Kapitel 3 - Extraktion
Am nächsten Tag holten die Agenten sich Neo. Trinity beobachtete, wie sie ihn auf die Rückbank ihres Wagens schubsten und mit ihm davonfuhren, um ihn an einen Ort zu bringen, den nicht mal ihre Operators ausfindig machen konnten. Die gesamte Crew war in Alarmbereitschaft und die Spannung stieg mit jeder Minute mehr. Trinity machte sich mit ihrem Bike auf den Weg zu dem verlassenen Lagerhaus, wo Switch und Apoc bereits auf sie warteten.
„Gibt's Neuigkeiten?", fragte sie, obwohl sie wusste, wie unwahrscheinlich es war.
„Nichts", bestätigte Switch. „Der Plan ist, wir holen ihn raus, sobald er wieder auftaucht. Wird 'ne verdammt lange Nacht."
„Was?", erwiderte sie, „Sind wir überhaupt nah genug am Tartarus dran?"
„Ziemlich nah, seit einer Woche oder so", meinte Apoc. „Wir holen während der Extraktion noch ein paar Meter raus."
„Wenn wir ihn befreien, nur damit er dann ertrinkt..." Trinity ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte den Kopf. Sofort bereute sie es, diese Möglichkeit in den Raum gestellt zu haben.
Eine Weile lang saßen sie schweigend zusammen. Es war ein schreckliches Gefühl einfach nur zu warten, während Neo von Agenten gefangen gehalten wurde.
Vielleicht war eine Stunde vergangen, vielleicht auch nur zwanzig Minuten, als Switch aufstand und verkündete, sie würde das Lagerhaus nach etwaigen ungebetenen Gästen absuchen gehen. Trinity begleitete sie.
„Hey, bist du okay?", fragte Switch, als sie nach draußen traten.
Trinity nickte zögernd. „Nur nervös. Alles ist irgendwie dieses Mal schief gegangen."
Switch war nicht leicht zu entmutigen und sie zeigte es immer wieder. „Ich dachte, du mochtest den ersten Kontakt?" Trinity konnte hören, wie Switch ein Grinsen unterdrückte. „Dich mit ihm in einem schäbigen Club zu treffen, ihm Sachen zuzuflüstern, die er bis ans Ende seines Lebens nicht vergisst..."
„Ich schwöre bei Gott, Switch, ich erschieße dich, wenn du nicht sofort die Klappe hältst."
Switch lachte. „Zu Befehl."
Sie überprüften kurz das Auto im Hof, bevor sie sich auf den Weg zur Rückseite des Gebäudes machten.
„Hast du was dagegen, wenn ich das Debuggen heute übernehme?", fragte Trinity, ehe sie es sich anders überlegen konnte.
„Was?" Damit hatte Switch nicht gerechnet. „Wieso?"
„Es ist – Neo kennt mich und ich denke, es wäre eine schlechte Idee, wenn ich diejenige wäre, die ihn mit einer Waffe bedroht."
Switch blieb stirnrunzelnd stehen, um sie anzuschauen. „Du wirst sonst nicht so emotional, wenn es darum geht, Typen mit Waffen zu bedrohen."
Trinity war kurz davor, ihren Rang ins Spiel zu bringen, als Switch kopfschüttelnd seufzte. „Wie auch immer, Scheiß drauf. Ich übernehme das Drohen, du saugst die Wanze aus ihm raus – wir lassen ihn einfach entscheiden, was davon traumatisierender ist."
Stunden vergingen.
Der Himmel verdunkelte sich mit schweren Regenwolken und die drei suchten Schutz im Auto, als es durch das undichte Dach des Lagerhauses zu tropfen begann und ein sintflutartiger Regenguss auf sie niederging. Die Nacht brach herein und Trinity begann sich zu fragen, ob die Agenten überhaupt vorhatten, Neo gehen zu lassen.
„Natürlich lassen sie ihn gehen", räumte Switch ihre Zweifel aus. „Die wollen an Morpheus ran. Neo ist so was von keine Gefahr."
Trinity sah Apoc im Innenspiegel nicken.
In der Ferne grollte ein Donner und verzweigte Blitze zuckten über den Himmel – als endlich Apocs Handy klingelte.
„Adams Street Brücke", hörte sie blechern Morpheus' Stimme.
„Aye", antwortete Apoc und ließ den Wagen an.
„Bist du bereit?", fragte Switch mit einem Blick nach hinten zu Trinity. „Das wird unangenehm."
„Ich weiß."
Der Regen ließ nicht nach und sie teilten einen kleinen Wasserfall, um unter die Brücke zu fahren, wo ein einzelner dunkel gekleideter Mensch auf sie wartete. Es war inzwischen nach Mitternacht. Neo drehte sich um, als er das Auto hörte und Apoc hielt direkt neben ihm an. Trinity streckte sich und öffnete die hintere Tür auf Neos Seite. „Steig ein."
Neo zögerte nur kurz, bevor er alle Vorsicht fahren ließ und zu Trinity auf die Rückbank rutschte. Die Tür fiel ins Schloss und Apoc fuhr los. Switch zog ihre Waffe, drehte sich halb auf dem Sitz um und zielte auf Neos Kopf.
„Was zur Hölle soll das?", fragte Neo verständlicherweise. Trinity war froh, Switch zum Tauschen überredet zu haben.
„Das ist nötig, Neo", antwortete Trinity schnell. „Zu unserem Schutz."
„Vor was?"
Ihre Stimme wurde etwas sanfter. „Vor dir."
Sie hob den Debugger aus dem Fußraum und begegnete Neos verängstigtem Blick.
„Zieh dein Shirt aus", befahl Switch von vorn.
Neos Blick hing am Debugger, einer Maschine aus Glas und Stahl, die ein bisschen wie eine Mischung aus Rippenspreizer und Luftkompressor aussah. Trinity wusste, dass sie nicht gerade Vertrauen erweckte, aber sie konnten darauf jetzt keine Rücksicht nehmen.
„Was?", fragte Neo perplex. „Warum?"
Switch verdrehte die Augen. „Halt an."
Apoc gehorchte und fuhr an den Bordstein. Regen prasselte geräuschvoll aufs Autodach.
„Hör zu, Dummkopf. Wir haben keine Zeit für Fragen. Entweder du steigst ein oder du steigst aus."
Trinity bereute zutiefst, Switch nicht befohlen zu haben, ihr das Reden zu überlassen.
Neo erwiderte Switchs Blick eine Sekunde lang. „Gut", sagte er dann und öffnete die Autotür.
„Neo, bitte." Trinity musste sich zurückhalten, ihn nicht am Arm zu packen. „Du musst mir vertrauen."
Er hielt inne und sah sie an. „Wieso?"
Weil du der bist, auf den ich gewartet habe.
„Weil du weißt, wie es da draußen ist, Neo. Du kennst diese Straße, du weißt genau, wo sie endet. Und ich weiß, dass du da nicht sein willst."
Neo hob den Kopf und blickte in die regnerische Nacht, folgte der Straße mit den Augen, ehe sie sich in der Dunkelheit verlor. Regen sickerte in sein dunkles Haar und seine Jacke.
Er zog sein Bein zurück ins Auto und schloss die Tür hinter sich.
Apoc setzte den Wagen wieder in Bewegung und Trinity warf einen kurzen warnenden Blick zu Switch, ehe sie sich wieder Neo widmete. „Lehn dich zurück."
Sie schob sein Shirt nach oben und berührte die warme Haut darunter. Mit der gläsernen Schnauze des Debuggers zielte sie auf seinen Bauchnabel und drückte die abgerundeten Kanten in Neos Haut.
„Was ist dieses Ding?", fragte er mit kaum unterdrückter Panik.
„Du bist vielleicht verwanzt", erklärte Trinity. „Versuch dich zu entspannen." Eher eine reflexhafte Anweisung.
Sie drehte an den Reglern und Rädchen, baute Druck auf und die Maschine saugte sich an Neos Bauch fest wie ein Tentakel. Neo schrie auf, aber Trinity ignorierte ihn und folgte der Wanze auf dem winzigen Display der Maschine.
„Komm schon", murmelte sie, „komm schon."
„Es bewegt sich", kommentierte Switch und erinnerte sie damit daran, wer von ihnen beiden mehr Erfahrung mit dem Debugger hatte.
„Shit", fluchte Trinity leise und versuchte zu vergessen, dass Switch ihr von hinten auf die Finger guckte.
„Du verlierst es."
„Nein, werde ich nicht." Die Wanze bewegte sich in Neos Eingeweiden, doch Trinity fand die richtige Position und drückte den Abzug. Helles Licht blitzte auf und Neo schrie erneut, wurde von Krämpfen geschüttelt, bis endlich etwas Nasses und Widerliches aus Neos Bauchnabel gesogen wurde und in der gläsernen Schnauze des Debuggers landete.
„Was zum Teufel!" Neos Stimme war verzerrt von Schmerz und purem Unglauben. „Das war doch kein Traum?"
Trinity schraubte die Schnauze des Debuggers ab und besah sich die elektronische Wanze mit ihren dünnen Beinen und dem rot leuchtenden Auge, das ihre Funktionsfähigkeit bestätigte. Es zappelte und klimperte gegen sein gläsernes Gefängnis. Ohne viel Aufhebens kurbelte Trinity das Fenster runter und entleerte das Glas auf die regennasse Straße.
Wenig später hielt Apoc den Wagen in einer Gasse hinter dem lange verlassenen Hotel Lafayette an. Vernagelte Fenster, mottenzerfressene Möbel, von Mäusen zerbissene Leitungen blieben heute übrig von dem, was einmal elegant gewesen war. Trinity führte Neo durch das Foyer mit dem schachbrettgemusterten Boden eine moderige Treppe hinauf. Das Geräusch ihrer Schritte wurde vom staubigen purpurnen Teppich verschluckt. Sie erreichten eine geschlossene Tür am Ende eines dunklen Korridors und Trinity hielt inne.
„Wir sind da", sagte sie und drehte sich zu Neo um. Sie sah ihn schlucken und konnte beinahe fühlen, wie nervös er war. „Wenn ich dir einen Rat geben darf", fuhr sie fort, „Sei ehrlich. Er weiß mehr, als du dir vorstellen kannst."
Mit diesen Worten öffnete sie die Flügeltüren zu der vermoderten Suite, in der Morpheus bereits vor den Fenstern auf sie wartete. Blitze erhellten den Himmel hinter ihm, gerade so durch Löcher in der verrottenden Spitze der Gardinen erkennbar.
„Endlich", sagte Morpheus und kam auf sie zu. Er schüttelte Neo die Hand. „Willkommen, Neo. Wie dir sicher klar ist, bin ich Morpheus."
„Es ist mir eine Ehre", erwiderte Neo aufrichtig.
„Nein", sagte Morpheus, „die Ehre liegt bei mir. Bitte, setz dich."
Er nickte Trinity zu, die dies als Zeichen nahm, durch eine weitere Tür ins angrenzende Zimmer zu verschwinden. Apoc, Switch und Cypher verkabelten die letzten Monitore.
„Wie sieht's aus?", fragte Trinity und nahm sich ein Paar Kopfhörer, um sie mit dem alten Hoteltelefon zu verbinden.
„Gut bis jetzt. Morpheus soll ihn trotzdem nicht zu lange zutexten", meinte Cypher. „Ich hab wirklich keine Lust, mich heute noch mit Agenten rumzuschlagen."
„Ich hab dir doch gesagt, Trinity hat den Tracker entfernt", entgegnete Switch ungeduldig.
„Mag sein, aber unsere Leitung haben sie letztens auch einfach so gekappt."
Die Tür zum benachbarten Zimmer wurde geöffnet und Morpheus betrat gefolgt von Neo den Raum.
„Apoc, sind wir online?"
„Fast." Apoc tippte hektisch auf einer Tastatur herum.
„Neo, leider ist die Zeit immer gegen uns", sagte Morpheus und deutete auf den Stuhl in der Mitte des Zimmers. „Setz dich."
Neo nahm zögernd Platz und Trinity klebte kleine Elektrodendisks auf seinen Armen, am Hals und auf der Brust fest.
„Hast du das alles auch gemacht?", wisperte Neo in Trinitys Ohr.
Sie nickte und schob ihm sanft die Kopfhörer über die Ohren, ehe sie zu ihrer Station am Computer zurückkehrte. Neos Vitalwerte erschienen auf ihrem Monitor und sie konnte genau sehen, wie schnell sein Herz schlug.
Neo schwieg und sein Blick fiel auf einen zerbrochenen Spiegel neben ihm. Er starrte sein Spiegelbild an. „Habt ihr ...?", fragte er undeutlich.
Trinity hörte nur mit halbem Ohr zu, ihre Aufmerksamkeit gehörte den Vitalwerten auf dem Bildschirm vor ihr.
„Hattest du schon mal einen Traum, Neo, der dir vollkommen real schien?" Morpheus trat hinter Neo, der die Hand nach dem Spiegel ausgestreckt hatte. Ein Blitz erhellte den Raum, ohrenbetäubender Donner folgte. Trinity war völlig fixiert auf Neos Vitalwerte vor ihr und sie spannte den Kiefer an, beobachtete seinen immer unregelmäßiger werdenden Herzschlag.
„Replikationsphase", warnte Trinity. Neos Herzschlag beschleunigte sich, sein Atem wurde heftiger und ungleichmäßiger.
„Apoc?", fragte Morpheus ruhig.
„Noch nichts." Apocs Fingerspitzen flogen über die Tasten, im Versuch Neos Signal zu orten.
„Sein Herz flimmert", rief Trinity über den Alarm hinweg.
„Apoc." Morpheus' Stimme verlor ihren beruhigenden Unterton. „Position!"
„Ortung gleich abgeschlossen", antwortete Apoc.
Neos Werte verschlechterten sich rapide. „Es ist kalt", stöhnte er, als er die gallertartige Flüssigkeit des Pods zu spüren begann.
Wenn sie ihn nicht gleich orten konnten, würde er hier und jetzt sterben. „Er ist kurz vor einem Herzstillstand!"
„Hab ihn!", rief Apoc. „Lokalisiert!"
Morpheus gab den Befehl zur Entkopplung und die Visualisierung von Neos Code verschwand aus dem Stuhl, die Elektrodendisks und Kopfhörer fielen mit einem dumpfen Geräusch auf den modrigen Holzboden.
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, verließ Trinity ihren Posten und zog die Kopfhörer aus dem Anschluss des Telefons, das in derselben Sekunde zu klingeln begann. Sie reichte den Hörer an Morpheus weiter und alle wurden schnellstmöglich der Reihe nach ausgeloggt.
Trinity kam als letzte auf der Neb an und sprang aus dem Stuhl, sobald Mouse sie ausgeklinkt hatte. Zusammen mit Apoc bemannte sie die Hebel der Klaue, um sie beim Signal sofort herunterzulassen.
Das Schiff hatte sich bereits in Bewegung gesetzt.
„Wir sind über dem Tartarus", verkündete Morpheus. „Luke aufmachen."
Tank gehorchte und schob die massive Eisenluke unter der Klaue quietschend auf.
Eisige Luft strömte ins Hovercraft und Trinity fröstelte. Über das Surren und Knistern der elektrisch geladenen Pads war der Kanal unter ihnen beinahe nicht zu hören. Trinity konnte die Spiegelungen der weißen Blitze in der Wasseroberfläche sehen, sie wagte es nicht, zu blinzeln, aus Angst, Neos Körper in der Strömung zu übersehen.
„Da!", rief sie plötzlich und packte den Hebel fester. „Apoc!"
Apoc hatte Neo ebenfalls erspäht und ließ zusammen mit Trinity die Klaue hinabgleiten.
„Öffnen", befahl Trinity und schätzte die letzten Meter vorsichtig ab. Die Klaue senkte sich um Neos leichenblassen Körper und zog ihn aus dem eiskalten Wasser der Kanalisation ins Innere des Hovercrafts. Beim Öffnen der Klaue auf sicherem Boden taumelte Neo und schaffte es nur mit der Hilfe von Mouse und Tank wieder auf die Beine. Sofort reichte Mouse Neo ein Handtuch und wickelte ihn ein. Es war seltsam anrührend.
Neo konnte kaum die Augen offenhalten, sein Blick war trüb und hektisch, die Stellen an seinem Körper, aus denen die Anschlüsse gewaltsam entfernt worden waren, sahen rot und angegriffen aus. Er hatte keinerlei Körperbehaarung mehr und konnte sich nicht allein auf den Beinen halten. Doch er blickte zu Morpheus hoch und erwiderte dessen Blick mit aller Anstrengung, die er aufbringen konnte, auch wenn seine Kraft nicht reichte, um Morpheus' Lächeln ebenfalls zu erwidern.
„Willkommen in der wirklichen Welt, Neo", sagte Morpheus.
Neo kam nicht dazu etwas zu sagen, ehe er das Bewusstsein verlor.
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