12 | Wendepunkt
„Guten Tag meine Damen und Herren, raus aus den Federn! Es wartet ein weiterer spannender Tag in den 75. Hungerspielen auf uns! Mehrere Stunden sind schon um und gerade dürfen wir die letzten Tribute dabei beobachten, wie sie einander jagen. Falls Sie sich fragen, was mit unseren restlichen Siegern geschehen ist - es war eine ereignisreiche Nacht! Lassen Sie uns die Highlights noch einmal anschauen. So viel kann ich ihnen schon einmal sagen: Die Karten wurden neu gemischt, spätestens seitdem unsere beiden Bündnisse Verluste gemacht haben - wenn auch unterschiedlich schwere ... Aber sehen Sie selbst, was die letzten Stunden alles passiert ist..."
Das alltägliche Mittagsfernsehen plärrt unentwegt vor sich hin. Ein hektischer Caesar Flickerman lacht schrill, während er zusammenfasst, wie sich das Bündnis rund um Katniss gegen Vormittag Johanna, Beete und Wiress anschließt, sie wenig später das Stundentakt - System der Arena begreifen und schließlich von den Karrieros angegriffen werden. Mags' Tod in der Nacht zuvor wird beinahe ganz weggelassen.
Nur kurz kommentiert Caesar mit einem gespielt mitleidigen Gesichtsausdruck, wie unsere Siegerin in den giftigen Nebel läuft.
Schnell haste ich aus dem Wohnzimmer, damit es mir nicht gleich hochkommt. Zu sehen, wie fürchterlich gleichgültig die Moderatoren über Mags' Leben reden, als wäre es wertloser als eine zertrümmerte Muschel, ist reinste Folter.
In der Küche angekommen, wird die eintretende Stille vom fernen Zwitschern der Vögel abgelöst. Langsam lichtet sich der Schleier böser Gedanken, der mich die letzten Stunden fest im Griff hatte. Wackelig stolpere ich zum Fenster über der Theke hinüber und öffne es. Eine angenehm warme Sommerbrise streicht mir über die Haut. Tief atme ich ein.
Vom Fenster aus bietet sich ein perfekter Anblick über die ordentlich aneinandergereihten Siegerhäuser und -gärten um uns herum. Im letzten morgendlichen Nebel sind die hinteren Villen von Finnick, Annie und Sohail noch kaum zu erkennen, doch zumindest eine der grauen Hauswände baut sich gut sichtbar nur wenige Meter von unserem Küchenfenster aus auf.
Es ist das Haus von Mags. Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken, als ich realisiere, dass es nun vermutlich für immer leer stehen wird. Bevor mich ein erneuter Panikanfall überkommt, lasse ich meinen Blick weiter wandern, in den Garten ihres Siegerhauses. Zwischen den vielen wilden Blumen und Büschen hat sie immer gekniet, ein buntes Tuch um die Haare geschlungen, und öfters ein paar kleine Pflänzchen geerntet.
Doch nun werde ich diesen Anblick nie wieder haben können - stattdessen wird mich das unangenehm stille Anwesen von nun an bloß für immer an Mags' Abwesenheit erinnern. Seufzend winke ich Rivenna zu, die in diesem Moment über den gepflasterten Weg im Vorgarten, ins Haus unserer alten Mentorin schreitet und ein paar Sekunden später mit einem Karton wieder herauskommt.
Schon seit ein paar Stunden sind sie, Sohail, Annie und ich dabei, die wenigen Sachen, die einmal Mags gehört haben, aus ihrem Haus zu räumen und vorerst bei uns unterzubringen. Zuvor mussten wir eine Horde Friedenswächter mehrmals davon abhalten, die Besitztümer der alten Dame einfach abzuholen und zu verschrotten.
„Guten Morgen" ertönt plötzlich eine Stimme hinter mir und ich erschrecke so sehr, dass ich direkt herumfahre. Rayam und Alani sitzen am hölzernen Küchentisch und sehen zu mir auf. Ich versuche ein Lächeln, doch irgendwie rutscht es mir gleich wieder von den Lippen.
„Morgen ist es nun wirklich nicht mehr." murmele ich schwach und die zwei grinsen.
„Komisch, dass du das sagst. Wie ein Geist bist du hier reingeschleiert. Hast nicht einmal bemerkt, dass Alani und ich hier schon die ganze Zeit saßen." lacht Rayam mir zu.
Unangenehm berührt sehe ich die zwei an und schüttele den Kopf, als könnte das irgendetwas bewirken.
„Tut mir leid ihr beiden. Ich ... Es ist viel los gerade." bringe ich hervor und sehe die zwei aufmunternd an.
„Ist schon okay, Mom." meint Alani, während sie ihre schwarzen Locken zu einem Dutt bindet.
Mit einem Mal steht Rayam auf, schiebt seinen knarzenden Stuhl beiseite und tapst zum Ofen, der zwischen den vielen glänzenden Schränken und Schubladen an der Küchenwand angebracht ist. Kaum hat er den Ofen geöffnet, dringt ein wunderbarer Duft in die Küche. Gekonnt löst der Vierzehnjährige einen Laib frischgebackenen Brotes aus einer Form.
Schnell machen Alani und ich ich uns daran, Besteck und Teller für uns drei herzurichten, während Rayam das Brot in dicke Scheiben schneidet. „Heute habe ich mal ein neues Rezept ausprobiert.", erzählt er fröhlich und völlig belanglos. „Vielleicht erratet ihr ja dieses Mal die Geheimzutat."
Alani verdreht grinsend die Augen. „Mal ehrlich, Rayam, du benutzt seit Jahren immer die gleiche. Da komme selbst ich inzwischen drauf und ich bin in puncto Kochen, in deinen Worten, ja völlig talentfrei."
Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus bei dem Klang des Lachens der beiden. Das ist wohl einer der Gründe, warum ich die zwei so gerne um mich habe. Wo Atala, Willow oder ich oft nur sehr wortkarg sind, schaffen es Rayam und Alani das ganze Haus mit Leben zu füllen - egal, wie schwer die aktuelle Lage auch sein mag.
Wir essen die noch warmen Brotscheiben am ausladenden Tisch, und einigen uns darauf, noch eine gute Menge für Atala und Willow übrig zu lassen, wenn sie nachher von der Arbeit zurückkommen. Da das Mindestalter für die Hochseefischerei vor ein paar Monaten ja gesenkt wurde, müsste eigentlich auch Rayam heute raus aufs Meer fahren und seinem Dienst für den Distrikt nachgehen.
Doch während der Hungerspiele ist es üblich, dass nicht alle Bewohner den ganzen Tag lang arbeiten müssen - dem Kapitol ist es wichtiger, dass sie sich die Spiele ansehen. Und gerade jetzt, wo unsere Sieger in der Arena sind, kann es nicht mehr lange dauern, bis die Friedenswächter Atala und Willow zurück nach Hause und vor den Fernseher schicken.
„Mom, was hältst du davon, wenn wir neben den Kräutern noch einige Erdbeeren draußen im Garten anpflanzen? Dann könnten wir Erdbeerkuchen backen." schlägt Alani mit einem Mal vor und reißt mich aus meinen Gedanken.
Trotzdem noch ein wenig abwesend gleitet mein Blick wieder aus dem Fenster auf unseren und Mags' Garten. In den letzten Jahren hat jeder einzelne Sieger geholfen, in jedem unserer Gärten etwas in den Beeten anzubauen. Mit der Zeit sind ist aus jeder unangenehm perfekten Grasfläche ein schönes Durcheinander an Obst und Kräutern erwachsen.
Mein Blick bleibt bei einer lila Flieder hängen, die an der äußersten Ecke des Gartens wächst. Ich habe ihn vor ein paar Jahren hier gemeinsam mit Mags gepflanzt. Mags. Ich spüre einen Stich in meinem Herzen und blicke schnell weg.
Eine warme Hand legt sich auf die meine und als ich aufsehe, blicken mich Rayam und Alani aus traurigen Augen an. Sie sind zwar noch jung und auch oft in schweren Zeiten guter Laune, doch sie sind nicht blind. Sie wissen, was vor sich geht.
„Tut uns leid, Mom." murmelt Alani traurig und ihr Bruder fügt hinzu: „Wir vermissen Mags auch schrecklich. Aber ich glaube, sie hätte von uns allen gewollt, dass wir weitermachen. Irgendwie."
Seufzend lächle ich den beiden zu. Ich nicke, während meine Augen feucht werden. „Die Erdbeeren sind eine gute Idee." entgegne ich kaum hörbar. Erfreut lächelt Alani mir zu und steckt mich damit an. „Dann hole ich nachher am besten welche auf dem Markt. Dürfen wir heute Nachmittag mit Willow hin?" fragt sie und ich nicke ihr zu.
„Klar." antworte ich. Obwohl der Markt lärmig und überfüllt ist, bin ich zugestanden doch gerne mal unter den Leuten. Gerade jetzt ist eine gute Gemeinschaft unter uns Bewohnern immer wichtiger, den Worten vom zurückliegenden Treffen der Letzten Welle nach zu urteilen.
Doch heute will ich die Kinder nicht begleiten, und ich glaube das werde ich auch nicht mehr tun können, bis die Hungerspiele vorbei sind. Ich kann nicht einfach weitermachen, während, jetzt nur noch Finnick, in der Arena sein Leben für uns alle riskiert. Und außerdem will ich wissen, ob der Plan der Letzten Welle gelingen wird.
Aus Geheimhaltungsgründen wissen selbst wir Sieger kaum etwas darüber, wie die Rebellen gemeinsam mit Distrikt dreizehn den Spottölpel aus der Arena befreien wollen. Ich vermute, die im Kapitol postierten Anhänger wissen einiges mehr darüber und das macht mich umso nervöser.
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Der Tag neigt sich schnell dem Ende zu und wie erwartet kommen Willow und Atala bald zuhause an. Obwohl meine älteste Tochter eigentlich genau wie ich die Übertragung aus der Arena verfolgen will, bekomme ich sie doch dazu überredet, mit ihren Geschwistern nach dem Abendessen runter zum Markt zu gehen. Von den Grausamkeiten in der Arena sollen sie am besten so wenig wie möglich mitbekommen.
Zu später Stunde trudeln schließlich auch die restlichen Sieger bei uns zuhause ein, wir haben uns darauf geeinigt, die Nachtstunden der Übertragung von nun an gemeinsam zu verfolgen. Nervös drängen Rivenna, Sohail, Annie, Atala und ich uns auf unser Sofa und die umstehenden Sessel.
Als der Fernseher schließlich von alleine zum Leben erwacht, müssen wir fast zeitgleich über unsere Nervosität lachen. Doch als die ersten Aufnahmen aus der Arena gezeigt werden, verstummen jegliche Geräusche schnell wieder. Nervös klammere ich mich an Atala, die neben mir auf der Sofalehne sitzt.
Ich spüre, wie sie Blicke über uns Sieger schweifen lässt, während wir die Übertragung haargenau verfolgen. Sie kennt die Tribute in der Arena zwar durch mich auch relativ gut, doch wir Sieger selbst haben über Jahre die schlimmsten Stunden miteinander verbracht. Zwischen uns Siegern aus den verschiedenen Distrikten herrscht auf keinen Fall Freundschaft - das hat sich in den letzten Tagen in der Arena deutlich gezeigt - doch trotzdem habe ich das Gefühl, dass etwas besonderes zwischen uns liegt.
Genau so zeigt es das Bündnis rund um Katniss - eine völlig seltsame Kombination aus völlig unterschiedlichen Menschen. Die zornige Johanna, der intelligente Beete, der beschützerische Finnick und dann ein offenbares Liebespaar aus Distrikt zwölf, von dem beide gerade einmal siebzehn Jahre alt sind.
Schnell wird klar, das Beetee in der Arena gerade wohl einen genialen und zugleich grausamen Plan geschmiedet hat. Sohail begreift am schnellsten und fasst für uns zusammen: „Ich glaube, er will die Blitze, die alle zwölf Stunden in den einen Baum im Zentrum der Arena einschlagen, mit diesem Draht in den nassen Sand lenken und damit die Karrieretribute ausschalten."
Erst glaube ich garnicht, was mein Nachbar da erzählt, doch schnell wird mir klar, dass er richtig verstanden hat. Der Ingenieur aus Distrikt drei schickt Johanna und Katniss los, um einen Draht zu verlegen. Adrenalin schießt durch meinen Körper, als die Kameras zeigen, wie sich mit einem Mal Enobaria und Brutus den beiden Siegerinnen nähern - und Johanna Mason handelt.
Mit einem Mal schlägt sie mit ihrer Axt auf Katniss ein, doch verletzt diese dabei nur am Arm. Mit pochendem Herzen sehe ich dabei zu, wie sie den Spottölpel anbrüllt, liegenzubleiben und keine Sekunde später verschwindet, von Enobaria und Brutus verfolgt. Völlig verwirrt stürzt Katniss zurück in Richtung des Baums, während sich am Himmel der Arena immer dunklere Wolken ansammeln.
Als Katniss schließlich völlig außer Atem am Baum angekommen ist, findet sie Beetee, der offenbar bewusstlos am Boden liegt. Doch uns bleibt keine Zeit mehr, über den Zustand des Siegers zu reden, denn mit einem Mal schalten die Kameras auf jemand anderes. Finnick.
Es ist regelrecht zu spüren, wie sich die ganze Gemeinschaft in unserem Wohnzimmer aufrichtet und ihre Augen jetzt noch fester in den Fernseher bohrt. Ich spüre, wie Atala neben mir zu zittern beginnt, als Katniss unseren Freund ausmacht und ohne zu zögern ihren Pfeil direkt auf die Höhe seines Herzens richtet.
Für einen kurzen Moment lang ist es sowohl in der Arena als auch hier ganz still - man könnte die Fische husten hören. Gebannt starre ich auf den Bildschirm, dessen Licht nun beinahe erloschen ist. Gerade sieht es so aus, als wolle Katniss ihren Pfeil auf Finnick abfeuern, da hält sie mit einem Mal inne. Denn unser Sieger ruft ihr etwas zu.
„Erinnere dich daran, wer der wahre Feind ist!"
Worte, die die Welt bedeuten. Langsam lässt Katniss ihren Pfeil sinken, im selben Moment, als das erste Donnergrollen über den zweien ertönt. „Das wird dem alten Snow ganz und garnicht gefallen." höhnt Rivenna, doch mir ist ganz und garnicht nach Lachen zumute. Ein ungutes Gefühl macht sich zunehmend in mir breit. Irgendwas sagt mir, dass etwas nicht stimmt.
„Was macht sie da?" murmelt Sohail von seinem Sessel aus und schon folge ich seinem Blick wieder zurück auf den Bildschirm. Und mein Herz macht einen erneuten Satz, als Katniss plötzlich Beetes Draht um ihre Pfeilspitze zu wickeln beginnt. Nervös blicke ich auf die eingeblendeten Ziffern am unteren Bildschirmrand, die uns Zuschauer über die Uhr in der Arena und über das Eintreten ein jeden Horrors auf dem Laufen halten - in wenigen Sekunden wird der Blitz in den Baum einschlagen. Und dann ist es soweit.
Drei. Katniss spannt ihren Pfeil ein.
Zwei. Sie richtet ihn genau auf die Höhe des Kraftfelds, das die Arena umgibt.
Eins. Sie schießt.
Ich schlage mir die Hände auf die Ohren und mache mich auf einen ungeheurem Knall gefasst - doch nichts geschieht. Denn im nächsten Moment geht sämtliches Licht in unserem Haus aus - und der Bildschirm wird schwarz.
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