Trochian der Gespaltene - Kapitel 6.3
Irritiert nahm Trochian die pulsierende Kugel an sich und plötzlich stürzten tausende von Gedanken und Erinnerungen auf ihn ein. Vor einem Moment war er noch ein anderer Mann gewesen. Als er ausatmete, fühlte er sich besser. Er mochte den andersartig Aufseher von vor ein paar Augenblicken nicht: diesen kalten, arroganten und egozentrischen Kerl. Jetzt war er wieder Herr über sich und lächelnd sagte er zu Windar: „Immer eine Wohltat, mein Freund, auch wenn es kein gutes Zeichen ist."
Sein Magierfreund lachte und erwiderte: „Fürwahr! Euer eingeweihtes Selbst als Eule gefällt mir auch besser und ich bin froh, dass ihr, mein Freund, mal wieder da seid und den eingebildeten Hirsch hinter euch lasst. Kommt jetzt, folgt mir. Ich sage den Dienern, dass wir uns ein bisschen in der Stadt umsehen werden." Trochian nickte zustimmend.
Windar verschwand kurz und wanderte dann voran durch die Flure, als wäre es sein Zuhause. Der Aufseher vermutete, dass der Magier sich Orientierung eingezaubert hatte. In der Stadt schlenderten sie ein wenig durch die Gassen, bis sein Führer ihn in einen dunklen Eingang zog und anwies, sich hinter eine große Karre zu hocken. Kurz darauf schoss eine Nasikfrau zügig vorbei. Windar wartete noch etwas und schaute dann hinaus. Die Frau war nicht mehr zu sehen. Sein Magierfreund zog ihn in die entgegengesetzte Richtung davon. Irgendwann gesellte sich jemand zu ihnen und begann über die Stadt und die Leute zu erzählen. Trochian ließ sich kurzerhand mittreiben, da er sich in den fähigsten Händen befand. Der Mann deutete schließlich auf einen Turm und forderte leise: „Geht bitte da hinein." Dann verschwand er.
Windar und Trochian betraten das Gebäude, wo sie erwartet wurden. Als er sich zu ihnen umdrehte, stockte ihm der Atem. Er hatte eine der Stimmen von Risotatus vor sich, es handelte sich um den Nachtelb, der ihm zuvor schon aufgefallen war. Der Mann trat lachend zu Windar und umarmte ihn herzlich: „Mein alter Freund. Wie geht es dir? Habt ihr die Reise gut überstanden?" Trochians Magierfreund erwiderte die Umarmung und rief überschwänglich: „Horan! Schön dich endlich mal wieder zu sehen. Uns geht es gut. Die Reise war etwas zu lang, aber sonst auszuhalten. Du weißt, so schnell kann mich nichts unterkriegen." Die zwei betrachteten sich intensiv, bis Windar den Aufseher vorstellte: „Das ist Trochian. Jemand, der sich meiner Kunst voll und ganz anvertraut hat." Der Magier stieß ihm bei diesen Worten freundschaftlich in die Seite. Woraufhin der Zinokaner lachend meinte: „Hast du also endlich jemanden gefunden, der verrückt genug ist, sich darauf einzulassen! Versteht mich nicht falsch, Trochian, ich bin tief beeindruckt von eurem Opfer."
Der Aufseher wehrte ab: „Ach nicht doch, Horan. Es gibt keinen Tag an dem ich es nicht bereue!" Die Stimme nickte wissend und sagte: „Das glaube ich euch gerne. Aber bei Windar seid ihr fürwahr in den besten Händen." Der Abgesandte lächelte seinem Freund zu und stimmte dem andächtig zu.
„Nun wir haben einiges zu besprechen. Folgt mir bitte." Mit diesen Worten führte Horan sie ins oberste Stockwerk, wo es einen herrlichen Blick über die Stadt gab. Mit der Aufforderung: „Trochian, Windar, bitte setzt euch", bot er ihnen einen Platz auf einem Sofa an.
Der Aufseher, der ans Fenster getreten war, schaute einen Moment auf die Stadt. Dann drehte er sich um. Er hielt noch immer die Kugel fest in seiner Jackentasche umschlossen. Sobald er losließ, würde er alles über die Eingeweihten vergessen. Horan wusste offensichtlich darüber Bescheid.
„Leider treffen wir uns unter diesen unglückseligen Umständen. Aber Josuans Auftauchen erfordert schnelles Handeln. Wisst ihr warum Josuan hier ist?" Trochian sah Horan fragend an.
„Ich bin genauso erschüttert wie ihr", bestätigte der Aufseher. Die Stimme sah zu Windar: „Nicht einmal Risotatus wusste von der Gefangennahme. Leider passiert jetzt alles gleichzeitig. Das war so natürlich nicht geplant, dennoch können wir es auch nicht mehr ändern." Horan rang um seine Fassung. Aber der Abgesandte gab ihm recht. Die Ereignisse überschlugen sich.
„Sie müssen unter allen Umständen befreit werden", erklärte der Aufseher.
„Trochian, bedenkt bitte, welche Schlüsse man daraus ziehen wird? Man wird euch und die Herrscherin verdächtigen", gab die Stimme zu bedenken.
Der Abgesandte bemerkte gefasst: „Lasst das meine Sorge sein." Dann nickte er Windar zu, der daraufhin eine weitere Kugel aus der Tasche zog und sie dem Zinokaner gab. Der wiederum betrachtete sie verständnislos, woraufhin der Aufseher erklärte: „Ihr wisst, dass das ein Vergissmeinnicht-Kristall ist. Alles, was wir besprechen während ihr die Kugel berührt, werdet ihr wieder vergessen, sobald ihr die Kugel los lasst. So seid ihr wie ich vor dem Namenlosen geschützt. Falls er in eure oder meine Gedanken einbricht, kann er nichts finden, was diese Mission kompromittieren würde." Horan sah mit einem Seufzer zu Windar, dann nahm er die Kugel und Trochian fragte: „Die Männer waren ursprünglich sieben, aber nur fünf Gefangene sind aufgetaucht, wisst ihr was aus den anderen geworden ist?"
„Ja, die zwei haben ihre Leute an Risotatus verraten. Sie sind in einem Turm außerhalb des Schlosses untergebracht, sind sie wichtig?", erkundigte sich Horan.
„Nein, die verbleibenden Fünf müssen aber unbedingt ihre Mission weiter verfolgen und auf Kurs Richtung Osten bleiben", erwiderte Trochian und fixierte seinen Gegenüber. „Das ist nicht alles. Wir suchen nach einer Nachtelbin mit Zügen einer Tagelbin, einem Assassinen, einem Dieb, einem Fakir, einem Dragoner, einem Pescator und einer Linguali. Ich weiß, dass ihr hier ein paar Verfolgte bei den Eingeweihten habt – ist vielleicht einer der eben genannten dabei?" Windar warf ihm einen raschen fragenden Blick zu, denn Trochian hatte den Zinokaner nicht nach der Stammeskämpferin gefragt. Der Aufseher ignorierte den Magier.
Horan schüttelte den Kopf. Dann gab er widerstrebend seine Gedanken preis: „Von einem Pescator habe ich noch nie gehört." Er zögerte kurz und fuhr fort: „Wir haben einen Mann mit den Eigenschaften eines Diebes und auch einen Mann den man als Assassinen bezeichnen könnte unter unseren Leuten. Es gibt einige Nachtelbinnen in Zinoka, aber keine von ihnen hat Züge von einer Tagelbin. Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas gibt." Irritiert sah er zu Trochian. „Mehr fällt mir zu den Leuten nicht ein, die ihr mir genannt habt. Ich verstehe nicht ganz, wozu braucht ihr all diese Leute?" Erwartungsvoll sah Horan den Abgesandten an, der die Frage aber überging.
„Ich werde sie wohl kaum alle sehen können, oder?", mutmaßte der Aufseher und sah zu seinem Freund.
„Ich glaube außerdem nicht, dass ihr sie erkennen würdet und selbst wenn, macht es keinen Unterschied", meinte Windar. Trochian nickte. „Stimmt. Mein Traum ist einfach nicht deutlich genug. Ich erkenne ganz klar die Stammeskämpferin, die Nachtelbin, und den Dragoner, aber sonst leider keinen anderen." Er seufzte verärgert.
Windar sagte an ihren Gastgeber gewandt: „Diese Leute müssen bei der Gruppe sein, die die anderen Fünf befreien. Geht das?"
Horan schwieg eine Weile, dann meinte er stockend: „Das sind unseren besten Leute! Ihr könnt doch unmöglich wollen, dass wir sie alle wegschicken. Zudem sind sie alle Hauptleute."
Windar und Trochian sahen einander an, der Aufseher drängte: „Diese Mission hat höchste Priorität, ihr werdet ohnehin eure besten Leute schicken, um sie zu unterstützen."
„Also auch die Formwandlerin", murmelte die Stimme.
Trochian lachte: „Ihr habt hier ja ein ganzes Nest von Mischwesen und Sonderlingen! Wie habt ihr das nur geschafft?"
Horan brummte mit Resignation in seiner Stimme: „Wir haben hier ja auch besondere Umstände, in der Höhle des Löwen. Beim Wustu. Es gibt wohl keine andere Möglichkeit? Was wird aus Nassia? Oh, ich weiß schon. Sie wird uns büßen lassen, dass wir Semio wegschicken. Wer weiß, was sie anstellen wird. Und ..."
„Nassia?", fragte Trochian. „Wer ist das?"
„Eure zukünftige Gemahlin. Sie ist unsere Informantin und möchte schon länger weg, aber sie ist aus ersichtlichen Gründen von unsagbarem Wert für uns. Sie weiß nichts von der Minguzeremonie. Ob sie wohl Verständnis hat und Semio, den Dieb, gehen lässt? Mal abgesehen davon, dass ich die Idee den Tierhüter fortzuschicken, selber schrecklich finde." Er sprach mehr zu sich als mit ihnen.
Windar und Trochian sahen sich an. „Sie ist die Stammeskämpferin. Ich habe sie erkannt", erklärte der Aufseher.
Der Magier nickte und schmunzelte: „Wir wussten nicht, dass sie eine Eingeweihte ist. Das macht alles einfacher. Aber wollt ihr sie noch heiraten?"
„Nein, die Mission geht vor. Sie muss mit", erwiderte Trochian kurz.
Horan rief entsetzt aus: „Seid ihr verrückt? Und alle unsere Pläne für diese Hochzeit? Es besteht immerhin die Möglichkeit, dass wir uns da irgendwie durchmogeln können."
„Ich kann unmöglich alles erklären, was hier vorgeht", bemerkte der Aufseher geduldig. Kopfschüttelnd erwiderte Horan Trochians Blick und versuchte mit der schnellen Abfolge der Ereignisse mitzuhalten.
Der Abgesandte gab Windar ein kurzes Zeichen, damit dieser das Nötige bei der Stimme bewirkte. Der Magier würde dafür sorgen, dass Horan sich an das Wichtige erinnern würde: Er musste seine Leute mit den Gefangenen schicken und sie nach Osten führen.
Trochian hatte ursprünglich geplant, Areli zu heiraten. Da immer die Möglichkeit bestanden hatte, dass sie eine Gefährtin war, wollte er sich mit ihr später der Gruppe anschließen. Die Hochzeit würde sicher nicht stattfinden, wenn er in die Fänge vom Namenlosen geriet, der misstrauisch sein würde. Die ganze Planung der letzten Monate war dahin. Er hätte niemals gedacht, dass ausgerechnet Josuan ihm dazwischen funken würde. Er hatte ihn zum ersten Mal bei seiner Eingeweihten-Aufnahme in der Magiergilde getroffen, als Windar und er vermummt daran teilgenommen hatten. Er musste jetzt improvisieren und versuchen den Schaden, so gering wie möglich zu halten.
Trochian räusperte sich und bestimmte: „Wir müssen zurück."
Windar nickte und nahm Horan die Kugel ab. Der sah ihn verwirrt an und meinte: „Also viel Glück. Ich sorge dafür, dass unsere Leute und auch die Prinzessin die Gefangenen Richtung Osten begleiten." Bei den Worten wirkte er etwas desorientiert. Der Zauber würde seine volle Wirkung erst später entfalten.
Horan führte Windar und Trochian hinaus und verschwand dann in einer der Gassen. Der Mann von vorher tauchte wieder auf und lotste sie in die entgegengesetzte Richtung, wobei er erneut mit den Erklärungen zu Zinoka begann. Als er von den Kindern Risotatus sprach, die allesamt weggeschickt worden waren, erkundigte sich Windar: „Weiß man irgendetwas über ihre Fähigkeiten? Sie sind doch sicher alle magiekundig." Der Mann schaute erschrocken, zu Belangen der Magie stellte man keine Fragen und das war ihm deutlich anzusehen. Zögerlich beugte er sich vor und raunte: „Der Herrscher hat einen Zwillingsbruder mit mächtigen, nicht beschriebenen Kräften, der einfach verschwand. Seine Tochter Merinasa Trigas Amnadi Fri aus erster Ehe ist eine Linguali, die in Anuala lebt und es gibt noch einen Pescator. Er ist sein Sohn und soll irgendwo in Sendari sein. Er heißt Rano Tagso Emano Weso. Mehr weiß ich nicht über die Familie."
Hastig führte er sie weiter und verabschiedete sich kurz darauf an einem Marktplatz. Windar sah zu Trochian und schlug vor: „Könnt ihr alleine zurückgehen? Ich muss noch jemanden finden, dem ich die Information über diesen Pescator Rano anvertraue."
Der Aufseher fand die Idee gut und meinte: „Gib sie dem Dieb, Semio. Das scheint mir am ungefährlichsten. Außerdem scheint er der hiesige Tierhüter zu sein. Sein Wohnort sollte doch herauszufinden sein, oder?"
Windar nickte entschlossen und nahm sich vor: „Ich finde schon heraus, wo der Typ lebt und geb ihm die Informationen über den Pescator. Im schlimmsten Fall nutze ich einige meiner Tränke, um an ihn heranzukommen." Dabei klopfte er sich siegesgewiss auf die Außenseite seiner Jacke. Innen bewahrte er eine Auswahl seiner Zaubertränke, mit deren Hilfe er zum Beispiel schwebte, unter Wasser atmete, seine Form wandelte, unsichtbar wurde oder schnell rannte.
Trochian war einverstanden und verabschiedete sich: „Hier die Kugel! Bis nachher." Er ließ den Vergissmeinnicht-Kristall unbemerkt in Windars Tasche gleiten, dann trat er seinen Rückweg zum Schloss an.
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