05 | Spuren im Sand
Am nächsten Morgen werde ich bereits früh wach.
Ein seltsamer Albtraum hat mich aus dem Schlaf gerissen.
Annie, Lim, Aline und ich sind über die Salzwiese an unserem Haus gelaufen. Wir wurden verfolgt, doch egal, wie sehr ich es versuche, ich kann mich nicht mehr erinnern, von wem. Was ich jedoch noch klar weiß, ist, dass plötzlich die anderen Tribute aufgetaucht sind und unserem Verfolger laut zugejubelt haben, als eine metallene Stimme verkündete, dass die 51. Hungerspiele begonnen haben.
Ich weiß, dass es nicht real war und trotzdem habe ich das Gefühl, die Stimme gerade eben noch gehört zu haben. Die ersten Sonnenstrahlen fallen in mein Abteil und künden den Morgen an. Froh, dass ich nun nicht noch weiter über den Traum nachdenken muss, schiebe ich die weiche Bettdecke zur Seite und stehe auf.
Etwa eine Viertelstunde später habe ich die riesige Dusche in meinem Badezimmer zum ersten Mal benutzt und stehe jetzt vor dem großen Kleiderschrank neben dem Bett.
Als ich die glänzende Schiebetür vorsichtig zur Seite schiebe, springt mir ein Meer aus Farben ins Auge. Unzählige Kleidungsstücke in allen erdenklichen Farben und Formen hängen fein säuberlich an einer Kleiderstange.
Doch ich bin jetzt schon überfordert und habe kaum Lust, mir all die kapitolsgemachten Stücke anzusehen. Das einzig „normale" was ich schließlich finde, ist ein schwarzes T-Shirt und eine dunkelblaue Hose, beides passt seltsamerweise perfekt. Einige Minuten später gehe ich aus dem Abteil, bevor Saphire mich womöglich noch dazu bringt.
Doch der Zug scheint noch ganz still, bloß das sanfte Ruckeln über die Gleise ist zu hören. Ich nehme mir vor, mich auf die Suche nach Mags zu machen, um mit ihr über die Spiele zu sprechen. So sehr es mir auch davor graut, ich muss mir einige Ratschläge holen. Denn mir wird immer klarer – wenn ich nicht zurückkomme, werden meine Geschwister nicht überleben.
Als ich schließlich im Hauptabteil von gestern Abend angelangt bin, sehe ich, dass Mags tatsächlich bereits dort ist. Auf der Leinwand ihr gegenüber ist schon das morgendliche Kapitolprogramm eingeschaltet worden, doch Mags scheint es nicht zu beachten.
Sie sitzt auf einem der vielen blauen Sofas, die Beine angewinkelt und ihre Arme herumgeschlungen. Verträumt sieht sie aus dem Fenster und beobachtet die vorbeirasenden Flüsse und Täler. Sie sieht beinahe aus wie ein sorgloses Kind, wenn sie dort so sitzt.
Und doch ist sie eine alte Frau. Eine alte Frau, die zwar stets lächelt, doch ich glaube, dass ihr Herz mit tiefen Narben versehen ist.
Sie scheint mich entdeckt zu haben und schnell richte ich meinen Blick auf den bereits gedeckten Frühstückstisch, damit es nicht aussieht, als hätte ich sie beobachtet.
Doch Mags scheint das kaum zu stören. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie mir ein Lächeln zuwirft und mich schließlich mit einer Handbewegung zu sich winkt. Ich tappe auf sie zu und sie deutet mir an, mich Platz zu nehmen.
Als ich in einer der weichen Sessel ihr gegenüber versinke, füllt sich mein Kopf nur so mit Fragen. Was will ich von ihr wissen? Etwas über die Arena? Über Strategien? Über Bündnisse?
Doch zu meiner Erleichterung beginnt Mags, zu reden und es ist das erste Mal, dass ich sie sprechen höre. In einer leisen, sanften Stimme sagt sie:
„Ich habe von deiner Schwester gehört."
Die Worte sind wie ein Stich ins Herz, doch Mags nimmt meine Hand. Seit dem Angriff auf Aline ist es das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, dass jemand mich hört. Dass jemand mich versteht. Der Gedanke an Aline ist schmerzhaft, doch das Gefühl, dass jemand da ist, der das weiß und dem es nicht egal ist, ist sehr beruhigend.
Nach einer Weile fühle ich mich bereit, mit der Siegerin zu sprechen.
„Wie hast du deine Spiele gewonnen, Mags? Zu deiner Zeit gab es noch gar keine Karrieretribute, mit denen du dich hättest verbünden können, oder? Würdest... würdest du es denn mir raten?" frage ich vorsichtig.
Mags seufzt und sieht mich wehmütig an. „Nun, ich denke, das liegt ganz bei dir. Doch behalte im Kopf - die Karrieretribute sind nicht die einzigen, mit denen du ein Bündnis eingehen kannst." Ich denke nach. Da hat sie wohl recht.
In den Jahren, wo kein Karriero, sondern ein Tribut aus einem anderen Distrikt gewonnen hat, lag dies oft auch daran, dass sich dieser lange in einem Bündnis aufgehalten hat. Doch ich weiß noch genau, wie diese Bündnisse geendet haben. Wenn am Ende der Spiele nur noch zwei übrig waren, haben sich die beiden bis aufs Blut bekämpft - dass sie vorher tagelang zusammen gekämpft haben war dann innerhalb von Sekunden verflogen, genau so wie eine entstandene Freundschaft.
Doch trotzdem, wenn man zu zweit oder zu dritt ist, hält man länger durch, denn man kann sich Vorräte teilen, Wache halten und sich gegenseitig verteidigen. Mags scheint zu bemerken, worüber ich nachdenke.
„Ich glaube, gerade du, Librae, weißt, wie wertvoll und heilend die Anwesenheit und die Verbindung zu einem anderen Menschen sein kann. Doch genau so schrecklich ist es, wenn diese dann zerbricht." sagt sie leise.
„Hast du denn schon eine Idee, mit wem ich mich verbünden sollte?" frage ich Mags nach einer Weile. Nachdenklich wendet sie ihren Blick zu dem Bildschirm uns gegenüber, auf dem noch immer das Kapitolprogramm läuft.
Gerade ist der junge, stets hoch motivierte Moderator des Kapitols, Caesar Flickerman, zu sehen. Seine Haare sind dieses Jahr in einem seltsamen dunkelblau gefärbt, beinahe genau so wie bei Saphire.
„So, auch dieses Jahr, meine lieben Zuschauer, haben wir wieder starke Tribute aus den Distrikten eins, zwei und vier, wie üblich! Was denken Sie? Wer wird gewinnen? Machen Sie mit, beteiligen Sie sich an diesem großartigen Spektakel und wetten Sie! Wetten Sie auf Ihren Tribut und gewinnen Sie Geld! Morgen, bei der großen Einführungsfeier hier live im Kapitol, können Sie einen ersten Eindruck der Tribute bekommen, ich persönlich kann es kaum abwarten, dort zu sein - Sie doch sicherlich auch, oder? Nun denn, jetzt wird nochmal eine Wiederholung aller Ernten zu sehen sein, für die, die sie mal wieder verpasst haben!"
Mit einem breiten Grinsen strahlt Caesar in die Kamera, und kurz darauf beginnen auch schon die Aufnahmen der gestrigen Ernten erneut. Distrikt eins, zwei, drei - immer wieder blicke ich verstohlen zu Mags hinüber, ob sie mir irgendeinen Hinweis gibt, doch sie bleibt still. Bis wir zu Distrikt sieben kommen.
Auf dem großen Versammlungsplatz, der umringt von dicht stehenden Tannen ist, werden die zwei Tribute gezogen. Ich entdecke wieder das Mädchen, was mir gestern durch ihre ruhige Art aufgefallen ist. Willow.
Die wahrscheinlich dreizehnjährige, die ihre Haare zu zwei blonden Zöpfen geflochten hat, steigt mit schnellen Schritten die Stufen zur Bühne hinauf, dann blickt sie mit einem kalten Blick nach vorne. Obwohl sie neben ihrem viel älteren Distriktpartner sehr klein aussieht, wirkt sie aus irgendeinem Grund viel stärker als er.
Ich bemerke, dass Mags mit ihrem Finger auf sie weist.
In mir macht sich ein seltsames Gefühl breit. Einerseits bin ich froh, dass Willow Mags auch aufgefallen ist, aber andererseits ist sie auch ein völlig fremdes Mädchen, das vielleicht höherer Chancen auf den Sieg hat als ich. Ich habe keine Ahnung, wozu sie fähig sein könnte.
Ich öffne meinen Mund, doch mir fallen keine Worte ein. Mags lächelt mir schwach zu und dann legt sie ihre Hand auf meine. „Du hast noch etwas Zeit. Doch nutze sie gut."
Damit endet unser Gespräch und keine zwei Minuten später kommen Jacek und Saphire ins Abteil. Es gibt Frühstück.
Erneut nehme ich mir nicht wenig, ich brauche Kraft für den heutigen Tag. In wenigen Stunden werden wir im Kapitol ankommen und heute Abend schon findet dort die große Einführungsfeier statt. Dort werden alle vierundzwanzig Tribute in großen Pferdekutschen zwischen zwei riesigen Tribünen, die bis auf den letzten Platz mit Kapitolsbewohnern besetzt sind, entlangfahren. Es ist ein wichtiger Moment, denn die Bewohner, die später potenzielle Sponsoren werden können, bekommen einen allerersten Eindruck der Tribute und dieser bestimmt oftmals über deren Leben.
Jedes Jahr wird jeder einzelne Tribut stundenlang für diesen einen Abend herausgeschmückt, und in ein Kostüm gesteckt, dass extra für den Distrikt entworfen wurde. Was unsere Stylisten sich wohl für uns überlegt haben? Wird es die Kapitolsbewohner überzeugen?
Plötzlich reißt Jaceks mich aus meinen Gedanken.
„Möchtest du dich mit mir und den Karrieretributen verbünden, Librae ?" fragt er mit einer seltsam freundlichen Stimme. Doch ich bin so wenig auf die Worte vorbereitet, dass ich meine Gabel vor Schreck auf den Teller fallen lasse, was zu einem empörten Räuspern von Saphire führt. Doch ich ignoriere sie.
Jacek spricht ein für mich sehr heikles Thema ganz offen an - als ginge es überhaupt nicht um Leben und Tod. Ich weiß, er ist ein Karrieretribut, doch wie kann er bloß so gelassen sein, wenn sein Leben womöglich von dieser Entscheidung abhängen mag?
Mein Hals ist ganz trocken. Es ist wie an manchen dieser Sommerabende, wenn sich das Meer meilenweit an den Horizont zurückzieht und einem bloß noch die grauen Sandkörner um die Füße wehen.
„Also..." beginne ich, doch rede nicht weiter. Ich möchte eigentlich garnicht über diese Art von Bündnis nachdenken, doch ich muss. Denn Jacek sieht mich aus seinen eisblauen Augen direkt an, nur darauf wartend, dass ich etwas sage.
Einerseits würde ich durch dieses Bündnis auf jeden Fall länger überleben. Die anderen Tribute, aus eins, zwei und natürlich Jacek, würden mir vertrauen und mich aufnehmen, da ich aus Distrikt vier bin.
Doch ich kenne die dunkle Seite dieses Bündnisses nur zu gut. Beinahe jedes Jahr jagen die Karrieros die schwachen Tribute bis in die Nacht, sie triezen sie, lachen über sie. Dann töten sie sie, brutal und grausam, ohne mit der Wimper zu zucken.
Genau wie die Friedenswächter Mom und Dad getötet haben.
Genau wie die Friedenswächter Aline getötet haben.
Nein. Ich möchte nicht zu diesem Bündnis gehören. Ich kann das einfach nicht. Doch was soll ich Jacek jetzt sagen? Wenn ich überlege, war es sogar recht klug von ihm, das jetzt zu fragen.
Denn wenn ich jetzt nein sage, wird er wissen, dass ich versuche, ihm und den Karrieros aus dem Weg zu gehen - und dass er mir dann kein zweites Mal vertrauen kann. Doch wenn ich ja sage, bin ich an mein Wort gebunden, und muss mich daran halten. Sobald ich es dann breche, werden sie mich, wenn ich das Blutbad überlebe, erstrecht jagen und es stark auf mich abgesehen haben.
Was soll ich jetzt also tun?
Panisch verknote ich meine Finger ineinander, wie ich es immer mache, wenn ich nervös bin. Schließlich seufze ich, doch dann erhebe ich das Wort.
„Ich... Ich möchte nicht zu denen gehören, die die anderen jagen..." antworte ich direkt und sehe Jacek dabei versucht emotionslos an. Ich versuche, seinem Blick standzuhalten - er sieht beinahe traurig aus. Doch warum? Er kennt mich kaum, was sollte es ihn stören, wenn ich nicht bei ihnen bin? Ich wende mich schließlich von ihm ab und sehe aus dem Fenster. Die Landschaft rast genau so schnell vorbei wie die Gedanken in meinem Kopf.
Von dieser Entscheidung wird womöglich mein Leben abhängen.
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