19. Kapitel | Nur Gerede
Kapitel 19. | Nur Gerede
I'm not in love, weare not in love
Stegi saß auf seinem Bett, machte die Analyse für Englisch zu Ende und schrieb nebenbei mit Tobi. Während er nach Textbelegen dafür suchte, dass eigentlich eher Neils Vater für dessen Tod verantwortlich zu machen war, vibrierte sein Handy, und dankbar für die Ablenkung legte er das Buch beiseite.
Er hatte ihm bereits erzählt, dass er es endlich auf die Reihe gekriegt hatte, den Brief abzugeben, und Tobi hatte dazu nur zu sagen gehabt, dass es ihm wahrscheinlich frühestens einen Tag zu spät eingefallen wäre. Und irgendwie war die Unterhaltung dann im Nichts verlaufen und Stegi hatte eigentlich nicht erwartet, noch eine Antwort zu kriegen.
21:03 Und, wann genau ziehst du jetzt um?
21:04 7. November, wenn nicht durch irgendeine glückliche Fügung des Schicksals doch noch alles verschoben wird
21:04 Seit wann bist du denn so scharf darauf, NICHT umzuziehen?
Eine durchaus berechtigte Frage. Bisher hatte Stegi sich nicht zwingend gefreut, wieder in eine neue Stadt zu ziehen, aber er hatte auch nie ein Problem damit, ja, vielleicht hatte er sogar ein wenig Hoffnung gehabt, dass er irgendwann jemandem wie Tim begegnen würde. Was irgendwie insofern absurd war, dass er sich trotzdem nicht mal ansatzweise um Kontakte bemüht hatte. (Manchmal verstand er sich selbst nicht so ganz.)
21:05 Ist wegen Tim?
21:06 Ja
21:07 Sprichst ja fast nur noch von ihm.
21:07 Was ist aus den Zeiten geworden, in denen du dich noch darüber ausgekotzt hast, dass zu Zeit mit jemandem verbringen musst? ;)
Stegi musste lachen. Er wusste, dass Tobi das keineswegs böse meinte und sich vermutlich insgeheim auch für ihn freute, wie das ihre Freundschaft so an sich hatte, und so überlegte er zwar kurz, was er antworten sollte – aber den leicht spöttischen Unterton konnte er auch getrost ignorieren.
21:08 Sie haben sich zusammen mit dem Willen, umzuziehen, verabschiedet.
21:09 Du hast sie hinterrücks erdolcht, gib es zu.
21:09 Vielleicht? ¯\_(ツ)_/¯
Stegi legte sein Handy beiseite und widmete sich mit schwindender Motivation seinen Hausaufgaben. Vielleicht sollte er den Textbeleg einfach weglassen? War ja eh nur eine Hausaufgabe. Gerade, als er das tun wollte, blätterte er doch noch die Seite auf, auf der etwas halbwegs Verwertbares stand. Gut. Schnell aufschreiben, dann griff er nach einem zerknitterten Kassenbon (warum lag sowas überhaupt hier rum?) und schob ihn zwischen die Seiten. Vielleicht würde er die Stelle nochmal brauchen.
Aber immerhin hatte Tobi geantwortet, das war doch schon mal etwas.
21:10 Spinner.
21:11 Und was macht dein Lover Tim grad so?
21:15 Mir nicht zurückschreiben!
21:15 Lover? :P
Anstatt einer Erklärung schickte er Stegi einen Haufen Screenshots von Chats, und nach einem kurzen Betrachten erkannte er, dass es sich dabei wohl um Unterhaltungen handelte, in der er ihm etwas über Tim erzählt hatte. Nach der Songtext-Sache vor ein paar Tagen hatte er ihm dann nämlich doch noch alles erzählt, was sich grad so ereignet hatte, ein wenig ausführlicher, als Casper es zusammenfassen konnte.
21:18 Ich will ja nicht sagen, du redest viel von ihm, aber...
Dazu dieser anzüglich grinsende Smiley, den Stegi selbst viel zu oft benutzte. Kopfschüttelnd tippte er seine Antwort.
21:19 Sind halt befreundet.
21:19 Du redest aber nie so viel über MICH mit mir! :(
21:20 Ich bin fast schon verletzt.
21:20 Und du tust mir fast schon Leid.
21:21 Lust zu Zocken?
Stegi warf einen Blick auf die Zettel, die sich noch neben ihm auftürmten.
21:21 Muss noch Englisch machen...
21:21 Aber danach?
21:22 Klar.
21:22 Ich langweil' mich in der Zeit mal.
21:23 Hast du etwa wirklich deine Hausaufgaben schon gemacht? Wie ungewöhnlich für dich.
21:23 Nicht ordentlich, aber ja.
21:23 Warte nur ab, bis du in meinem Alter bist.
21:24 Ich sehe den Zusammenhang grad nicht?
21:24 Dann hast du nur noch mehr Hausaufgaben, viel Spaß.
Tatsächlich war Tobi jünger als Stegi – nichts Gravierendes, aber jung genug, um sich darüber lustig zu machen, wenn er gerade sonst kein Thema hatte. Im Gegenzug machte Tobi sich darüber lustig, wie beschissen Stegis Sozialleben war, und am Ende versanken sie in sich im Sand verlaufenen Diskussionen darüber, was schlimmer war.
Stegi griff nach dem Buch, dem Zettel und einem Stift. Er würde das jetzt noch schnell fertigmachen, und dann mit Tobi zusammen Overwatch zocken. Wenn er sich beeilte, würde das gar nicht mehr lange dauern.
~ * ~
Als Stegi am nächsten Morgen aufwachte, war er mehr als nur todmüde. Er tastete nach seinem Handy und erwog kurz, den Wecker zum vierten Mal auf Schlummern zu stellen, aber es war schon spät genug. Gähnend stand er auf, stolperte aus seinem Zimmer ins Bad und griff sich auf dem Weg noch Klamotten.
Zum tausendsten Mal sagte er sich, dass es besser wäre, in Zukunft nicht mehr bis halb Vier aufzubleiben (nicht, wenn man drei Stunden später wieder aufstehen musste). Nicht einmal die Katzenwäsche – für Duschen reichte die Zeit nicht mehr – machte ihn richtig wach, und ein kurzer Blick in den Spiegel genügte, um zu wissen, dass er auch absolut verpennt aussah.
Seufzend ging er in die Küche, machte Kaffee und stopfte seine Schulsachen in den Rucksack, während die Maschine arbeitete. Die erste Tasse kippe er quasi einfach nur herunter, auch, wenn er sich dabei die Zunge verbrannte, dann versuchte er, noch etwas von seiner Frisur zu retten und trank dabei die zweite.
Um kurz nach Sieben stand er dann aber doch an der S-Bahn-Station, ein wenig gehetzt und trotz des Nieselregens immer noch schläfrig, und auch gerade noch rechtzeitig. Es war voll, was irgendwie logisch war um die Uhrzeit, und er bekam nur noch einen Stehplatz. Was vielleicht ganz gut war, denn im Stehen einzuschlafen, hatte er bisher noch nicht geschafft.
Als Stegi eine halbe Stunde später das Schulgelände betrat, kam Tim ihm bereits entgegen. „Ich habe ewig auf dich gewartet", bemerkte der gespielt beleidigt, ehe er einen Blick auf das Schulgebäude warf. „Kunst, richtig?"
„Wenn du so früh da bist, musst du eben damit rechnen", gab Stegi zurück, ohne auf die Frage einzugehen. So langsam sollte selbst Tim schließlich mal den Stundenplan draufhaben.
„Ich mache das jetzt nicht wirklich freiwillig."
„Ich find's ja schon nervig, dass ich gezwungen werde, um viertel vor hier zu sein, wann kommst du denn bitte an? Halb Acht?"
„Ich bin in der Regel sehr genervt und sehr müde, wenn ich hier aufkreuze." Mehr schien Tim dazu nicht sagen zu wollen, denn er machte sich einfach auf den Weg zur Treppe.
„Das merkt man dir nicht mal wirklich an."
„Das ewige Rumstehen in der Kälte macht wach."
„Das ewige Rumstehen in der Kälte würde mich eher noch mehr nerven", meinte Stegi und nahm zwei Stufen auf einmal, weil Tim viel zu sehr rannte, er nicht damit gerechnet hatte und deswegen immer noch auf dem unteren Treppenabsatz stand.
„Was denkst du denn, warum ich versuche, so schnell wie möglich ins Warme zu fliehen?", grinste sein Freund und blieb stehen, als er den zweiten Stock erreicht hatte. „Aber hey, es ist Oktober, ab jetzt hat das Wetter immerhin eine Berechtigung, beschissen zu sein. Oktober klingt schließlich viel mehr nach Dauerregen als September, oder?"
„Ich verstehe nicht, wie du an einem Donnerstagmorgen so positiv über schlechtes Wetter reden kannst." Schon die paar Minuten von der Wohnung bis zur Bahnstation waren unangenehm gewesen – Übermüdet und gedanklich schon genervt vom anstehenden Schultag und dazu auch noch grauer Himmel und ein Haufen genauso schlecht gelaunter Leute in der S-Bahn, in der nicht mal mehr einen Sitzplatz gekriegt hatte. Viel besser konnte der Tag ja quasi gar nicht beginnen.
„Alles eine Frage der Übung." Tim lachte und klopfte an die Tür vom Klassenraum, und nach einer Minute hatte tatsächlich jemand die Gnade, zu öffnen. Stegi ließ seine Sachen an ihren angestammten Platz fallen, lehnte sich auf dem Stuhl nach hinten und gähnte. „Ist Tobi mitschuldig daran, dass du aussiehst, als hättest du die Nacht durchgemacht?", fragte Tim.
„Mh-hm. Aber wir waren echt gut gestern. Heute. Wie auch immer."
„Willst du was zu essen? Ich würd' darauf wetten, dass du es heute nicht mehr geschafft hast, zu frühstücken."
„Warum?" Er hatte ja Recht, also griff Stegi nach dem Apfel, den Tim ihm unter dem Tisch hinhielt. „Ich mein, woher weißt du das?"
„Seit wir uns kennen, fragst du mich spätestens in der zweiten Pause nach irgendwas zu essen. Je müder du bist, desto früher."
Gott, er kannte ihn zu gut. Stegi aß schweigend, während Tim irgendwas Belangloses erzählte, was ihm in der Bahn passiert war. Als Frau Wart, genau mit dem Klingeln, den Raum betrat, verstummte er zwar, aber Stegi hielt den Apfel einfach unter den Tisch, in der Hoffnung, sie würde ihn nicht bemerken. Er war wirklich hungrig.
„Wie Sie alle wissen, fangen bald die Herbstferien an", begann Frau Wart (in welcher Welt auch immer drei Wochen bald waren), „Und ich würde davor gerne einen Test schreiben. Schriftlich. Er wird etwa 20 Prozent Ihrer schriftlichen Note am Ende des Halbjahres ausmachen."
Seufzend nahm Stegi noch einen Bissen und holte schon mal einen Stift raus. Zum Glück war sie gerade viel zu sehr damit beschäftigt, die entstandenen Diskussionen zu beruhigen, um darauf zu achten, ob einer ihrer Schüler ein verspätetes Frühstück einnahm.
„Donnerstag, der 25. Oktober. Thema werden verschiedene kreative Gestaltungsmethoden, mit besonderem Fokus auf die Filmtheorie. Darum werden wir in den nächsten Wochen nur wenig praktisch arbeiten, obwohl ich natürlich erwarte, dass Sie sich zuhause weiter mit Ihren Projekten beschäftigen."
„Natürlich", murmelte Stegi und notierte das Datum. „Wir haben ja sonst nichts zu tun."
„Und darum beginnen wir jetzt mit der Theorie", fuhr Frau Wart fort, ohne auf die Proteste einzugehen. „Noa, verteilen Sie bitte die Zettel?"
~ * ~
„Ich habe absolut nichts mitbekommen", meinte Stegi, nachdem es endlich geklingelt hatte und er sich sofort auf den Weg zu seinem Lieblingsbäcker gemacht hatte. „War irgendwas Wichtiges dabei?"
„Bestimmt. Ging um verschiedene Einstellungen, Panorama und sowas, aber ich habe nicht wirklich zugehört." Tim zog die Tür hinter ihnen zu und die angenehme Wärme der Bäckerei empfing sie. Stegi lief zum Verkäufer, während sein Freund ein wenig abseits stehen blieb und mit Händen in den Jackentaschen die Auslage betrachtete.
„Hunger?", rief Stegi ihm zu. „Ich nehm dir ja schon seit Wochen dein Essen weg."
„Ich nehm immer extra was für dich mit", meinte Tim und grinste.
„Ehrlich?"
„Ja, weil du ein vergesslich mit Schlafproblemen bist. Aber wo du so fragst... Ein belegtes Brötchen wäre nett."
Augenrollend reichte Stegi dem Verkäufer einen Fünf-Euro-Schein und erhielt im Gegenzug ein Brötchen und seinen Kaffee. Schnell steckte er das Rückgeld in die Hosentasche, dann reichte er Tim das Brötchen und nahm den ersten Schluck. Fast noch zu heiß. Aber Kaffee.
„Langsam", bemerkte Tim, als sie sich wieder auf den Weg zur Schule machten, „bereitet mir dein Koffeinkonsum wirklich Sorgen."
„Das hast du mir schon oft genug gesagt." Er umfasste den Becher mit beiden Händen, und die angenehme Wärme breitete sich langsam in seinem Körper aus. „Gehen wir in die Mensa? Das Wetter ist eklig."
Drinnen war es viel zu voll und sie drängten sich an einen Platz nahe am Ausgang, wo sich nicht ganz so viele Schülergruppen versammelt hatten. „Sie sollten das hier wirklich mal ausbauen", beschwerte Stegi sich. „Man kann ja kaum einen Fuß vor den anderen setzen."
„Immerhin haben sie Fußballspielen verboten." Tim deutete auf die Regeln für Korrektes Verhalten im Aufenthaltsraum und der Mensa, die neben ihnen hangen.
„Hier kannst du gar nicht Fußballspielen. Es ist ja nicht mal Platz für einen Ball."
„Was freu ich mich darauf, wenn das Scheißwetter endlich aufhört", murmelte er. „Dann kann man sich hier wenigstens bewegen, ohne auf dem Weg durch die Tür zwanzig Schüler, drei Lehrer und die Queen von England anzurempeln."
„Immerhin sind wir in der Oberstufe", meinte Stegi, dessen Kaffee inzwischen auf eine halbwegs erträgliche Temperatur abgekühlt war. „Stehen quasi relativ weit oben in der Hackordnung."
„Jüngere Schüler aus dem Weg zu drängen ist also in Ordnung, aber ältere nicht?" Tim zog eine Augenbraue hoch.
„Ganz richtig." Grinsend nahm er den letzten Schluck, warf den Pappbecher in den Mülleimer, der in ihrer Nähe stand, und rannte auf dem Weg dahin sogar in niemanden hinein. „Ja, genau das brauchte ich."
„Du bist endlich wach?"
„Ein bisschen."
„Solltest auch mal morgens ein bisschen in der Kälte rumstehen."
„Ich würde dich nach zwei Minuten umbringen", prophezeite Stegi und griff nach seinem Rucksack, den er irgendwann neben sich abgestellt hatte, als die Klingel seine Worte fast übertönte. „Ich geh' dann mal zu Englisch."
Ihre Englischlehrerin war der Typ Lehrer, die immer ein wenig neben der Spur waren, das aber durch eine unfassbare Begeisterung für ihr Fach wieder ausglichen. Während sie vorne etwas über die inneren Konflikte von einem der Charaktere aus dem Buch erzählte, bekam er sonst quasi gar nichts mehr mit, und Stegi nutzte die Gelegenheit, um unter seinem Tisch in der letzten Reihe verschiedene Leute vollzuspamen.
Keiner antwortete, was um die Uhrzeit auch nicht weiter verwunderlich war. Also vertrieb er sich die Zeit damit, immer mal wieder ein paar Stichpunkte zu dem zu notieren, was sie besprachen, und ansonsten durch alte Chats zu scrollen.
Stegi dachte an Tobis Aussage, er würde oft von Tim reden. Er hatte Recht damit, aber das lag eher daran, dass ansonsten nicht viel in seinem Leben passierte, richtig? Immer nur von der Schule zu sprechen, wäre ihm doch zu langweilig.
(Er dachte auch an die Zeiten zurück, in denen er in der dritten Klasse gewesen war und Lucy dauernd von irgendeinem Typen aus dem Jahrgang über ihr erzählt hatte, bis selbst er genervt davon gewesen war. Die Beiden waren wirklich zusammengekommen – aber nur für ungefähr zwei Wochen, dann hatten sie sich unter großem Drama wieder getrennt. Und das klang nun wirklich nicht nach Tim und ihm.)
Entschlossen schaltete er das Handy aus und hob den Blick, um dem Unterricht zu folgen.
Er war nicht in Tim verliebt – schon die Vorstellung war wirklich lächerlich.
Vielleicht schlaft ihr schon. Keine Ahnung, wie euer Schlafrythmus so aussieht :D Aber viel Spaß mit dem Chapter. ;)
(Songzitat: Crystal Castles - Not in Love)
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