3.
"Der Traum ist eine Psychose, mit allen Ungereimtheiten, Wahnbildungen, Sinnestäuschungen einer solchen."
~ Sigmund Freud
Ich öffne eine große Holztür und dahinter befindet sich eine mir unbekannte Welt. Die Bäume tragen blaue Blätter und silberne Äpfel. Ich lausche dem Rauschen eines Flusses und dem Zirpen von Insektenartigen Kreaturen, welche durch die Lüfte fliegen. Die Atmosphäre stimmt mich glücklich. Ich will noch tiefer in diese Welt eintauchen, als sich mein Traum schlagartig verändert.
Ich stehe vor einem Abgrund und bin kurz davor zu springen. Der nächste Schritt wird mich töten. Obwohl ich mir dessen bewusst bin, mache ich ihn. Ich falle und falle, gleich werde ich vom Boden zerschmettert, wie äußerst empfindliches Porzellan...
Plötzlich wache ich auf und bin völlig außer mir. Das ist schon dasvierte Mal in diesem Monat, dass ich diesen Traum habe. Nicht den Alptraum vomAbgrund, sondern diese verzauberte schöne Welt taucht regelmäßig in meinenTräumen auf. Doch, was ist der Grund dafür? Wieso träumt man von einerbestimmten Situation immer und immer wieder?
Ich versuche erneut einzuschlafen, doch es geht nicht. Die Müdigkeit istverflogen. Deshalb steige ich aus dem Bett und schleiche durch meine Zimmertürauf den Flur. Es herrscht eine Ruhe, welche mir ein wenig Angst macht. Zumeiner Verwunderung kann ich erkennen, dass in der Bibliothek noch Lichtbrennt. Ich beschließe nach kurzem Zögern, ohne zu klopfen, den Raum zubetreten. Es ist ein großes rechteckiges Zimmer mit hohen Wänden, welche vonBücherregalen verdeckt sind. In einer Ecke befindet sich zwei mintgrüne Sesselund eine Leselampe, welche den gesamten Raum in ihrem dumpfen, warmen Lichterstrahlen lässt.
„So spät noch wach? Es ist halb zwei morgens, Darling." Meine Tante sitzt ineinem der Polstersessel und hält ein Buch in der Hand, welches den Titel trägt:
„Astrophysik - Vom Andromedanebel bis zum Sternbild des Zentauren".
„Ich hatte einen schlimmen Traum undkann nicht mehr einschlafen. Darf ich mich zu dir setzen?"
Sie nickt zustimmend und flüstert:
„Träume. Also mein Spezialgebiet."
Diese Aussage weckt Erinnerungen, denn Annie hatte schon immer ein großesInteresse für das menschliche Unterbewusstsein. Als ich noch ein Kind war,erzählte sie mir immer die aufregendsten Geschichten aus einem Buch über Träumeund ihre Deutungen.
„Möchtest du dir ein Buch aussuchen und ein wenig darin lesen?"
Doch mich für einen passenden Text entscheiden zu können ist gar nicht soleicht, denn die Bibliothek verfügt über ein breites Spektrum an Genres. Vonlesenswerter Fachliteratur bis zu blutigen Krimiromanen. Aber auch Klassiker,wie „20000 Meilen unter dem Meer" und „The Secret Garden" finden ihren Platz inden Wandregalen. Es ist für jeden Geschmack das Passende dabei.
„Hast du eigentlich noch das dicke Buch mit dem Ledereinband, aus dem du mir früherimmer vorgelesen hast? Wenn ich mich recht erinnere handelt es um Träume."
Mit nachdenklicher Miene erhebt sich Annie aus ihrem Stuhl und bewegt sich inmeine Richtung.
„Ich habe in diesen alten Schmöker schon seit langer Zeit nicht mehr einenBlick geworfen, aber ich glaube, dass ich es ganz oben verstaut habe."
Sie schiebt die Leiter mit einem Ruck ans andere Ende des Regals und klettertan ihr hinauf. Mehrere Minuten verbringt sie oben, als sie hastig die einzelnenBücher durchsucht und dabei vor sich hinmurmelt.
„Ich habe es gefunden!"
Sie hat das dicke Buch unter ihrem Arm eingeklemmt und begibt sich vorsichtigwieder auf den Boden zurück. Das Buch ist mit einer dünnen Staubschichtbedeckt, welche Annie mit ihrer Handfläche wegwischt. Von der Faszination derGeschichten geweckt, lese ich den Titel: „Traumwelten". Das Wort ist ingoldenen Buchstaben auf dem braunen Einband gedruckt. Zu meiner Verwunderunghat das Buch weder Autor, noch Verlag. „Ein spannendes Buch. Vor allem in derZeit, als ich mich mit der Psyche des Menschen beschäftigte, hat mir das Buchsehr geholfen. Soll ich dir daraus vorlesen?" Ich nicke, als ich gerade miteinem der vielen Kissen auf dem Sessel kuschle.
„Kapitel 1: Luzides Träumen
Bei einem luziden Traum, auch Klartraum genannt, handelt es sich um einenTraum, bei dem der Träumende weiß, dass er sich in einem Traum befindet.Mithilfe dieser Technik ist es einem möglich seine Trauminhalte bewusst zusteuern. Alles ist möglich. Man kann durch die Lüfte fliegen, wie ein Vogel,unter Wasser atmen oder endlich mit der Liebe seines Lebens vereint sein.Selbst das Sprechen mit bereits Verstorbenen ist nicht mehr unvorstellbar. DerTräumende kann sich eine eigene Welt erschaffen, welche seinem Idealentspricht. Ihrer Fantasie und damit ihren Träumen sind keine Grenzen gesetzt.Es werden ihnen ganz neue Möglichkeiten geboten, welche sie in ihremUnterbewusstsein umsetzen können. Wir verschlafen viele kostbare Stundenunseres Lebens, welche wir durch Klarträume produktiv nutzen könnten. Doch, wieist es einem möglich, luzid zu träumen? Es ist ganz einfach, man muss nur dierichtigen Schritte kennen und..."
Mit diesen Worten schlägt Annie das Buch zu.
„Wieso hast du aufgehört. Ich will wissen, welche Schritte man befolgen muss!"
Zögernd antwortet meine Tante:
„Du solltest jetzt ins Bett gehen, Darling. Ich will nicht, dass dir diesesalberne Buch den Kopf verdreht und den Schlaf raubt. Morgen möchte ich dir dieStadt zeigen."
Widerwillig gehe ich wieder zu Bett, jedoch kann ich nur noch an eine Sache denken:Dieses Buch. Wieso hat Annie so abrupt aufgehört zu lesen? Ich will auch jedeNacht einen Klartraum erleben, meine Träume steuern können und endlich einperfektes Leben in meiner Traumwelt führen. Ein Leben, in dem ich die Beliebtesteder Schule bin. Ein Leben, in dem mich andere um meine vielen Freunde undBewunderer beneiden. Ich will die Hauptfigur meiner Geschichte sein und nichtnur ein unbedeutender Nebendarsteller. Doch um dies erreichen zu können,brauche ich das Buch. Ich kämpfe mit meinem Gewissen. Soll ich mich meinerTante widersetzen und weiterlesen? Annie war früher so begeistert von dem Werk.Es erscheint mir auch eigenartig, dass sie es ganz oben in der hintersten Eckedes Regals verstaut hatte. Kam ihr während dem Lesen wieder eine dunkle Erinnerung?
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