16 | Verschwommene Realität
Mein Herz ist vor Angst verknotet. Gebannt starre ich auf die Zimmertür, in meinem Kopf wirbeln die Gedanken umher, wer gleich hereinkommen wird. Doch keiner davon sieht eine schmale, junge Frau heraus, die in ihrem weißen Arztkittel beinahe noch seriös aussieht. Bis auf die zartlila gefärbten Haare, die sie in einem lockeren Flechtzopf trägt - ansonsten verrät nichts ihre Zugehörigkeit zum Kapitol.
In der nächsten Sekunde trifft ihr Blick den meinen und sie lächelt. „Wie schön, du bist wach." Sie erwartet wohl, dass ihr ihrer Freundlichkeit traue, doch wohl kaum.
„Warum haben Sie mich hierher gebracht? Ich bin eine Siegerin, mein Zuhause ist in Distrikt vier. Was gibt Ihren Friedenswächtern das Recht, mich zu verschleppen?"
Anstatt mir zu antworten zückt die junge Ärztin - sie kann nicht viel älter sei als ich - eine kleine Taschenlampe und leuchtet damit ohne Vorwarnung in meine Augen. „Gut", murmelt sie. „Sieht aus, als wäre alles in Ordnung."
Sie steckt das Lämpchen wieder weg und ich starre sie entgeistert an. Noch immer scheinen sie meine Worte nicht im geringsten zu kümmern. „Schön, ich schicke dir gleich Rosana herbei, sie wird sich um dich kümmern, solange du bei uns bist."
„Wie lange ist das?" entfährt es mir und zum ersten Mal zeigt die junge Ärztin eine Reaktion. Ihre hellgrauen Augen sehen mich an und werfen mir einen traurigen, ja, fast schon mitleidigen Blick zu.
„Solange, bis du geheilt bist."
Ihre Worte jagen mir solch eine Angst ein, dass ich kein Wort mehr herausbringe, selbst, als die Kapitolsärztin wippenden Schrittes das Zimmer verlässt. Nervös sinke ich auf das Kissen. Erst jetzt spüre ich, dass meine Hände die ganze Zeit über zu Fäusten geballt waren. In der unheimlichen Stille dieses Gefängnisses wünsche ich mir fast schon Lahela zurück, nur, um nicht alleine zu sein.
Doch lange warte ich nicht, denn nur nach ein paar Minuten öffnet sich die Tür schon wieder - und meine neue Besucherin ist weit weniger zurückhaltend als die Erste. Von ihrem himmelblauen Haar, über die farblich passende Bluse bis hin zu ihren silbernen Schuhen sieht sie beinahe aus wie Saphire.
Obwohl ich die Betreuerin unseres Distrikts noch nie leiden konnte, wirkt selbst deren aufgesetztes Lächeln im Gegensatz zu dem meines Gegenübers um eine ganze Ecke freundlicher.
„Hallo Librae!", Sie lacht albern. „Ich bin Rosana und ab sofort deine emotionale Beraterin! Sonst arbeite ich selten mit Siegern, aber manche von ihnen brauchen eben besondere Zuwendung."
Da ich nichts sage, fährt sie fort.
„Du erinnerst dich vielleicht nicht, aber nach Jinias Tod hast du einen ... Ausfall gehabt. Zu deinem Schutz - und dem der anderen - bist du jetzt hier in unserer Station für Verhaltenstherapie."
Bei der Erwähnung Jinias zucke ich heftig zusammen. Entgeistert starre ich die seltsame Frau an, unfähig, ihre Worte zu begreifen. Jinias Tod ist nun mehr als zwei Jahre her - wenn es stimmen würde, was sie sagt, dann hätten sie mich schon viel früher hierher gezerrt, um ... was auch immer mit mir anzustellen. Ihre Worte scheinen also bloß eine eiskalte Lüge zu sein, die mich davon abhalten soll, etwas gegen meine Anwesenheit hier einzuwenden.
Außerdem - ich erinnere mich an alles. An Jinias letzten Atemzug, das Messer, das in ihrer Brust steckte und an jeden Schrei, der meine Kehle verlassen hat. Trotzdem sage ich es Rosana nicht. Es geht sie nichts an, beschließe ich.
„Keine Sorge, wir sind Spezialisten. Präsident Snow höchstpersönlich hat uns heute Morgen die Order gegeben, dass den Siegern nur die beste Behandlung zuteil wird."
Mein Herz macht einen Satz. Anhand meines erschrockenen Blicks erkennt die Ärztin wohl, dass sie einen Fehler gemacht hat. Nervös lacht sie auf und blickt zur Seite, damit sie mich nicht weiter ansehen muss.
Den Siegern... Heißt das, ich bin nicht die einzige von uns, die hierher verschleppt wurde? Befinden sich womöglich direkt neben mir Rivenna, Sohail und Annie, bloß abgetrennt durch eine Wand? Vielleicht auch Sieger aus anderen Distrikten? Oder ... Sieger aus der Arena? Was ist, wenn sie Finnick aus den Spielen hierher gebracht haben?
„Du wirst schon sehen, bald bist du wieder auf den Beinen." quietscht Rosana und reißt mich damit aus den Gedanken. Mit einem Scharren zieht sie Lahelas Stuhl heran. Nervös mustere ich sie. Was wir sie jetzt mit mir anstellen? Mich unter Drogen setzen, bis ich alles vergesse?
„Da die Spiele vorüber sind und du dieses Jahr nicht als Mentorin eingesprungen bist, haben wir massenhaft Zeit. Es tut mir leid, aber die Tage der sanften Methoden sind vorbei. Wir müssen uns deinen Ängsten stellen."
Während sie spricht, zieht sie ein kleines Gerät hervor. Auf einen Knopfdruck hin erwacht die weiße Wand gegenüber meines Bettes sprichwörtlich zum Leben. Es stellt sich heraus, dass sie in Wirklichkeit eine geschickt verborgene Leinwand ist. Wo bis eben vermeintlich weißer Putz war, schimmert mir jetzt das Wappen das Kapitols entgegen.
Ich presse die Lippen fest aufeinander. Wird sie jetzt enthüllen, was geschehen ist, während ich ohnmächtig war? Zeigt sie mir womöglich Aufnahmen von Zuhause, von Atala oder den Kindern, wie sie sich vor den Soldaten des Kapitols verstecken? Nichts davon trifft zu.
Auf der Leinwand zeichnet sich im nächsten Moment zwar der Versammlungsplatz von Zuhause ab, doch irgendwas ist anders als sonst. Nachdenklich starre ich auf die Szene, die mir gezeigt wird: die Bewohner von Distrikt vier stehen ordentlich aufgereiht vor der hölzernen Bühne, auf der mehrere Friedenswächter positioniert sind.
Dunkle Wolken verdüstern den Himmel hinter den Regierungsgebäuden und dicke Regentropfen prasseln unaufhörlich auf den Boden. Was merkwürdig ist, sind die Schemen der wenigen Bäume, die in weiter Ferne hinter einem der Justizgebäude stehen.
Ich habe sie erst vor wenigen Stunden noch gesehen - passend zur Jahreszeit haben ihre Blätter in einem satten Grün geleuchtet. Auf dieser Aufnahme jedoch wächst kein einziges Blatt an einem der Bäume - stattdessen ragen diese dunkel und kahl wie Skelette hinauf in den düsteren Himmel. Schnell wird mir klar, dass die Aufnahme wohl aus der Vergangenheit stammen muss.
Obwohl ich nicht weiß, was kommt, versteifen sich meine Muskeln. Von der Seite her betrachtet mich die Ärztin prüfend und pausiert dann die Aufnahme.
„Gemeinsam werden wir in den nächsten Tagen, nennen wir es - traumatische Ereignisse - in deinem Leben durchgehen, Stück für Stück. Sobald du eine Attacke hast, werden wir einen Gegenimpuls schicken."
Ich beiße die Zähne noch fester zusammen - sofern das überhaupt noch möglich ist. Doch Rosana scheint das nicht zu interessieren, denn sie führt ungerührt damit fort, mir kleine Metallplättchen an Schläfen und Handgelenk zu kleben.
Ich betrachte sie skeptisch, doch ich wage es nicht zu fragen, wozu sie dienen. Zum Schluss zwingt sie mir ein merkwürdiges Gummistück in den Mund, das meine Zunge nach unten drückt, egal, wie sehr ich dagegenhalte.
„Gut, dann legen wir los!" piepst die Betreuerin in einer Stimme die so fröhlich klingt, als wollten wir zu einem Picknick losziehen. Erneut schaltet sie die Aufnahme ein. Kurzzeitig bin ich versucht, einfach die Augen zu schließen, doch dann fällt mir ein, dass sie mich dafür vermutlich bestrafen würde.
Einige Sekunden lang starre ich auf die Szene, die sich mir bietet. Die Kameraperspektive wechselt kein einziges Mal, daher vermute ich, dass es eine einfache Aufnahme aus den Archiven des Kapitols sein muss, die nicht irgendwo im Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Zunehmend nervöser starre ich auf die Leinwand - der prasselnde Regen, der düstere Himmel, die gesichtslose Menge, die vor der Bühne steht - bis mein Herz einen gewaltigen Satz macht. Denn mit einem Mal habe ich begriffen, um was für eine Szene es sich vor mir handelt. Es ist keine Aufnahme, sondern viel mehr eine Erinnerung. Eine der schlimmsten Erinnerungen meines Lebens.
Durch den Regenvorhang hindurch werden zwei Gestalten von den Friedenswächtern hinauf auf die Bühne gezerrt. Und es sind nicht irgendwelche Gestalten - es sind Mariel und Saruk Olgivy. Die Menschen, die mich auf die Welt gebracht, mich das Sprechen und das Schwimmen gelehrt und mich dreizehn Jahre lang großgezogen haben. Meine Eltern. Meine Eltern, die in wenigen Sekunden in sich zusammenklappen werden, erschossen von den Friedenswächtern.
Panisch richte ich mich auf und blicke zwischen der Leinwand und Rosana hin und her, die seelenruhig auf ihren Stuhl neben mir sitzt. „Was soll das?" bringe ich unter dem Gummistück in meinem Mund hervor, doch die Betreuerin lächelt nur seltsam.
„Es wird alles gut, du wirst schon sehen."
Nichts wird gut. Im nächsten Moment treten zwei Friedenswächter hinter meine Eltern und zwingen die beiden auf die Knie. Ich balle meine Hände zu Fäusten, doch das macht es nur noch schlimmer. Im nächsten Moment erklingt ohrenbetäubend laut ein Donnerkrachen - und es übertönt die zwei Schüsse, die in der selben Sekunde fallen.
Meine Mutter und mein Vater sacken in sich zusammen und unmittelbar darauf blicke ich direkt in die Augen von zwei Toten. Eigentlich dachte ich, damals wäre es das letzte Mal gewesen, dass ich sie sehen werde, sie und den angsterfüllten Blick in ihnen.
Ein Knoten schnürt mir die Kehle zu, obwohl ich am liebsten ihre Namen schreien möchte, sie zu mir zurückholen will. In meinem Inneren entfesselt sich der Sturm von damals von neuem, der Sturm, der mein dreizehnjähriges Ich gebrochen hat. Trauer, Furcht und Wut wirbeln durch mich, rasen mir die Kehle hinauf und entladen sich trotz des Gummistücks im Mund in einem einzigen, langgestreckten Schrei.
Als er endlich verklingt, liege ich schweißüberströmt da, das Rauschen von Blut in den Ohren. Die lächerliche Psychologin sitzt still an meinem Bett und betrachtet mich ausdruckslos. Auf der Leinwand ist der Moment der Tode meiner Eltern eingefroren, zwei zusammengesackte Gestalten, der eine mit meinem dunklen Haar und die andere mit meinen unterschiedlich leuchtenden Augen. Sie liegen in einem See aus Blut.
Bei diesem Anblick versucht ein erneuter Schrei aus mir hervorzubrechen, doch meine Kehle scheint wie zugeschnürt und mir entkommt nichts außer eines jämmerlichen Wimmerns.
„Librae, du wusstest, was passieren würde.", meldet sich Rosana zu Wort. „Und trotzdem schaffst du es nicht, diese Szene anzusehen. Was fühlst du, wenn du diese Aufnahme siehst?"
Erwartungsvoll sieht sie mich an. Verbittert wende ich mich ab. Alles empfinde ich, einfach alles. Da ich keine Antwort hervorbringe, spult die „emotionale Beraterin" die Szene zurück. Wieder werde ich Zeugin vom Tod meiner Eltern. Tränen strömen mir über die Wangen, als die Ärztin erneut einen Knopf auf ihrer Fernbedienung drückt.
Die Szene stoppt jedoch nicht. Stattdessen schießen gleitende Schmerzen durch meine Glieder und ich weiß nicht mehr, ob es Laute der Trauer oder der Qual sind. Dafür waren die Metallplättchen also gedacht. Jeder Nerv steht in Flammen. Ich werfe mich gegen die Fesseln - ohne Erfolg.
„Lass deine Gefühle gehen!" verlangt Rosana herrisch. Wieder lässt sie die Szene abspielen. Ein krachender Donnerschlag und die Leben meiner Eltern enden zum vierten Mal, auch, wenn ich die Augen im letzten Moment fest verschließe. Derselbe Schmerz rast erneut durch meinen Körper.
„Was empfindest du?" Voller Ungeduld feuert sie die Worte auf mich ab und drückt im gleichen Atemzug schon den Wiederholungsknopf. Das Geräusch vom Tod meiner Eltern, das heftige Donnergrollen, klingelt mir in den Ohren, ich will meine Hände auf sie drücken, doch die Fesseln schneiden nur schmerzhaft in die Gelenke ein.
Schon will ich wieder frustriert schreien - da halte ich inne. Meine brennende Kehle scheint von Muschelsplittern erfüllt zu sein, doch dieser Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem Feuer, was die Psychologin durch mich schickt. Mir wird klar - wenn ich will, dass er aufhört, dann muss auch ich aufhören.
Mit letzter Kraft wehre ich mich gegen den Schrecken, der mich durchführt, als meine Eltern zu Boden fallen. Gerade so schaffe ich es, nicht erneut in die Wogen zu gleiten. Die Sicht verschwimmt vor meinen Augen, doch ich bin nicht ohnmächtig. Verschwitzt liege ich auf dem Rücken und lasse die Szene erneut über mich ergehen, ein Mal, zwei Mal, drei Mal - und dann funktioniert es.
Etwas anderes rast durch meine Adern und löscht das Feuer der Schmerzen aus. „Schön, schön." höre ich Rosana murmeln.
„Das kriegen wir so langsam in den Griff. Alles eine Frage der Dosis. Jetzt sind die Schmerzen weg, nicht wahr?"
Ich horche in mich hinein und tatsächlich verschwindet alles wieder hinter einer dicken Decke aus Gleichgültigkeit. Langsam nicke ich. „Gut. Dann ruhe dich jetzt aus." Scharrend schiebt sie den Stuhl zurück. Ihre klappernden Absätze entfernen sich und dann fällt die Tür hinter ihr ins Schloss, noch im selben Moment, als meine Augen zuklappen.
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