19. Dumm Gelaufen
Ich kam zu spät. Bereits als ich mich der Höhle näherte und von dort kein einziges Geräusch kam, wusste ich, dass ich zu spät war. Heather war fort, genau wie die drei Tribute. Die Leiche des Jungen lag auf dem Boden, das Gesicht dem Boden zugewandt. Ich war froh darum, ihm nicht in die starren Augen gucken zu müssen. Von Silvia war nicht mehr viel übrig, nur noch blutige Abdrücke an Wand und Boden und einige Knochen, sowie der Geruch nach rohem Fleisch.
Er überwog sogar über den Geruch nach Erbrochenem, der noch in der Luft lag. Ich hielt es keine Minute in der Höhle aus, aber ich nutzte sie, um alle Überbleibsel einzusammeln und mit ihnen zurück zu Livy zu laufen. Sie war ein Häufchen Elend, das zusammengekauert mitten im Schnee hockte. Ich zwang sie dazu, aufzustehen und mit mir weiterzulaufen. Allmählich gefroren die Tränenspuren auf ihren Wangen und glitzerten dort.
Mir war selbst auch nach Heulen zumute. Ich hatte Livy noch nicht gesagt, dass Heather nicht mehr dort gewesen war, aber sie musste es ohnehin bereits wissen. Wir verloren beide kein Wort mehr über das, was wir gesehen hatten, liefen nur stumm durch die Eiswüste, ohne überhaupt zu wissen, wohin. Ich fragte mich, ob die anderen auch hier herumliefen und wir vielleicht auf sie treffen würden.
Was gäbe ich nur darum, Ryen und die anderen endlich wiederzusehen, statt hier in der Kälte zu hoffen, dass hinter der nächsten Schneewehe niemand wartete, der mich umbringen wollte. Je länger wir liefen, desto stärker wurde der Schmerz in meiner Schulter. Ich hasste mich dafür, so schwach zu sein, aber noch bevor die Dämmerung hereinbrach, mussten wir anhalten. Dank mir waren wir nur langsam vorangekommen und ich fürchtete, dass der Abstand nicht reichen würde.
Doch der Schnee hatte unsere Spuren verwischt und so hoffte ich zumindest, dass eine Chance hatten. Die Spielmacher brauchten mich noch, redete ich mir ein, sie würden mich schon auf die ein oder andere Weise retten. Aber ich wusste auch, dass ich mir damit selbst etwas vormachte; natürlich brauchten sie mich nicht. Wenn sie das Wissen der anderen wollten, könnten sie diese Fragen und sie würden sie sicher zum Antworten bringen, ob mit oder ohne Gewalt.
Trotzdem war ich mir sicher, dass sie mich längst sterben hätten lassen, wenn sie nicht wüssten, dass ich ihnen helfen konnte. Ich bezweifelte, dass es ein Zufall gewesen war, dass ich auf einer Ebene mit Heather, Silvia und Livy aufgewacht war. Jeder andere Tribut hätte mich in ihrer Situation sterben lassen, aber die Spielmacher hatten gewusst, dass die drei dafür zu gut waren. Was ich dagegen nicht verstand, war die Tatsache, dass die anderen vier ebenfalls hier gewesen waren.
Es waren sicher nicht mehr mehr als 20 Tribute am Leben, und davon waren heute alleine sieben in diesem Teil der Arena gewesen. Auch das war sicher kein Zufall gewesen. Hatten sie gewusst, dass die vier einen anderen Tribut fressen wollten? Falls ja, warum hatten sie es zugelassen? Ich erinnerte mich daran, was Ryen gesagt hatte. Dass sie die Tribute manipuliert hatten, damit sie aggressiver wurden.
Vielleicht waren diese Tribute auch manipuliert worden, möglicherweise hatte man sie einem Halluzinogen ausgesetzt, oder ihnen irgendwelche Drogen verabreicht. Das müsste eigentlich zu einem Aufschrei der Bevölkerung führen, aber andererseits sollten die Hungerspiele selbst auf weniger Zustimmung der Menschen treffen. Was die Spielmacher nicht alles für gutes Entertainment taten... Livy und ich hatten unser Lager an einer einigermaßen windgeschützten Stelle errichtet.
Keiner traute sich, einzuschlafen, in der Angst, wir würden nicht mehr aufwachen. Es wäre zwar nicht der schlechteste Tod, aber angesichts der heutigen Geschehnisse waren wir noch weniger bereit, aufzugeben. Silvia war noch ein Kind gewesen und wir waren kaum älter, es war nicht rechtens, dass wir uns gegenseitig umbrachten. Stunden nachdem es dunkel und das Zittern zu einem Dauerzustand geworden war, schlief ich doch noch ein.
Als ich aufwachte war es noch immer kalt, aber ich fror nicht mehr so entsetzlich. Ich spürte Stein unter meinen Händen und als ich die Augen öffnete, war der Himmel blau. Die Eiswüste war einer Reihe von Felsplateaus gewichen, die sich haltsuchend an den Berg klammerten. Moos und vereinzelt auch Pflanzen und Gräser färbten einige Stellen grün. Kein Tribut war mir nahe genug, um mich verletzen zu können, doch einige zückten bereits ihre Bögen.
Jeder von uns hockte auf einem anderen Felsvorsprung, zwischen uns klaffte ein breiter Abgrund, auf dessen Boden ich das Füllhorn erahnen konnte. Mit meiner Schulter konnte ich kaum klettern, also trat ich den Rückzug an. Zunächst führten mich einige natürliche Felsstufen nach oben, danach fiel das Gelände in einem breiten Hang ab. Die ersten Meter lief ich noch, dann setzte ich mich auf meinen Hintern und rutschte nach unten.
Dabei ruinierte ich zwar meine Hose, aber da ich früher oder später ohnehin ausgerutscht wäre, machte das kaum einen Unterschied. Das Tal war nicht weniger felsig als der Bergkamm, von dem ich soeben hinuntergerutscht war, aber wenigstens einigermaßen eben. Ich beeilte mich vom Füllhorn wegzukommen, da ich vorerst genug von Zusammentreffen mit anderen Tributen hatte. Wo Livy wohl gelandet war? Eine weitere Person, um die ich mir Sorgen machen musste.
Bald wären alle Tribute bis zu einem gewissen Grad Freunde von mir und es würde noch schwieriger werden, jemanden zu töten. Ich wollte mir nicht auch noch Gedanken darum machen müssen, wie es wohl wäre, wenn ich diejenige wäre, die getötet werden würde.
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