11 | Eiseskälte
Das nächtliche Arenafernsehen läuft unentwegt vor sich hin. Es sind die wenigen Stunden der Hungerspiele, in denen bloß Livestreams aus der Arena gezeigt werden und kein lachender Caesar Flickerman übermütig kommentiert, was vor sich geht.
Vielleicht ja gerade deswegen hat mich die seltsame Stille, die von unserem Fernseher kommt, aus dem Schlaf gerissen. Die Übertragung ist so leise wie möglich geschaltet, doch trotzdem dringen die Geräusche der Arena aus dem Wohnzimmer in den Flur, die hölzerne Treppe hinauf und schließlich unter der Schlafzimmertür hindurch.
Lautlos bin ich aus dem Bett gekrochen und in ein paar komfortable Klamotten geschlüpft, bevor ich durch die dunklen Flure des Hauses in Richtung Wohnzimmer geschlichen bin. Ich bin froh, weder Atala noch einen der Kinder geweckt zu haben, denn trotz der bedrängenden Dunkelheit genieße ich die Ruhe auf dem breiten Sofa ein wenig.
Trotzdem wird mir zunehmend unwohl, während ich auf den leuchtenden Fernseher starre. In der Arena ist momentan alles ruhig - selbst das Karrierobündnis rund um Cashmere, Gloss, Brutus und Enobaria scheint sich im dunklen Dickicht des Dschungels zumindest ein paar Stunden Schlaf erlaubt zu haben. Trotzdem habe ich das Gefühl, das etwas nicht stimmt.
Mein Herz macht einen Satz, als schließlich auch wieder das Bündnis rund um Katniss gezeigt wird. Sie und ihre drei Verbündeten haben sich unter dem Schutz einiger dicker Bäume ein Nachtlager errichtet. Sie sind ausgestattet mit mehreren Grasmatten, die Finnick und Mags gewebt haben und die das Team vor der Witterung und vor Krabbeltieren auf dem Boden schützen.
Einige Minuten lang bleibt es ruhig und auch ich werde allmählich wieder entspannter. Vielleicht bin ich wirklich nur aus Zufall aufgeweckt und habe mir vor Sorge um unsere Freunde wie damals bei Jinia verboten, auch nur an Schlaf zu denken.
Doch in dem Moment, als ein furchtbarer Schmerzensschrei erklingt, schrecke ich auf. In wenigen Sekunden wird mir klar, was in der Arena vor sich geht - ein offenbar giftiger Nebel ist durch das dunkle Dickicht des Dschungels auf das Bündnis zugekrochen, so unbemerkt, dass die vier schlafenden Tribute seine verheerende Wirkung erst viel zu spät realisieren.
Binnen Sekunden hat Katniss die anderen geweckt und schon stürzen die vier in die Dunkelheit davon. Reflexartig gräbt sich meine Hand tiefer in das Sofakissen - denn die Tribute kommen kaum vorwärts. Katniss zerrt Peeta hinter sich her, der von dem Zusammenstoß mit dem Kraftfeld vor wenigen Stunden noch immer geschwächt ist und Finnick trägt Mags um seine Schultern, genauso, wie wir es im Training geübt und vorbereitet haben.
Schon bald gehen den vier Siegern die Kräfte aus. Mein Herz schlägt viel zu schnell gegen meine Brust, als die Kameras ihren Sprint durch den undurchdringlichen Dschungel haargenau verfolgen. Schließlich tauschen Katniss und Finnick und sie trägt Mags und er Peeta.
Doch trotzdem bekommt gerade Katniss immer mehr von dem giftigen Nebel ab. Es bricht mir das Herz zu sehen, wie winzig Mags sich um ihren Rücken zusammenrollt, um so leicht wie möglich für die junge Siegerin zu sein. Katniss kann sich wohl nicht eingestehen, dass sie unsere Tributin nicht länger tragen kann und dass diese sie nur aufhält - doch Mags selbst kann es.
Katniss stolpert über eine Wurzel, kracht zu Boden und schon umhüllt sie der giftige Nebel. Kreischend rappelt sie sich wieder auf und will Mags wieder aufhelfen - doch die macht keine Anstalten, sich wieder von dem Spottölpel tragen zu lassen. Die Kameras schalten wieder auf Peeta und Finnick - auch sie halten inne.
„Mags!" schreit Finnick unserer ehemaligen Mentorin zu, doch die alte Frau schenkt ihm bloß ein wehmütiges Lächeln, während die weißen Nebelschwaden sie bereits fast erreicht haben. Finnick setzt Peeta ab, stolpert zurück auf sie zu, doch bevor er auch nur irgendetwas tun kann, drückt Mags ihm einen Kuss auf die Stirn und schließt ein letztes Mal ihre winzige Hand um die seine.
Ich schnappe nach Luft, als unsere Mentorin sich daraufhin umdreht und schließlich - direkt in die tödliche Nebelwand stapft, die sich hinter den Tributen aufbaut. „Mags!" schreie ich den Fernseher und Finnick seine Mentorin an - doch es ist zu spät. Ein donnernder Schlag der Kanone hallt durch die gesamte Arena und nimmt mir die Luft.
In dem Moment, als Finnicks furchtbarer Schrei nach ihr erneut erklingt, zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Mein Hemd klebt mir mit einem Mal eiskalt am Rücken und die Decke hat sich eng um meine Beine gewickelt. Ich keuche und versuche eilig, den Stoff von mir zu streifen, doch meine Hand zittert so sehr, dass ich mich nicht befreien kann.
Unwillkürlich treten Tränen in meine Augen. Der Fernseher und auch das gesamte Wohnzimmer verschwimmt in meiner Sicht. Immer schmerzhafter und unausweichlich schleicht sich der Gedanke in mein Bewusstsein. Mags ist tot. Mags, die Mentorin, die damals in meinen Hungerspielen an meiner Seite stand. Mags, die ich jeden Tag von unserem Küchenfenster aus in ihren Vorgarten beobachten konnte. Mags, die ein jeder von uns Siegern vom ersten Moment an und für immer ins Herz geschlossen hat.
Mit einem erstickten Keuchen sinke ich zurück auf das Sofa, das Kissen mit beiden Händen fest über den Kopf gedrückt. Ich will nicht schreien. Doch in meinem Kopf ist er er wieder da - der Schmerz. Die Narbe ist wieder offen, die tiefe Narbe, die entstand, als Mom und Dad erschossen wurden und die nach Alines und Jinias Toden wieder aufgerissen ist.
Unheilvoll öffnen sich die Tiefen meines Geistes und reißen mich in ihren Strudel. Irgendwie krümme ich mich zusammen, obwohl die Decke in meine Haut einschneidet und mir das Kissen den Atem nimmt. Mein Herz rast in der Brust. Warum schmerzt es so sehr? Insgeheim war uns doch allen von Anfang an klar, dass sie in der Arena sterben würde - doch nun ist der Schmerz darüber unbegreiflich.
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Langsam steige ich die hölzernen Stufen der Treppe hinauf, die zu den oberen Zimmern unseres Siegerhauses führt. Der breite Flur oben wird bereits seit Stunden wieder von strahlendem Sonnenlicht durchflutet, doch trotzdem ist mir kalt. Schon stehe ich vor der Tür, die zu Willows und Jinias ehemaligem Zimmer führt.
Zaghaft klopfe ich an das massive Holz der Tür. „Willow? Du hattest nach mir gerufen?" frage ich. „Komm rein" tönt es gedämpft hinter der Tür und schon drücke ich die Klinke nach unten. Kaum habe ich das Zimmer betreten, umarmen mich seine Wärme und sein Licht. Jinias und Willows Rückzugsort war schon immer verhältnismäßig klein, doch die zwei haben ihn von Tag eins an mit Leben gefüllt.
Auch heute scheint das kleine lichtdurchflutete Zimmer noch immer genau so wie damals, als Willow und Jinia es gemeinsam bewohnt haben. Zwei große Betten stehen jeweils an den Wänden, das eine ist leer, auf dem anderen sitzt Willow, eine Gitarre über dem Schoß.
Sonst hat das Zimmer zum Ende hin eine runde Form, daher bietet ein großes Fenster mir gegenüber einen direkten Ausblick über die Klippen und auf die Küste in der Ferne. Die Wände sind in einem beruhigenden Dunkelblau gestrichen, doch davon ist kaum noch etwas zu erkennen. Lauter kleine Zeichnungen, vergilbte Seekarten, selbstgeschriebene Gedichte und Liedtexte, und unzählige Fotos von unserer Familie und gemeinsam von Willow und Jinia sind über und über an den Wänden angebracht.
So schwer es mir auch fällt, ich setze ein Lächeln auf, als ich auf Willow zukomme und mich schließlich neben ihr auf die Bettkante sinken lasse. Sie legt die alte Gitarre zur Seite, dann sieht sie zu mir auf. Wieder einmal klafft ein winziger Riss in meinem Herzen auf, als ich zurück in das Gesicht blicke, welches dem von Jinia mittlerweile so ähnlich geworden ist.
Die grünen Augen meiner Tochter erinnern noch immer so sehr an die Willow, die ich in meinen Hungerspielen damals verloren habe, genau so ihre hellen Locken. Und doch hat sich ihre Ausstrahlung sonst komplett verändert. Ich kann es kaum glauben, dass sie bereits fünfzehn und schon fast genauso groß wie ich ist. Seit Jinias Tod funkeln ihre Augen auf eine traurige und zugleich hoffnungsvolle Weise, wie ich es noch nie gesehen habe.
„Das mit Mags tut mir leid."
Es ist das Erste, was Willow seit dem Tod vor ein paar Stunden gesagt hat. Sofort spüre ich die Kälte, die sich wieder um mein Herz schnürt und das Brennen in meinen Augenwinkeln, wie immer, wenn sich Tränen ankündigen.
Ich bringe ein schmerzliches Lächeln hervor. „Schon gut. Uns allen war von Anfang an klar, dass ... dass sie eines Tages von uns gehen würde." wispere ich und doch habe ich das Gefühl, diese Worte haben kaum eine Bedeutung. Wie sollte so etwas einfaches auch so etwas komplexes wie einen Tod wiedergutmachen?
Abwesend wende ich meinen Blick von Willow ab und sehe stattdessen aus dem Fenster, wo am fernen Horizont das Meer glitzert. Eine Weile lang spüre ich den Blick meiner Tochter auf mir, bis sie schließlich wieder die Stimme erhebt.
„Das ist aber nicht der eigentliche Grund, warum ich dich bei mir haben wollte.", Ich sehe wieder zurück zu Willow und sehe sie fragend an. Daraufhin steht sie von ihrem Bett auf, wühlt eine Weile in der Schublade ihres hölzernen Schreibtisches herum und lässt sich schließlich wieder neben mir sinken, ein Stück Papier in der Hand.
„Hier", meint sie, während sie mir das Blatt reicht. Ich drehe das gelbliche Pergament um und erkenne, dass es bis zum Rand beschrieben ist. In einer fein säuberlichen Schrift sammeln sich dunkle Worte auf dem hellen Untergrund, und irgendetwas in mir sagt mir, dass sie etwas zu bedeuten haben.
Doch bevor ich sie lesen kann, spüre ich eine Berührung an meiner Hand. Schließlich ergreift Willow sie ganz und wartet, bis ich zu ihr aufsehe. „Das ist ein Brief von Mags, Mom." Unmittelbar halte ich inne. „Von Mags? Aber ..." beginne ich, doch Willow lächelt mir wehmütig zu.
„Sie hat ihn erst vor ein paar Tagen verfasst, kurz bevor sie ins Kapitol gereist ist. Ich glaube, jeder von euch Siegern hat so einen bekommen. Und sie ... sie hat deinen mir gegeben. Sie hat gesagt, ich solle ihn dir überreichen, wenn der richtige Zeitpunkt dafür gekommen ist. Und ich glaube ... der ist jetzt."
Eine ganze Weile lang blicke ich zwischen Willow und dem Brief in meinen Händen hin und her. Ich weiß, dass gerade sie Mags in den letzten Jahren sehr nahestand. Sehr oft haben die beiden gemeinsam Zeit im Garten der alten Siegerin verbracht, wo sie Blumen gepflanzt oder einfach nur miteinander geredet haben.
Jetzt erkenne ich auch die feine Handschrift, die Mags trotz ihrer zittrig gewordenen Hände noch immer perfekt beherrscht. Es wird einen Grund haben, warum sie den Brief verfasst hat und doch habe ich Angst davor, ihn zu lesen. Was, wenn seine Worte mir nur noch mehr Schmerzen zufügen?
Ein tränenschwerer Kloß bildet sich in meinem Hals und scheint mich in die Tiefe zu ziehen. Meine langjährige Freundin und Mentorin ist vor wenigen Stunden gestorben und doch halte ich jetzt einen Brief in der Hand, den sie noch lebend verfasst hat.
Willow scheint zu spüren, was in mir vorgeht. „Ich weiß, wie schmerzlich das ist. Ich glaube, Mags wusste das auch. Aber sie hat darauf bestanden, dass ich ihn dir gebe und vor allem, dass du ihn eines Tages lesen würdest. Und keine Sorge, ich habe nicht reingeschaut. Er ist allein für dich bestimmt."
Mit diesen Worten rückt Willow ein kleines Stück von mir weg, damit ich den Brief in Ruhe lesen kann. Ich werfe ihr einen dankbaren Blick zu, bevor ich wieder zurück auf das Pergament in meinen Händen blicke. Erneut verschwimmen die Worte vor meinen Augen, doch schnell wische ich die Tränen fort. Willow hat recht. Wenn Mags diesen Brief verfasst hat, dann schulde ich es ihr, ihn auch zu lesen. Egal, wie schmerzhaft seine Worte auch sein mögen. Also hole ich noch einmal tief Luft, dann beginne ich.
Liebe Librae,
wenn du diese Worte liest, dann bin ich nicht mehr unter euch. Ich weiß, dass mein Tod gerade dich tief treffen wird.
Du hast bereits so viel Leid erfahren in deinem Leben, Leid, welches ich und viele, viele andere sich nicht einmal ausmalen können.
Aber du bist sehr stark, Librae, das weiß ich. Deine Eltern, deine Schwester, Jinia, sie fehlen an deiner Seite jeden Tag, das spüre ich jedes Mal, wenn du zweifelst. Doch was euch und uns jetzt trennt, ist bloß die Zeit.
Sie ist wie Sand, sie rinnt uns durch die Hand, und doch ist sie das, was immer bleibt.
Aber ich verspreche dir, dass du mich niemals suchen musst.
Denn genau wie all die anderen, die du verloren hast, bin ich noch immer hier.
Die Menschen, die man verloren hat - ich finde, sie sind wie die Sterne am Himmel.
Du kannst sie nicht immer sehen, doch gerade in den dunkelsten Momenten sind sie für dich da.
Aber auch sonst weißt du, dass sie niemals fort sind. Manche Dinge währen eben ewig, selbst, wenn manche das anders sehen.
Trotzdem weiß ich, dass manche deiner Narben niemals heilen werden - aber das ist in Ordnung.
Solange die Wellen dein Boot nicht brechen werden, kannst du segeln,
weit, weit über den Horizont hinaus und dabei die mitnehmen, die dir am Herzen liegen.
Deshalb möchte ich dich bitten, nicht zu lange über meinen Tod zu trauern - ich weiß, dass du das kannst.
Weisheit mag nicht alles voraussagen - deine Zukunft und die Zukunft des Distrikts ist noch ungewiss.
Aber ich glaube, dass du deine Stärke von deiner Liebe zu Jinia, Willow, Rayam, Alani und Atala nimmst.
Wenn ihr es durch diese Zeit schaffst, dann kann euch nichts jemals mehr trennen.
Herausforderungen werden kommen und gehen wie die Wellen am Meer, doch du hast gezeigt, dass du das schaffen kannst.
Deshalb erinnere dich daran, dass wir alle, egal, ob tot oder lebendig, noch immer bei dir sind.
Distrikt vier wird immer einen Weg finden,
solange das Meer flüstert und solange wir zusammenhalten.
Deine Mags
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