigen und Paulina nicht und dann wäre er sie irgendwie los.
Irgendwann auf dem Weg vibrierte sein Handy, aber er ignorierte es. Bloß nichts Preis geben, über das sie ihn ausquetschen konnte.
Es waren nur drei Haltestellen bis zu Tim.
***
„Bis morgen!", rief Paulina Stegi noch hinterher, als er aus der Bahn hechtete, aber er war gedanklich zu weit entfernt, um zu antworten. Sobald er ausgestiegen war, zog er sein Handy nach draußen und stellte sich dabei so hin, dass er nicht komplett den Weg blockierte.
15:47 Ruf mich an.
Na toll. Er stieg in der Innenstadt um und um ihn herum waren überall Menschen und es war laut und er wusste, dass das in der Bahn nur noch schlimmer werden würde. Aber er hatte auch keine Lust mehr, darauf zu warten, dass er nach Hause kam. Seine Bahn kam in sieben Minuten und dann musste er noch zig Haltestellen durchhalten.
15:53 Gleich. Muss schauen, wo ich vernünftig reden kann.
Gott, Stegi hatte keine Ahnung von dieser Stadt. Weil irgendwie beide Richtungen ziemlich belebt aussahen, entschied er sich letzen Endes für die Richtung Marktplatz – Vielleicht war da ja irgendwas ausgeschildert. Oder es gab ein leeres Café, auch, wenn das in der Innenstadt unwahrscheinlich war.
Warum anrufen? Vielleicht wollte Tim einfach nur live seine Reaktion hören, weil es super gelaufen war. Vielleicht war aber auch nur so viel Scheiße passiert, dass er das nicht einfach in einer Nachricht schicken konnte.
Anstatt in die offensichtliche Shoppingstraße bog er auf den Platz neben dem Dom ab, wo auch endlich irgendjemand mal ein Schild hingestellt hatte. Er überflog die Optionen. Immerhin Wallanlagen klang wie etwas, das nicht ganz so Stadt war.
Er öffnete schonmal Tims Kontakt, ignorierte die rote Ampel (kam ja eh kein Auto) und starrte sein Handy an, während er die letzten paar Meter bis zu seinem Ziel zurücklegte. Sobald er ein paar Meter von dem Eingang von etwas entfernt war, das wohl etwas Parkähnliches war, rief er an. Es klingelte dreimal, bevor jemand ranging.
„Hi, Stegi." Ein Räuspern. Rascheln von Papier. „Okay, wie geht's dir?"
„Wie immer. Was für ne Frage? Tim? Wie geht's dir?" Stegi griff das Handy etwas fester. Tim klang gut gelaunt. Das war schon mal etwas. „Warum soll ich dich anrufen?"
„Weil..." Als Tim weitersprach, hatte Stegi bereits eine Bank erreicht und sich hingesetzt. „Ich musste einfach mal mit irgendwem reden, ohne mich alle paar Sekunden zu fragen, wann er mich darauf anspricht. Ehrlich. Macht einen emotional echt fertig, das glaubst du nicht." Dabei klang er nicht einmal betrübt oder ernst oder wütend. Einfach nur nach Tim, in dieser sorglosen Tim-Art.
„Und? Hat dich jemand darauf angesprochen?"
„Nur so drei oder vier Leute. Das meiste sind komische Seitenblicke", lachte Tim. „Aber ehrlich, du hättest Mos Blick sehen sollen, als diese Noa mich auf nen Kaffee eingeladen hat und dazu meinte, durch die neusten Ereignisse wäre ich gleich zwanzigmal cooler geworden."
„Noa?", fragte Stegi nach und versuchte, dem Namen ein Gesicht zuzuordnen. (War er eh noch nie gut drin gewesen, und sich Namen merken, wenn man alle drei Monate umzog, war eh nervig. Bei Noah fiel ihm als erstes der eine Typ aus der siebten ein, aber der war das garantiert nicht.)
„Hat mit uns Kunst-Dings da, und Französisch. Dieses Mädel, das seit Jahren diese bunte Strähne in den Haaren hat."
„Ach, die. Warum hat die dich bitte auf nen Kaffee eingeladen?" Plötzlich fiel ihm Paulina wieder ein. Und das Pizzaladenangebot. „Will sie was von dir?"
„Hörst du dir selbst beim Reden zu, Stegi?", murmelte Tim. „Junge, sie weiß, dass ich schwul bin. Und sie hat eine Freundin. Wie wenig hast du in den letzten sechs Monaten über die Leute aus deiner Schule mitbekommen?"
Jetzt, wo er es sagte, fand Stegi seine Frage auch dumm. (Aufgrund der neusten Ereignisse, sonst war ja eh nichts mit Tim passiert.) „Sorry. Müde." Und leicht eifersüchtig, aber das erwähnte er lieber nicht. „Und außer Noa?"
„Ein paar echt unlustige Witze von den Jungs aus Informatik, aber sonst alles beim Alten. Außer den paar komischen Blicken, wie gesagt. Aber daran werd ich mich gewöhnen müssen. Warum muss ich nochmal an so einer konservativen Schule sein?"
„Hey, die ist immerhin nicht in Dresden. Und es ist nicht alles schlecht bei euch."
„Zum Beispiel sagen wir Semmel statt Brötchen", bestätigte Tim.
„Das wäre eher das Schlechte" – Stegi stand von der Bank auf und lief langsam Richtung Stadt zurück, schließlich war das Gespräch jetzt nicht mehr so persönlich – „Aber ja, wie auch immer."
Er hörte Tim lachen. „Also, wie war dein Tag so?"
„Ich hatte Schule, es war langweilig. Was soll groß passiert sein?" Neben dem Telefonat öffnete er Google Maps auf seinem Handy. Eigentlich konnte er auch eine Station laufen. War vom Weg her eh kein allzu großer Unterschied mehr. „Wobei, jetzt wo du's sagst, Paulina hatte mich auf ne Party eingeladen."
„Warte, ist Paulina die neugierige Brünette oder die Musikerin mit dem Afro?"
„Erstere." (Die mit dem Afro war Lauren und er fragte sich, wann genau er Tim eigentlich davon erzählt hatte. Oder war sie in einem Bild drauf gewesen, dass er ihm geschickt hatte?) „Auf jeden Fall, sie hat mich gefragt, ob ich am Wochenende auf ne Party will, wo wohl alle sein sollen." Er ließ eine kurze Pause. „Sollte ich hingehen? Ich kenn die Leute doch nicht."
„Geh hin." Schweigen. „Ich will nicht, dass du dein Leben verpasst, nur, weil du die ganze Zeit mit mir am Telefon hängst. Los. Lern die Liebe deines Lebens kennen oder was auch immer."
„Hm", murmelte Stegi. Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment gekommen, irgendwas zu sagen, aber er tat es nicht. „Ich muss jetzt auflegen. Ich ruf dich später nochmal an." Schnell schob er sein Handy in die Tasche. Fast wäre ihm irgendwas herausgerutscht. Fast.
Seufzend lief er in die Richtung, in der er die Haltestelle vermutete, Blick auf den Boden gerichtet. War doch alles bescheuert. Nicht mal die Sache mit der Party (Das würde er wohl noch hinkriegen), obwohl er die jetzt echt nicht gebrauchen konnte, eher... Alles zusammen. Wann zur Hölle war ihm die ganze Gefühlssache so aus dem Ruder gelaufen?
Einfach für sich bleiben. Hätte er sich nur daran gehalten.
Mit Tim konnte das doch eh nie hinhauen. Dazu waren die zwei viel zu sehr Kumpel. Zu gute Freunde. Und Tim, der würde doch eh nie im Leben was von Stegi wollen. Es grenzte eh schon an ein Wunder, dass er es überhaupt nicht aufgegeben hatte, mit ihm befreundet sein zu wollen, weil Stegi wirklich clingy sein konnte und gleichzeitig Menschen von sich wegschob und die Kombination wirklich anstrengend war.
Stegi wich einer Rentnergruppe aus, die auf einem Platz irgendein Spiel mit Metallkugeln spielte, ehe er noch einmal sein Handy herausholte und einen Blick auf Google Maps warf. Anscheinend hatte Tim ihm geschrieben, zwei neue Nachrichten.
16:07 Huh?
16:08 Du hast so schnell aufgelegt. Alles okay?
„Na ja", murmelte er, tippte aber trotzdem ‚Ja, nur gute alte Telefonierpanik' und schickte die Nachricht ab. Dann noch ein ‚Ich geh einfach auf die Party' hinterher.
Er musste sich von Tim ablenken. Irgendwie. Und wenn das hieß, auf irgendeine dämliche Party zu gehen.
Oh mein Gott, Content! (Ich habe das Gefühl, es ist mal wieder Zeit, mein Twitter (@grau_in_bunt, auch auf meinem Profil verlinkt) zu bewerben, da könnt ihr dann immer stalken, ob ich noch am Leben bin und aus welchem Grund ich grad nicht zum Hochladen komme :D)
(Songzitat: Placebo - Come Home)
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