36. Kapitel | Erinnerungen
When I realized I can't not be with you (Or be just your friend)
Irgendwie vergingen die Tage schleppend langsam und doch unheimlich schnell.
Stegi fühlte sich wie auf Autopilot. Jeden Morgen in die Schule. Unterricht. Die Pausen verbrachte er in der kleinen Mensa oder in dem noch kleineren Coffeeshop, mit Oskar und seinen Freunden. Am Nachmittag machte er Hausaufgaben, schaute irgendwelche Serien (meistens Breaking Bad) und wartete darauf, dass Tim online war. (In Bayern waren Ferien – Zum Glück war er das meistens.)
Einmal schlug er sich mit Tobi die Nacht rum, aber meistens war Tim da, jetzt, wo er ausschlafen konnte. („Aber gewöhn dich nicht dran“, hatte er um drei Uhr morgens gesagt, als selbst Stegi langsam die Augen zufielen.)
Die erste Woche, die erste von den sechs, die es dauern würde, bis sie sich wiedersahen, ging zu Ende. Sonntagabend. Tim sah ihn durch den Bildschirm an. „Hörst du mich?“
„Ja“, antwortete Stegi und musste einfach lächeln, als er seinen Freund so sah. Anscheinend hatte Tim gerade erst geduscht, denn seine Haare waren nass und nicht gestylt, und er trug einen viel zu großen Sweater, in dem Stegi wahrscheinlich einfach untergehen würde. „Du?“
Tim runzelte die Stirn. Lehnte sich einmal kurz zur Seite. „Mein Kopfhörerkabel ist drin, keine Ahnung, warum ich dich nicht höre.“
„Gott, warum?“, murmelte er, bevor ihm auffiel, dass Tim ihn eh nicht verstand. Sein Kabel war auch drin und am Vormittag mit Tobi hatte das Headset noch wunderbar funktioniert, warum sollte es das jetzt nicht mehr tun? Wenn es kaputt war, dann…
Plötzlich viel ihm auf, dass Tim überhaupt nicht besorgt wirkte. Eher das Gegenteil – Auf seinem Gesicht breitete sich ein immer breiteres Grinsen aus.
„Du hörst mich perfekt, oder?“
Tim nickte und brach in Lachen aus.
„Ich hasse dich so sehr gerade.“
„Du betonst andauernd, wie sehr du mich vermisst.“
„Weißt du was? Nicht mehr. Komm nicht mehr her. Ich will dich nie wieder sehen.“
„Jetzt übertreibst du aber.“ Immer noch grinsend stützte Tim seinen Kopf auf eine Hand. „Ich komm so oder so, egal, was du tust.“
„Das klang zweideutig.“
„Was ist falsch mit deinem Hirn?“, fragte er. „Warum bin ich mit dir befreundet?“
„Weil ich absolut genial und unwiderstehlich bin vielleicht?“ Stegi lachte. „Also, wie sieht’s aus? Morgen wieder Schule?“
„Ja. Ich werde sterben.“ Seufzend fuhr Tim sich einmal durch die Haare, drehte eine etwas längere Strähne um seinen Finger. „Abgesehen davon muss ich echt mal wieder zum Friseur.“
Die letzte Aussage ignorierte er. „Du schaffst das. Ich schaffe das hier ja auch, irgendwie.“
„Ich mach mir einfach nur Sorgen. Die Informatikmenschen kenne ich ja auch nicht so gut, und du hattest immerhin sowas wie einen kompletten Neuanfang. Und, na ja, ein paar Wochen war’s ja noch nicht so verbreitet, aber…“ Kurz zögerte er, die Finger immer noch in seinen Haaren vergraben. „Ich hab keine Ahnung, wie die reagieren, wenn sie erfahren, dass ich schwul bin. ‚Hey, was wäre, wenn einer deiner Freunde auf Typen steht‘ ist nicht so das übliche Thema für Informatikstunden.“
„Wenn du Glück hast, haben die es nicht weitererzählt. Außer vielleicht Emily, aber die wollte es ja niemandem sagen.“
„Vielleicht.“
Stegi bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. „Selbst, wenn sie es erfahren haben, du stehst das durch. Du hast ja immer noch mich.“
„Vielleicht wäre es auch gar nicht so schlecht, wenn sie es weitererzählen.“ Langsam ließ Tim seine Hand sinken.
„Warum das denn?“ Schließlich war das immer seine größte Sorge gewesen. Dass die Leute es herausfinden würden. Wie sie reagieren würden. Man konnte sich nie sicher sein, oder?
„Ich kenne sie nicht gut und ich will mich nicht vor ihnen hinstellen und ihnen sagen, dass ich schwul bin, weil es ja eigentlich keine so große Sache ist. Sein sollte. Wie auch immer. Aber ich habe auch keine Lust mehr, so zu tun, als wäre ich einer von denen.“
„Einer von denen“, murmelte Stegi, leise, so, dass Tim ihn vermutlich nicht verstehen konnte. „Aber sie wären doch trotzdem scheiße, wenn sie es weitererzählen.“
„Klar sind sie das und ich würde sie echt hassen, wenn sie das tun, aber andererseits hasse ich sie auch jetzt schon für alles. Aber es ist jetzt gerade so unglaublich ermüdend und anstrengend.“ Seufzen. Jetzt hatte Stegi sich leicht vorgelehnt, wartete, dass Tim noch etwas sagte. Aber er seufzte nur, zum zweiten Mal.
„Wieso?“, hakte er also nach.
„Es ist anstrengend, so zu tun, als wäre ich jemand, der ich nicht bin. Du verstehst das wahrscheinlich nicht, weil du hetero bist, aber… Es ist so anstrengend, nie mit irgendjemandem darüber zu können, außer dir jetzt. Ständig allen Gesprächen über Beziehungen oder heiße Stars oder was weiß ich aus dem Weg zu gehen. Und nicht zu wissen, was passiert, wenn du das tun würdest. Das hörst sich bescheuert an, weil es echt verdammt viele Schwule da draußen gibt, aber manchmal fühle ich mich so unglaublich alleine damit.“ Tim lachte, so gezwungen, dass es wehtat, es zu sehen. „Gott, es ist nicht einmal zehn Uhr und das alles hier wird schon viel zu persönlich.“
Für einige Sekunden senkte Stegi den Blick. „Danke“, sagte er dann. „Dass du mir das erzählt hast.“ Und dann wusste er nicht mehr, was er noch tun sollte. Weil er nie gut in sowas gewesen war. Weil er nach Worten suchte, aber keine fand.
„Danke, dass du mir zuhörst.“
Er sah seinen Freund wieder an, der ihn anlächelte. „Immer doch.“
~ * ~
Im Laufe des Abends hatten sie sich von Skype zum Handy bewegt. Es war kurz vor eins, Stegi hatte sein Smartphone neben sich gelegt und erzählte leise etwas, während Tim an anderen Ende der Leitung immer weniger Kommentare abgab.
„Ich war gestern im Supermarkt, so um zehn Uhr oder so – bitte frag nicht, warum – und der Kassierer hat mich mit Moin begrüßt. Ist das erste norddeutsche, was mir hier passiert ist, ich hab noch nicht mal eine Möwe gesehen, nur dreimal fast eine Taube über den Haufen gerannt. Alles wie in München, fast, nur, dass niemand so komisch redet. Obwohl ich echt kaum was gesehen habe von der Stadt bisher. Na ja. Im Winter soll es hier übrigens angeblich selten schneien. Vielleicht sollten wir doch bei dir in München Weihnachten feiern.“
Keine Reaktion.
„Tim? Bist du noch wach?“
Immer noch keine Antwort.
Mit einem leicht wehmütigen Lächeln beendete er das Gespräch und angelte nach seinem Ladekabel, weil der Akku seines Handys sonst den Tag bestimmt nicht überleben würde. Gott, das war so klischeehaft, reden, bis einer einschlief. Aber es war vermutlich das einzige, was sich halbwegs anfühlte, wie wirklich auf Tims Bett zu liegen und etwas zu erzählen, während Tim langsam einnickte.
Es war 0:53 und viel zu früh zum Schlafen für ihn. Kurz erwog er, Tobi noch anzuschreiben, aber er war wirklich nicht in der Stimmung. Außerdem war es weniger als ein Monat bis zu Tims Geburtstag – und Kopfhörer und Musik waren immer noch die beste Beschäftigung für Nächte wie diese.
Es war 0:58 und es lief Dicks Sucken und Stegi lachte bei der Erinnerung an das eine Mal, als Tim ihm den Song zitierte hat. Auch, wenn die Erinnerung verwaschen war und er sich nicht einmal mehr sicher war, was der Kontext gewesen war. Ob Tim sich wohl noch daran erinnern konnte? Vielleicht genauer als er?
Es war 1:07 und er summte „Wir freu’n uns immer, wenn es regnet, genau bei so nem Wetter sind wir uns begegnet“. Gott, der Song war so furchtbar kitschig. SDP assoziierte er eigentlich immer noch mit ihrer alten Songs, nicht mit dem ganzen neuen Kram, aber ein paar von den Kitschliedern waren auch ganz gut, das musste er ja zugeben.
Es war 1:15 und seit dem letzten Mal war das Video, dass Tim vor ein paar Wochen gemacht hatte, auch nicht schärfer geworden. Aber wenn Au Revoir lief, erinnerte ihn das eben daran und er musste es einfach nochmal anschauen.
Es war 1:23 und Stegi hatte das singen aufgegeben, weil still im Bett liegen doch irgendwie müde machte. A Day To Remember übernahm das singen für ihn. (And hey darling, I hope you’re good tonight, and I know you don’t feel right when I’m leaving.)
Es war 1:28 und inzwischen lag er mit geschlossenen Augen da. Musik noch an. Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut wird, ist es verdammt nochmal nicht das Ende, nein. Wie er wünschte, manche Lyrics wären wahrer.
Es war 1:35 und Counting Stars erinnerte Stegi an den einen Abend, an dem sie in Tims Zimmer Musik gehört hatten, noch mehr als Au Revoir das tat. An diesen Moment. An Tim. Sekundenbruchteile. Ewigkeiten. Was wohl passiert wäre, wenn…?
Schnell stoppte er die Musik, warf die Kopfhörer auf den Boden neben seinem Bett, drehte sich auf die Seite. Es war so lächerlich. So verdammt lächerlich. Aber es vertrieb den Gedanken daran nicht, dass er langsam die Hand auf Tims Wange legte, nachdem dieser seine wegzog. Dass er ihn küsste. Und es vertrieb ganz bestimmt nicht das Herzrasen, dass er bei der Vorstellung hatte.
Fuck.
Zitierter Song: Fall Out Boy - HOLD ME TIGHT OR DON'T
Weitere zitierte Songs: SDP - Candle Light Döner, A Day To Remember - If it means a lot to you, Casper - Ariel
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