28. Kapitel | (Nicht) Nur
Sprüh'san die Wände, sag "Wir waren hier"
„Sag irgendwas", verlangte Stegi, während er Tim sein Handy hinhielt. „Ich weiß, die Bildqualität ist richtig beschissen, aber es war dunkel und... Es ist schon cool, oder?"
„Ich weiß nicht genau, ob ich dich jetzt als endgültig bescheuert abstempeln soll, oder das hier wirklich verdammt cool finde." Mit einem Lächeln lehnte Tim sich etwas näher zum Bildschirm. „Aber es sieht gut aus. Das sind nur Wörter und es sieht gut aus, wie zur Hölle?"
Triumphierend grinsend zog Stegi sein Smartphone zurück und sah selber nochmal auf das Foto, das er gestern Nacht aufgenommen hatte. Es sah tatsächlich irgendwie gut aus, auf eine gewisse Art und Weise. Vielleicht, weil er sowas generell mochte. Und auch, wenn alles sehr überbelichtet war, konnte man die Wörter noch gut genug erkennen, um zu lesen, was genau dort stand.
Nur Tropfen im Meer. Und sein eigener Name, mehr wie eine Unterschrift als wie etwas, das wirklich dazu gehörte. Ja, Stegi mochte Handlettering. Jedenfalls hatte er das in der Nacht ganz spontan beschlossen.
„Ich will ja mal hoffen, dass es gut aussieht. Ehrlich, das war meine einzige Motivation, überhaupt die ersten beiden Stunden zu überleben." (Sport. Nach zwei Stunden Schlaf und mindestens drei Tassen Kaffee. Wirklich absolut furchtbar.)
Kopfschüttelnd betrachtete Tim ihn, wie er den vierten Kaffee des Tages in der Hand hielt. Stegi konnte schon hören, wie er ihm sagte, dass das wirklich nicht gesund war. Als wenn Stegi das selbst nicht wissen würde. „Ist dir mal in den Sinn gekommen, das vielleicht nachmittags zu machen statt um halb vier nachts?", fragte er. „Ich bin ja schon müde, aber so..."
„Kaffee?", bot Stegi an und hielt ihm den Becher hin, den Tim auch nahm, nur, um nach einem Schluck das Gesicht zu verziehen und ihn wieder zurückzugeben. „Aber ich hatte ja nicht vor, das zu machen. Ich plane doch nicht, so lange wach zu bleiben. Ich musste das einfach machen in dem Moment, weißt du?"
„Manchmal versteh ich dich echt nicht."
„Du bist ja auch du", murmelte er und steckte sein Handy wieder weg. „Kein Wunder, dass du diese kreativen Momente nicht kapierst."
Tim rollte mit den Augen und boxte Stegi mit dem Ellenbogen in die Seite.
Stegi boxte zurück. „Wann warst du in den letzten drei Monaten bitte mal kreativ?"
„Wo du Recht hast..."
„Ich habe grundsätzlich immer Recht, Timmi."
„Wenn du das meinst", räumte er mit einem Lächeln ein und lehnte sich auf der Bank zurück. „Aber ich glaube, bei deinem Kunstwerk da fehlt noch eine kleine Sache."
Herausfordernd blickte Stegi ihn an. „Ach ja? Was?"
„Zeig mir das heute Nachmittag mal in Echt und ich werd's dir schon zeigen."
„Warum nicht?", grinste er, schon nach seiner Tasche greifend, weil es gleich klingelte. „Wir treffen uns an der S-Bahn!"
*
Religion war in Ordnung, weil er das mit Tim zusammen hatte und Religion generell eines dieser Fächer war, in denen man nie irgendetwas machte. (Und Geographie danach war eines dieser Fächer, in denen man etwas machte, aber das, was man machte, eigentlich ganz okay.)
Dann kam Geschichte. Ihre Geschichtslehrerin war quasi schon seit Monaten krank, und irgendwann war der dauerhafte Ausfall der Schulleitung zu viel geworden und jetzt hatten sie einen anderen Lehrer eingesetzt.
Laut Tim war Herr Herrmann trotz seines lächerlichen Namens wohl der Lehrer auf der Schule, den wirklich niemand leiden konnte. Fünf Minuten Unterricht mit ihm und Stegi wusste, warum.
„Ich hab' mich so an diese Freistunden gewöhnt", flüsterte Stegi Tim gerade zu und ließ sich neben ihm auf einen Platz sinken. „Wie soll ich mich jemals damit abfinden, dass sie jetzt weg sind?"
„Ruhe!", schrie der Mann vor der Klasse in ihre Richtung (obwohl er damit wohl eher den gesamten Kurs meinte). Er sah aus wie einer dieser Lehrer, die ihren Job schon mindestens hundert Jahre innehatten. Stegi würde ihn auf Anfang sechzig schätzen, mit kurzen, schon ergrauten Haaren, strengem Gesicht und eckiger Brille. „Wir haben viel Stoff nachzuholen, also will ich mich gar nicht mit den üblichen Plänkeleien aufhalten. Buch aufschlagen, Seite 75! Wer quatscht, den setze ich nach vorne."
Stegi lehnte sich zu Tim. „Glaubst du, sein Vorname ist Helmut? Helmut Hermann?" Schnell zog er sein Buch nach draußen, um Helmut Hermann davon zu überzeugen, nur eine Frage zum Unterricht gestellt zu haben. Der einsame Tisch zehn Zentimeter vor dem Pult sah dann doch nicht allzu verlockend aus.
Ein bisschen fragte sich Stegi ja, was für Stoff sie genau nachholen mussten, denn sie beschäftigten sich mit der NS-Zeit und obwohl er ja einsah, wie wichtig das war, kaute er das jetzt zum bestimmt dritten Mal durch. Vielleicht lag das ja auch an den unterschiedlichen Lehrplänen, aber irgendwie langweilte das Thema doch.
„Wozu drucken sie denn andauernd neue Bücher, wenn sämtliche Texte immer noch klingen wie von vor hundert Jahren?", stöhnte Tim und starrte dabei auf einen Auszug einer Rede irgendeines wichtigen Politikers.
„Das nennt sich Quelle", informierte Stegi ihn. „Siehst du? Da steht sogar die Jahreszahl dabei, von 1937 ist die."
„Das sind ja nicht mal hundert Jahre." Seufzend ließ er seinen Kopf auf das Buch sinken. „Das versteht doch kein Mensch."
Herr Herrmann sah zu ihnen herüber entdeckte mit den Adleraugen eines Lehrers, der schon seit mindestens einem Jahrzehnt keine Schüler mehr ausstehen konnte, Tim. „Ah, Tim. Könnten Sie den Text, den Chloe gerade vorgelesen hat, bitte einmal für uns zusammenfassen?"
Tim sah hilfesuchend zu Stegi, aber der zuckte nur mit den Schultern, weil er auch keine Ahnung hatte, worüber sie gerade geredet hatten. „Nein, kann ich nicht", gab Tim zu. „Entschuldigung."
„Dann sollten Sie in Zukunft vielleicht besser aufpassen. Wer kann denn nochmal sagen, worum es gerade ging?"
Emily meldete sich und redete irgendwas von England, und Stegi versuchte, den Rest der Doppelstunde aufmerksam zu bleiben und Tim vermutlich eher, aufmerksam zu wirken, bis es endlich vorbei war und sie vor Herr Herrmann und seinem stinklangweiligen Unterricht fliehen konnten.
„Scheiß Helmut", murmelte Stegi und bemühte sich um ein Grinsen, während er sich mit Tim auf den Weg zur S-Bahn machte. „Und dann auch noch fünf Minuten überziehen, als wenn neunzig Minuten davon nicht schon genug wären."
„Ich glaube, er heißt eigentlich Johann oder so", bemerkte Tim.
„Helmut gefällt mir besser."
„Ja. Mir auch." Grinsend stieg er in die Bahn, die sie gerade noch so erwischten, und ließ sich auf den letzten freien Platz im Abteil fallen. „Sorry, du musst stehen."
„Ich hasse dich", murmelte Stegi und hielt sich an dem Sitz fest, während die Bahn losfuhr.
„Aber ehrlich, was denkt dieser Mann sich?", beschwerte Tim sich über ihren Lehrer. „Toll, wir haben Stoff verpasst, da schreiben wir die Klausur am besten direkt eine Woche nach den Ferien. Und bis dahin darf ich noch zehn Seiten in diesem beschissenen Buch durcharbeiten, na super."
„Hausaufgaben über die Ferien, da freut man sich doch drüber."
„Du hast gut reden, ey. Immerhin musst du die nicht mal schreiben."
Ein kleines Lächeln schlich sich auf Stegis Gesicht. „Der einzige Vorteil meines Lebensstils. Aber ich kann dir helfen, wenn du möchtest."
„Ehrlich?"
„Na ja, du hilfst mir bei Mathe nächste Woche –"
„Tue ich das?", unterbrach Tim ihn.
„Ja, tust du. Und im Gegenzug erkläre ich dir Geschichte, Deal?"
„Kannst du das denn?"
„Besser als du in jedem Fall. Und im schlimmsten Fall frage ich halt Lucy, ne? Wenn ich sie mit guter Laune erwische, klappt das schon." Der abrupte Stopp der Bahn ließ Stegi etwas nach hinten stolpern und er war plötzlich froh darüber, etwas zu haben, an dem er sich festhalten konnte. „Aber erzähl schon, was genau willst du noch machen an meinem Kunstwerk?" Das letzte Wort betonte er extra so, dass es nicht ganz ernst gemeint klang. Kunst war dann ja doch was Anderes.
Tim antwortete nicht und augenrollend war Stegi wohl gezwungen, dass zu akzeptieren. Waren ja eh nur noch drei Stationen, bis er es herausfinden würde.
Nachdem sie ihre Taschen in Stegis Wohnung abgestellt hatten und Stegi sich noch einen Kaffee genehmigt hatte („Das ist dein sechster, oder?", hatte Tim dazu ein wenig bestürzt gefragt und Stegi hatte den Kopf geschüttelt und fünf Finger nach oben gehalten, aber so richtig beruhigt zu haben schien das Tim auch nicht), führte Stegi sie zu der Mauer.
Zum Glück konnte er sich noch halbwegs an den Weg erinnern und an die auffälligen Häuser, die es auf dem Weg gab – Das eine, das mindestens zehnmal moderner war als der komplette Rest (so viel der Wände bestanden aus Glasscheiben, Stegi fragte sich, wie man in so etwas wohnen konnte), oder das, wo die Fassade aus mehr Graffiti als sonst irgendetwas bestand.
Es war ein merkwürdiges Viertel, fiel ihm auf. Alle paar Straßen wechselten die Häuser ihr Erscheinungsbild, immer mal wieder irgendwas Anderes zwischen den Plattenbauten aus den Siebzigern. Tim schien sich nicht so richtig dafür zu interessieren (jedenfalls sah er Stegi eher ratlos an, als er ihm das erzählte), aber das hielt Stegi nicht davon ab, immer wieder darüber zu reden.
Dann erreichten sie die Mauer, die im Licht des Tages komplett anders aussah. Viel lächerlicher, wie sie da so stand zwischen den dünnen Zäunen der Nachbargärten. Ob der Hausbesitzer sich darum kümmerte, dass das Ding so vor sich hin rottete? (So, wie der Rest des Hauses aussah, vermutlich nicht.)
„Es ist kleiner, als ich gedacht hätte", gab Tim zu und kniete sich vor der Mauer hin. Irgendwo zwischen einem unleserlichen Schriftzug und einem Schwanz (wirklich sehr erwachsen) hatte Stegi noch ein Stück Mauer gefunden, das sauber gewesen war.
„Es war nur ein Edding."
„Hm. Hast du den noch mit?"
Stegi zog den Stift aus der Tasche und hielt ihn so, dass Tim nicht herankam. „Erst, wenn du mir sagst, was du vorhast!"
„Na was wohl?" Es brauchte nur einen Schritt von Tim und plötzlich hatte er den Edding in der Hand und Stegi sah ihn böse an, weil er ihn nicht einmal vorgewarnt hatte. „Weißt du noch, was genau ich dir damals erzählt hab?"
Damals. Als wäre es Jahre her. (War es ja auch. Irgendwie.)
So schnell, wie Tim schrieb, machte Stegi sich wirklich Sorgen, ob man es überhaupt noch lesen konnte. Als er nach ein paar Sekunden wieder wegtrat und sich außen auf die Mauer setzte, lehnte Stegi sich nach unten und sah nach, was sein Freund da jetzt so unbedingt hatte hinzufügen wollen.
Nicht Nur Tropfen im Meer.
Nicht nur. Es sah irgendwie absurd aus, mit den beiden unterschiedlichen Schriften, aber trotzdem schlich sich ein kleines Lächeln auf Stegis Lippen und es wurde breiter, als er sah, dass seinem Stegi noch ein + Tim hinzugefügt worden war. „Was für ein Klischee."
Tim lachte nur und Stegi setzte sich neben ihn und lehnte sich gegen seinen Freund. „Aber es stimmt ja, oder? Ich meine, das war ja der Sinn hinter dem ganzen Ding."
„Hm. Vielleicht." Er überlegte, ob er Tim fragen sollte, warum er gestern Nacht denn jetzt nicht schlafen konnte. Aber irgendwie war das vielleicht kein Thema, dass man am Telefon besprach, aber auch nichts, über das er jetzt einfach so reden wollte. Wenn es wirklich wichtig war, würde Tim ihm davon erzählen. (Außerdem würde er dann Stegi fragen, was ihn denn beschäftigt hatte, und er wusste wirklich nicht, wie er das erzählen sollte, ohne komplett bescheuert zu klingen.) „Nicht nur Tropfen im Meer", murmelte er leise. „Stegi und Tim. Mach' noch ein Herz drum und das Ganze ist so klischeehaft, dass ich es nicht mehr aushalte."
„Wenn du zwingend willst..." Tim drehte den Stift in den Fingern und machte Anstalten, von der Mauer zu springen. Schnell griff Stegi nach seiner Hand, bevor er regieren konnte, und versuchte, ihm den Edding zu entwenden. Schließlich drückte er Tims Hand nach unten gegen den Stein, und er ließ den Stift fallen, der einfach auf den Bürgersteig fiel.
Weder Stegi noch Tim machten sich die Mühe, ihn wieder aufzuheben.
„Ich hasse eigentlich Klischees", bemerkte Tim.
Stegi verschränkte seine Finger locker mit Tims. „Wie kannst du nur?"
Eigentlich wollte er den neuen Schriftzug ja noch fotografieren. Und irgendwann mussten sie den Edding wirklich aufheben.
Aber sie hatten ja alle Zeit der Welt.
Happy Pride Month! <3 (Wenn ihr könnt, dann seid offen mit dem, was ihr fühlt und was ihr seid. Und wenn ihr das nicht könnt, dann hoffe ich, dass sich das bald ändert, egal, was der Grund - ihr seid genauso Teil der LGBTQ-Community wie alle anderen.)
Und an alle Heteros - Supportet eure queeren Freunde, LGBTQ-Organisationen in eurer Nähe oder nutzt die passende Gelegenheit doch mal, um euch ein wenig über queere Geschichte zu informieren. Die Geschichte ist viel gayer, als ihr vielleicht denkt. ;P
Aber hach ja, wer bin ich eigentlich, hier Lebensratschläge zu geben? :D
(Songzeile: Casper - Ariel)
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