12. Kapitel | Zweiundvierzig
I never thought that this the city where I could stay
„Es hat aufgehört, zu regnen", bemerkte Tim und Stegi nickte zustimmend.
Zwar war der Himmel immer noch wolkenbedeckt, aber es schüttete tatsächlich nicht mehr. Nur von den Bäumen um sie herum fielen bei jedem Windstoß immer noch Tropfen und die Luft roch frisch und ein klein wenig schwer; das typische Nach-Dem-Regen-Wetter.
So ziemlich alles an Stegi fühlte sich komplett durchnässt an und langsam kroch ihm die Kälte in die Knochen. Die Arme um den Oberkörper gelegt saß er immer noch auf dem Boden, während Tim zwischenzeitlich aufgestanden war und sich jetzt auf die Tischtennisplatte gesetzt hatte, so, dass Stegi nur seine Beine sehen konnte.
Vorsichtig, um sich ja nicht den Kopf zu stoßen, verließ Stegi seine inzwischen nicht mehr ganz so trockene Zufluchtsstelle und stützte sich danach sofort auf der Platte ab. „Meine Beine sind eingeschlafen." Irgendwie hievte er sich noch neben seinen Freund und bemühte sich, das unangenehme Kribbeln zu ignorieren.
„Schon merkwürdig, oder?" Tim fuhr sich einmal durch die vor Regenwasser triefenden Haare. „Hier ist einfach niemand. Ich mein, das ist München, hier wohnen echt viele Leute... Und von so ein bisschen Wetter lassen sich die meisten doch nicht aufhalten."
„Hier sind generell nie so viele Leute. Also, so oft bin ich jetzt nicht hier, aber ich hab hier erst einmal einen anderen Menschen gesehen."
„Ist nett hier."
„Findest du?", fragte Stegi. „Auf Dauer wird's doch etwas eintönig."
„War's doch auch jetzt nicht. Oder?"
„Das ist was Anderes." War es irgendwie wirklich – Als ob es nun eine besonders große Rolle spielen würde, ob er alleine schweigend nass wurde oder mit Tim zusammen. Tat es aber (warum auch immer) – Als würde die Zeit anders vergehen, wenn er mit dabei war, auch, wenn sich Ewigkeiten lang keiner von ihnen überhaupt zu Wort meldete oder irgendein Geräusch außer Atmen von sich gab.
Ein kurzes Lächeln huschte über Tims Gesicht. „Wie du meinst."
„Mir wird langsam echt kalt", gab Stegi nach einer Weile Stille zu. Obwohl er gerne für eine Weile (oder auch für immer) sitzen geblieben wäre, inzwischen spürte er inzwischen, wie ihm seine komplette Kleidung am Körper klebte und er einfach nur noch aus dem nassen Zeug rauswollte. „Vielleicht mal zurückgehen?"
Tim zuckte mit den Schultern und sprang von der Platte auf den Boden. „Klar, bevor du hier erfrierst."
„Wie liebenswürdig von dir."
In seiner Wohnung warf Stegi als erstes die Jacke über die Heizung, in der Hoffnung, sie würde bis zum nächsten Tag trocken sein, und drehte sich dann zu Tim um. „Ich bezweifle zwar, dass das in den nächsten paar Stunden helfen wird, aber vielleicht ist sie dann nur noch halb so nass?", schlug er vor und griff ihm Jacke aus der Hand, ehe er neben seine eigene legte.
Viel bringen tat das zwar nicht (immer noch kalt, immer noch nass, nur ein bisschen dünner angezogen), aber immerhin konnte er sich so ansatzweise gastfreundlich fühlen.
„Würd's dich stören, wenn ich mich kurz umziehe?", fragte Stegi, während er bereits die erstbesten Klamotten aus seinem Schrank zog, denn er hatte wirklich nicht vor, den Rest des Abends so völlig durchnässt rumzurennen.
„Als wenn ich dir verbieten würde, dir in deinen eigenen vier Wänden andere Klamotten anzuziehen", grinste Tim. „Aber... Wenn's dir nichts ausmacht, du hast nicht rein zufällig noch irgendwas zum Überziehen, das ich mir klauen kann?"
„Bestimmt. Aber ist das nicht alles ein bisschen klein?" Zwar war Tim keine Riese (und Stegi auch nicht unbedingt ein Zwerg), aber es bestand schon ein kleiner Größenunterschied und ehrlich gesagt wollte Stegi seinen Freund nicht in irgendwas zwängen, in dem er sich wie eine Wurst in der Pelle fühlen musste. „Das hier wäre das Größte, was ich im Angebot hätte." Er warf Tim einen schwarzen Pulli zu, der ihm selbst ein wenig zu groß war, und streifte sich dann seine eigenen nassen Sachen vom Körper.
„Na ja", murmelte Tim nach einer Minute, „Er passt fast."
Stegi drehte sich zu ihm um. „Geht doch voll."
„So warme Sachen passen grundsätzlich erst dann gut, wenn sie mindestens eine Nummer zu groß sind."
„Das habe ich dann doch nicht im Angebot, tut mir Leid." Stegi grinste und nahm dann auf seinem Schreibtischstuhl Platz. „Du kannst natürlich meinen Vater fragen, ob er dir was von ihm leihen kann, aber – "
„Gott. Bloß nicht."
„Dann beschwer dich nicht." Stegi warf einen Blick aus dem mit Regentropfen bedeckten Fenster. „Hey, guck mal, weniger Wolken."
„Was?" Tim drehte sich um und musterte anscheinend auch den Himmel. Tatsächlich war es ein wenig aufgeklart und draußen wirkte alles ein klein bisschen weniger grau in grau, und obwohl es immer noch nach ziemlich deprimierendem Wetter aussah.
„Wenn gleich noch ein Regenbogen auftaucht, werde ich definitiv lachen."
Mit leicht gerunzelter Stirn sah Tim ihn an. „Wie?"
„Na ja, drei Stunden im Regen rumchillen ist ja eh schon so klischeehaft unrealistisch, als wär'n wir in einem Film oder so, aber wenn da gleich auch noch ein Regenbogen kommt, sind wir definitiv in einer schlechten Romantikkomödie gelandet."
„Es regnet nicht mal mehr. Wo willst du da deinen Regenbogen herbekommen?"
„Schlechte, von Deutschen produzierte Romantikkomödie." Stegi grinste. „Es geht nur um's Prinzip, mein Freund."
~ * ~
Tim war weg. (Rein theoretisch zwar nur drei Stationen mit der S-Bahn – Aber Stegi hätte auch kein Problem damit gehabt, wenn er noch ein wenig länger geblieben wäre.) So aber stocherte er nur mit der Gabel in seinem Essen herum, weil er und Tim definitiv zu viel Reis gekocht hatten und er und seine Eltern daher gerade die Reste vernichteten („Von der Packung ist nur noch so die Hälfte da", konnte er Tim immer noch sagen hören, „Ist das nicht vielleicht ein bisschen wenig?").
Ja, irgendwie würden sie beide ihr Leben vermutlich ziemlich an die Wand fahren, wenn sie es irgendwann mal selbst auf die Reihe kriegen mussten, aber immerhin würden sie nicht verhungern.
„Ich habe jetzt den Termin bekommen." Seine Mutter lächelte. „Die haben sich echt ziemlich Zeit gelassen damit."
„Hm-mm", versuchte Stegi, an den üblichen Familienthemen (Also „Wie läuft die Schule" und „Arbeit ist so anstrengend") Interesse zu zeigen und sah dann langsam zu ihr auf. „Äh... Welcher Termin?"
„Für die Doku. Wann der Dreh beginnt."
Der Termin. Den er am besten ewig weit von sich weggeschoben hätte. (Vielleicht hatte er ja Glück und er wurde wirklich nach hinten verlegt, aber auf Glück konnte man sich meistens nicht verlassen.) „Wann denn?", fragte er und bemühte sich, dabei nicht allzu viel Hoffnung in seine Stimme zu legen.
„Zwölfter November. Am Siebten ziehen wir in die Wohnung ein."
„So früh?!" Siebter. November. Für einen Moment konnte er seine Eltern nur fassungslos anstarren – Ja, er hatte gewusst, dass es November werden würde. Aber nicht, dass es so früh sein würde. So schnell. Irgendwie war er in einer Ecke seines Kopfes immer davon ausgegangen, dass sie Ende November umziehen würden. Einfach, weil das meistens so gewesen war, und er, seit er Tim kennengelernt hatte, vielleicht sogar darauf hoffte. Schließlich hatte er nicht Lust auf noch eine neue Schule, noch mehr neue Leute, noch eine neue Stadt, wenn er einmal eine gefunden hatte, in der er vielleicht sogar bleiben würde.
Inzwischen hatte auch sein Vater sich eingeschaltet. „Ich dachte, du würdest dich vielleicht freuen. Meintest du nicht, du willst hier so schnell wie möglich wieder weg?"
„Ja. Vor sechs verfickten Monaten." Er konnte geradezu fühlen, wie seine Laune in den Keller sank. „Das ist doch jetzt schon ewig her."
Für das verfickte wollte er ihm wohl auch noch so eine Art von „Bei Tisch fluchen wir nicht, mein Sohn"-Blick zuwerfen, den Stegi schon aus reiner Gewohnheit komplett ignorierte. „Du wirst dich bestimmt auch da gut einleben."
„Ja, denkst du jetzt." Stegi kaute eine Weile auf einer Gabel Reis herum. Schmeckte nach gar nichts. Vielleicht ein kleines bisschen salzig. „Das wird eh ne Katastrophe werden."
„Warte doch erstmal ab", sagte seine Mutter. „Es wird bestimmt nicht allzu schlimm."
„Bestimmt", seufzte er und griff nach seinem Teller. „Ich bin satt, geh dann mal in mein Zimmer, muss noch Hausaufgaben machen und so." Das er eigentlich nur Mathe aufhatte und Tim sich gnädiger Weise bereit erklärt hatte, ihm die Lösungen zu schicken (geschätzte Dauer des Abschreibens: fünf Minuten), behielt er lieber erstmal für sich.
Auf seinem Bett angekommen kramte er sein Handy aus der Tasche und sah einmal kurz nach, ob Tim ihm schon geschrieben hatte. Natürlich. Irgendwelche Gleichungen, um die er sich gleich kümmern würde, weil er ihm erstmal davon erzählen wollte, dass er noch früher wegmusste als erwartet.
21:23 Datum, an dem wir umziehen: 7. September
Nach einigen Momenten des Starrens auf die zuletzt-Online-Anzeige, die leider nicht auf online sprang, angelte Stegi seinen Rucksack vom Bett aus zu sich und kramte nach seinem Block und einem funktionierenden Kugelschreiber sowie nach Kopfhörern, um das Ganze damit irgendwie erträglicher zu machen (außerdem war Musik ein wunderbarer Stimmungsaufheller).
Sich so richtig dazu motivieren, zu fröhlichen Tracks frei nach dem Motto „Life is like a pulse that's leading the way, Our heads are in the light we live by the day" mitzusummen, konnte er sich nicht wirklich, und irgendwann hatte er die fertig abgeschriebenen Hausaufgaben wieder weggepackt und übersprang nicht mal mehr die noch mehr runterziehenden Lieder („Es ist wahr, am Ende werden nur Narben bleiben – Die Schmerzen werden klein und groß mit den Jahreszeiten" war wirklich alles andere als aufbauend). Den Kopf wieder heben tat er erst, als er das leise Geräusch hörte, mit dem sein Handy grundsätzlich eine neue Nachricht ankündigte.
21:48 Countdown bis Norddeutschland: Noch 42 Tage
Noch 42 Tage. Zweiundvierzig. Das klang so unfassbar viel.
Zweiundvierzig Tage, sechs Wochen, eineinhalb Monate. Das war einmal Sommerferien. (Und die hatten auch die Angewohnheit, sich anzufühlen, als wären sie nur zwei Wochen lang.) Einmal blinzeln und es war schon wieder vorbei.
Vor sechs Monaten hatte er in genau diesem Zimmer gesessen und die Tage gezählt, bis er Bayern wieder verlassen konnte. Damals war die Zahl noch größer als 200 gewesen und er hatte gedacht, das würde sich endlos hinziehen (und sich gewünscht, es würde nur einen Wimpernschag lang dauern). Jetzt war es genau umgekehrt.
Schnell tippte er eine Antwort.
21:50 Viel zu kurz.
Legte sein Handy wieder weg.
Hatte es da nicht diesen einen Film gegeben, in dem die Zahl 42 eine große Rolle gespielt hatte? The answer to the life, the universe and everything.
Im Moment hätte er nur gerne eine Antwort auf die Frage gehabt, wie man verdammt nochmal die Zeit ein bisschen länger zog.
Gestern hier zwei total ausführliche Reviews (also wirklich so richtig - Dieses "über-1000-Wörter-ausführlich o.O) auf fanfiktion.de bekommen + mindestens zwei neue Leser und nen superlieben Kommenta auf wattpad - Was denn los hier? :D Vielen Dank in jedem Fall (auch an alle anderen Leser + Kommentarschreiber) und ich hab aus Spontanmotivation heraus mal noch ein Kapitel rausgehauen. Etwas kürzer als einige andere, aber viel mehr hätte hier auch gar nicht mehr passieren können, schätze ich.
(Songzeile: Satellite Stories - Kids aren't safe in the Metro)
(Erwähnter Song: We Are I.V - Louder)
(Erwähnter Song 2: Prinz Pi - Laura)
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