06 | Die Auserwählten
Der Tag der Ernte ist wie beinahe jedes Jahr ein warmer Sommertag, an dem sich die Hitze noch unerträglicher anfühlt als ohnehin schon. Unpassend zum prächtigen Wetter entspricht die Stimmung unter den Bewohnern aber eher der eines regnerischen Herbsttages.
Bereits am Morgen treffen wir Sieger uns mit Saphire im Rathaus. Dieses Jahr hat sie sich in ein silbernes Ensemble gekleidet, bloß ihre künstlich blauen Korkenzieherlocken bleiben unverändert. Aber auch sonst ist von der aufgeregten Moderatorin, die an diesem Tag sonst immer völlig außer sich vor Vorfreude ist, kaum etwas zu spüren.
Zwar bleiben uns ihre Standardfloskeln über „ihre neuen Helden" und „das größte Spektakel seit Jahren" auch in diesem Jahr nicht erspart, doch trotzdem spürt man, dass die Moderatorin sich unwohl in ihrer Haut fühlt. Ich weiß nicht, ob ihr klar ist, dass wir Sieger längst wissen, wer unsere zwei Tribute sein werden. Doch trotzdem erwische ich Saphire dabei, wie sie während der Vorbereitungen immer wieder flüchtige Blicke zu uns huschen lässt und einmal sehe ich sogar den Anschein von Tränen in ihren Augenwinkeln glitzern.
Doch niemand von uns Siegern wagt es, ihren falschen Enthusiasmus zu zerstören. Am Ende bricht sie noch völlig zusammen und wir haben das Kapitol noch mehr am Hals als ohnehin schon. Daher ist es beinahe schon eine Erleichterung, als wir endlich auf die Bühne gebeten werden, damit die Ernte beginnen kann.
Dort bietet sich uns ein seltsames Bild. Um alle drei offenen Seiten der hölzernen Erhebung herum sind mehrere Friedenswächter streng positioniert. Ihre Rüstungen glänzen in der Sonne blitzblank und die schweren Waffen in ihren Händen sprechen Bände. Girlanden sind über den Versammlungsplatz gehängt, doch es ist so windstill, dass sich die zum Anlass golden glitzernden Wimpel keinen Zentimeter bewegen.
Tonnenweise weiße Rosenkränze bestücken den vorderen Rand der Bühne und umhüllen die ersten Publikumsreihen und uns Sieger mit ihrem beißenden Geruch. Obwohl er meilenweit von uns entfernt ist, scheut sich Snow in diesem Jahr kein bisschen, uns seine Präsenz zu zeigen.
Zum ersten Mal sieht man in den Gesichtern der Menge keine Angst, sondern fast schon ... Mitleid. Mitleid für uns Sieger. Jeder in Panem weiß, dass uns in dieser Position lebenslanger Reichtum und Unversehrtheit versprochen wurde - vielleicht einer der Gründe, warum viele Bewohner uns eigentlich verabscheuen. Und doch scheint es den meisten etwas auszumachen, zwei von uns nun gehen zu sehen - vielleicht sogar für immer.
Auf der anderen Seite des Platzes erkenne ich, wie die Teams des Kapitols die letzten Kameras aufbauen und einen kontrollierenden Blick auf die haushohen Leinwände hinter uns werfen. Jeder Moment dieser Ernte wird für die Ewigkeit festgehalten.
Während der Bürgermeister seine übliche ermüdende Rede über die Aufstände hält, werde ich zunehmend doch nervöser. Vermutlich ist es garnichts gegen das, was Finnick und Mags in diesem Moment fühlen, und doch hoffe ich insgeheim, dass der Bürgermeister nicht aufhört zu reden.
Unbeholfen greife ich nach der großen Spange, die am Hinterkopf meine schwarzen Haare zusammenhält. Obwohl sie perfekt sitzt, ziehe ich sie erneut zurecht und streiche über ihre glatte Oberfläche. Es ist eine Muschel, ein besonders großes Exemplar. Die Schale mit der metallenen Klammer dadrin ist eines der wenigen Andenken, die ich von Jinia noch habe. Sie war es, für die ich die Spange an die rosafarbene Muschel geklebt und sie ihr zum ersten Schultag geschenkt habe.
Surrend erwachen die Stromgeneratoren auf dem Platz zum Leben und reißen mich aus den Erinnerungen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie es auf den dunklen Leinwänden flackert und schon bildet sich dort das goldene Siegel des Kapitols. Schlagartig spüre ich, wie alle Anspannung wieder aufbrodelt und in der sengende Hitze beinahe greifbar scheint.
Suchend schweifen meine Blicke durch die Menge vor der hölzernen Bühne, bis ich endlich Atalas blonden Schopf ausmache. Willow, Rayam und Alani stehen dicht bei ihr und blicken mit düsteren Mienen auf die Leinwand.
Da es nun seit fünf Jahren keinen Sieger mehr für uns gegeben hat, ist es nun gewiss, dass es bald noch weniger sind. Mags ist schon so alt, dass sich niemand mehr an ihre Spiele erinnert und doch wird sie nun ein zweites Mal in die Arena ziehen.
Die Bürde, die auf unserem Team lastet, wird mit jedem verlorenen Tribut immer größer, das wird mir schleichend klar. Da ist es auch egal, dass Finnick als begehrter und beliebter Sieger antreten wird. Wir werden mindestens einen von ihnen für immer verlieren.
Natürlich bringt Finnick trotzdem ein suggestives Grinsen hervor, als die ersten Kameras sich auf unsere Stuhlreihe richten. Doch mir bleibt dieses bloß bitter im Hals stecken. Seitdem Jinia tot ist, habe ich jegliches falsches Auftreten vor der Öffentlichkeit abgelegt. Ich kann ihr und ihren Geschwistern das nicht weiter antun.
Irgendwann ist der große Moment gekommen und Saphire erhebt sich. Nervös streicht sie sich ihren silbernen Glitzerrock glatt, ehe sie zum Mikrofon schreitet. „Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!" ruft sie so laut, dass es eine Rückkopplung gibt und ein schriller Ton über den Platz jagt.
Wie jedes Jahr nähert sie sich zuerst dem Glas mit den weiblichen Namen. Sie steckt ihre Hand mit den künstlichen Fingernägeln tief in das Behältnis und wühlt viel zu lange in dem Meer aus weißen Zetteln herum, fast, als wollte sie gar keinen von ihnen ziehen. Sie vollführt einige letzte gedehnte Bewegungen, ehe sie sich schließlich doch einer hungrigen Möwe gleich auf ein Los stürzt und es unter den anderen hervorzieht.
Eisernes Schweigen hallt über den Platz, während die Moderatorin sich viel zu lange damit aufhält, eine ihrer Nägel hinter das Siegel des Zettels zu schieben und ihn schließlich langsam auseinander zu falten.
Ihre schmalen Augen lesen die Beschriftung, doch ihr Unterkiefer zittert. Mit nicht ansatzweise mehr kraftvoller Stimme wispert sie: „Annie Cresta"
Obwohl Finnick neben mir sein Siegerlächeln für keine Sekunde lang ablegt, spüre ich, wie er heftig zusammenzuckt. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie Annie stumm zu weinen beginnt und sich die Hand vor den Mund presst. Doch ehe sich die Kameras auf sie richten können, sehe ich, wie Mags' Hand neben mir entschlossen in die Höhe ragt und damit ihren Plan vollführt.
Ein erstauntes Raunen geht durch die Menge und jegliche Kameras richten sich auf sie, doch unsere älteste Siegerin lässt sich nicht beeindrucken. Es fällt ihr sichtlich schwer, von ihrem Stuhl aufzustehen, und doch beißt sie ihre Zähne zusammen und humpelt auf Annie zu. Beruhigend nimmt ergreift ihre kleine Hand die der jungen Siegerin.
Einige Herzschläge lang findet selbst Saphire keine Worte für das Bild, was sich dem Distrikt bietet, doch dann findet ihre Stimme doch ihre letzte Kraft. „Unsere Siegerin Mags Cohen hat sich für Annie Cresta freiwillig gemeldet und nimmt damit ihren Platz als weiblicher Tribut in den 75. Hungerspielen ein."
Eiserne Stille. Mit Mühen schlucke ich den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals gebildet hat. Überraschenderweise besteht Saphire nicht darauf, dass Mags als Tributin neben sie tritt. Stattdessen schüttelt sie bloß einmal den Kopf, fast, als würde sie sich selbst ermahnen, und stöckelt schließlich auf den zweiten Lostopf zu.
Dieses Mal geht es wesentlich schneller. Finnicks Name wird verlesen und unmittelbar erhebt sich dieser von seinem Stuhl. Respektvoll winkt er in die Kameras und legt sein schönstes Kapitolslächeln auf. Seine sonnengebräunte Haut glänzt perfekt im Schein der Kameras und die zusätzlichen Muskeln, die er sich in den letzten Monaten zugelegt hat, zeichnen sich deutlich unter seinem Hemd ab. Das Kapitol liebt ihren Sieger und sie bekommen ihn genauso, wie sie ihn wollen.
Bloß, als Finnick daraufhin auf Mags zuschreitet, erkennt man für einige wenige Sekunden sein wahres Selbst. Sanft legt er seinen Arm um ihre Schulter und stürzt sie auf dem Weg zu Saphire. Er schafft es trotzdem, seiner Freundin Annie keinen einzigen Blick zu würdigen. Er weiß genau, dass er ihre Beziehung vor der Öffentlichkeit geheim halten muss.
Es ist ein seltsames Bild, als die gebrechliche Mags und der athletische Finnick links und rechts von der völlig aufgebrezelten Saphire stehen bleiben. „Nun...", beginnt die Moderatorin und erneut hallt ein schriller Ton aus dem Mikrofon über die Menge. „Begrüßen Sie mit mir unsere diesjährigen Tribute für das dritte Jubeljubiläum der Hungerspiele, Mags Cohen und Finnick Odair!"
Es beginnt erst kaum merklich, fast wie ein winziges Leuchten am fernen Horizont. Es ist Willow, die inmitten der Menge ihre Lippen mit drei Fingern berührt und diese schließlich in die Höhe streckt. Mein Herz macht einen Satz. Das Symbol einer Rebellion. Erst einmal habe ich es gesehen, als letztes Jahr Katniss Everdeen die kleine Rue beerdigt und ihrem Distrikt damit eine letzte Geste gezeigt hat.
Und doch taucht es nun hier beinahe ein Jahr später bei der Ernte der fünfundsiebzigzigsten Hungerspiele auf. Ich höre nichts außer dem Rauschen meines eigenen Blutes, als mein Blick sich in meine Tochter bohrt. Obwohl ich sie von der Entfernung aus kaum erkennen kann, leuchten ihre grünen Augen bis zu mir.
Und dann werden es mehr. Atala ist die nächste, die ihre Finger in die Höhe streckt und ihren Blick fest in Finnick bohrt. Daraufhin folgen Rayam, Alani, ihre Cousinen und Cousins und bald auch Bewohner außerhalb unserer Familie.
Und dann ist es beinahe der ganze Distrikt. Die gesamte Menge, die zu Mags und Finnick hinaufsieht und sich über die Geste ihrem schrecklichen Schicksal anschließt. Sie halten zu ihren Siegern. Ein kribbelndes Gefühl, das ich kaum benennen kann, breitet sich von meiner Körpermitte bis hin in meine Fußspitzen aus und schon ragen auch meine drei Finger in die Höhe.
Erst, als ein Friedenswächter einen Warnschuss feuert, verebben die Gesten langsam wieder. Die Bewohner des Distrikts haben aus dem letzten Aufstand gelernt, dass sie sich auf diese Weise nicht mit dem Kapitol anlegen können. Zu viele Kinder und Jugendliche stehen ungeschützt in der Menge - einen Kampf zu beginnen wäre leichtsinnig und das weiß inzwischen ein jeder. Auch die Kameras haben natürlich keine einzige Sekunde lang auf die Menge gehalten - niemand außerhalb des Distrikts wird erfahren, was geschehen ist.
Doch jeder Einzelne hier hat eine Solidarität der Bevölkerung für die Tribute nicht nur gesehen, sondern auch gespürt. Eine echte Solidarität. Und sie wird bleiben, egal, was Mags und Finnick in der Arena geschehen wird. Egal, ob wir unsere Sieger verlieren, vielleicht sogar dann erst recht. Distrikt vier ist stärker denn je. Und Präsident Snow - weiß das.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro