Trochian der Gespaltene - Kapitel 6.1
Der Abgesandte aus Minandrien schaute über die morgendliche kühle Wüste. Unendlichviele Dünen ragten vor ihm auf. Worauf hatte er sich nur eingelassen? Seit Wochen war er unterwegs. Erst die beschwerliche Schiffsreise, dann der lange Weg durch die nördlichen Ebenen von Aktunostra, wo es außer Anuala kaum einmal Siedlungen von mehr als 1000 Seelen gegeben hatte. Danach waren sie durch das lebensunfreundliche Gebirge Zin gereist. Dort wären ihm vor Kälte fast drei Zehen abgefroren! Inzwischen schaukelten sie auf Kamelen durch die Wüste. Dieser menschenleere Raum war für ihn kaum zu ertragen. Dazu diese unerträgliche Hitze, die sicher nicht mehr lange auf sich warten ließ. Er roch förmlich, wie die Sonne bereits den Sand in heiße Glut verwandelte.
Die ganze Nacht waren sie geritten und Trochian schmerzte jedes Körperteil. Bei Sonnenaufgang hatte ihr Führer, der Nasik Gostian, angekündigt, dass sie die Zinoka-Höhle im Laufe des Morgens erreichen würden. Der Abgesandte suchte die Dünen mit seinen Augen nach Hinweisen auf einen Eingang ab, jedoch erkannte er keine Veränderung zu vorhergehenden Tagen.
„Ich wäre lieber wieder in den Zinnen. Das Gebirge war wenigstens voller Leben", moserte er. Gostian reagierte nicht. Auf dem Wüstenabschnitt ihre Reise hatte er versucht, ihm näher zu bringen, wie einzigartig und vielfältig die Existenzen waren, die sich im Sand verbargen. Doch Trochian Minaro konnte den Insekten und kleinem Getier nichts abgewinnen.
Der Führer beobachtete gerade mit Windar seinem treuen Leibdiener, ein paar rennende Käfer. Weit über die Köpfer ihrer Pferde gebeugt, bestaunten sie die schnellen Läufer. Gostian berichtete: „Seht, Herr, seht! Ein Wüstenkäfer! Er versteckt sich gerade vor der Sonne und vergräbt sich."
„Muss er sich nicht sehr tief graben, um der Hitze der Oberfläche zu entgehen?", erkundigte sich Windar interessiert.
„Nein, nein. Der Hang liegt immer im Schatten. Seht diese Erhöhung? Käfer wissen genau, wo die Schatten wandern", war die einfältige Antwort. Staunend folgte Windar den Umrissen der Hügel und schaute hoch zur Sonne. Sicher wäre er gerne geblieben und hätte verfolgt, ob ihr Führer recht hatte.
Trochian knurrte ungeduldig: „Wo versteckt sich diese riesige Stadt, Gostian? Ich sehe nur verdammten Sand! Hier ist nichts."
Seufzend kam der Führer hoch und deutete nach vorne. „Nicht fern. Wirklich nicht."
Nachdem sie über einen weiteren Dünenkamm geritten waren, führte Gostian sie nach unten. „Hier runter? Aber hier ist doch gar nichts!", rief der Abgesandte. Es musste irgendein Zeichen geben, dass hier der Eingang der Stadt lag.
„Warten, warten, Herr", antwortete der Wüstenführer grinsend.
Trochian war langsam genervt von diesem Mann aus den Bergen. Was, wenn er sie in die Irre führte?
Dann sah er die herbeigesehnte Pforte nach Zinoka. Es war gar kein Tor vielmehr eine große Tür. Der Abgesandte lachte belustigt auf. Betrat er die Hauptstadt durch eine Hintertür? „Gibt es hier noch mehr", er zögerte, „Eingänge?"
Gostian nickte aufgeregt: „Ja, ja. Herr. Viele, manche geheim, manche nicht."
Trochian schüttelte den Kopf und sein Wüstenführer sagte grinsend: „Wir kommen kaum rein, aber Feinde auch nicht. Verstehen?" Der Aufseher über Minandrien, eine weit entfernte Insel im Norden von Aktunostra, sah den einfältigen Mann an. Zumindest mit dieser Äußerung hatte er recht. Wenn das stimmte, war die Stadt nur schwer einzunehmen. Kein Wunder, dass Risotatus Familie nie herausgefordert worden war. Seufzend schritt Trochian als Erster durch die Tür.
Dahinter lag ein großer Raum, der zur anderen Seite hin sacht abfiel. Der Aufseher erkannte sofort, dass man hier auf einfallende Feinde warten konnte und sie der Reihe nach mit Pfeilen erschoss. Es gab sogar Schießscharten über der gegenüberliegenden Tür, die genauso klein war wie der Eingang. Eine Wache hielt ihn auf und wollte wissen: „Name und Begehren?" Selbst wenn er gewusst hatte, dass niemand sein Kommen erwartete, irritierte es ihn, als Schwerter auf sie gerichtet wurden.
„Trochian Minarode. Ich bin der Aufseher über Minandrien, ich wünsche Mylady Fanai zu sprechen", erwiderte er erhaben und reichte ihnen sein Emblem: das Wappen umfasste seit jeher zwei Tiere, was eine Besonderheit der aktunostrischen Geschichte darstellte. Ein Rehbock mit erhobenem Silbergeweih und eine schwarzbraune Eule. Die Waldtiere erschienen gleich groß, der gewaltige, ausgestreckte Flügel des Vogels berührte das sich ihm zuneigende Geweih des Hirsches. Im Hintergrund ragten Berge auf. Im Vordergrund befanden sich braune Pfützen, die das Moor symbolisierten, das sich über seine geliebte Insel verteilte. Als seine Familie das Wappen entworfen hatte, waren zwei Brüder – Zwillinge – Oberhaupt gewesen und sie hatten sich nicht auf ein Tier einigen können, woraufhin sie sich der Anordnung aus Zinoka widersetzt hatten. Ihrem Wunsch war entsprochen worden und Trochian war stolz auf das außergewöhnliche Wappen.
Die Wachen steckten sofort ihre Waffen ein und einer sagte sachlich: „Bitte wartet hier." Daraufhin marschierte dieser Mann durch die gegenüberliegende Tür davon. Nach einigen Minuten kehrte er zurück: „Bitte folgt mir. Eure Leute müssen jedoch hier bleiben." Trochian schloss sich ihm an, wobei seine Irritation über das Verhalten der Wachen wuchs.
Hinter der Tür traten sie in einen Raum von gleichem Aufbau wie der letzte. Sprachlos erkannte er, dass Zinoka bei dieser Befestigung verständlicherweise nie herausgefordert worden war. Als er durch die nächste Tür schritt, erwartete ihn ein dritter Raum, der wie die anderen aufgebaut war. Der Abgesandte fragte sich, wie viele Kammern es wohl zur Verteidigung zum Schutz vor Eindringlingen gab?
In dieser Vorhalle standen mehrere Männer um einen Tisch. Sie sahen auf, als der Aufseher eintrat. „Trochian Minarode. Herzlich Willkommen. Gibt es einen Grund für euer Auftauchen?", fragte einer der Anwesenden.
„Fanai sasuni Ninaak darin", erwiderte der Abgesandte ohne eine weitere Erklärung. Er kannte diese Worte seit seinem Amtsantritt, er hatte sie auswendig gelernt. An erster Stelle hatte er, die Person genannt, die er beabsichtigte zu treffen – die Herrscherin Fanai. Der Mann sah ihn ernst an und nickte dann zwei Soldaten zu, die daraufhin in unterschiedliche Richtungen losliefen. Eine Wache lief zurück zum Eingang, der andere marschierte durch die gegenüberliegende Tür, wo vermutlich Zinoka lag. Der Aufseher wartete. Irgendwann tauchte der Soldat mit Trochians Leuten auf und führte sie alle gemeinsam über eine steile Wendeltreppe hinunter in die Stadt. Man teilte ihm mit, dass sein Gefolge und Gostian in eine Herberge unterkamen, wohingegen sein Leibdiener Windar und er im Türmchenschloss residierten würden.
Überwältigt betrat Trochian Zinoka und sah eine hell erleuchtete Welt aus Farben mit blau-schwarzen und weißen Türmen. Diese ragten bis hoch an die Decke und waren mit bunten Wimpeln geschmückt. Selbstverständlich hatte er schon von Zinoka gehört, aber es in Realität mit seinem majestätischen Anblick zu sehen war doch etwas völlig anderes. Das kohlrabenschwarze Schloss thronte über allem und gab dem Ganzen einen prächtigen Eindruck. Belustigt betrachtete Trochian die Leute, die genauso dunkel und hell waren wie die Türme, denn es waren zumeist schwarzhäutige Stammesmitglieder oder weißhaarige Elben, die ihnen begegneten.
Fasziniert spazierte er durch die Gassen, über die Plätze und unter den Brücken zwischen den einzelnen Türmen hindurch. Leicht hätte man sich hier verirren können und er war dankbar für seinen Begleitschutz. Außerdem fielen ihm die schaulustigen Blicke auf, die sicherlich seinem verwahrlosten Äußeren galten.
Herrscher Risotatus musste ein mächtiger Zauberer sein, denn er kannte Mittel und Wege sich, seine Heere und deren Versorgung blitzschnell an einen beliebigen Punkt zu bewegen. Würde Trochian in diese Geheimnisse eingeweiht werden? Immerhin sollte er die Thronfolgerin heiraten. Als Ehemann würden ihm solche Vorgänge sicher nicht verborgen bleiben. Oder doch? Er hatte keine Ahnung von dem Leben, das ihn erwartete. Die Ehre, die ihm und seiner Familie zuteilwurde, weil er die stumme Prinzessin Areli Yinara Norelia Asina ehelichen würde, konnte er nicht begreifen.
Ehen waren zusammen mit den Religionen von den Katas abgeschafft worden. Nur die Herrscher heirateten noch. Alle anderen wurden durch die Verlobungszeremonie, den Mingutanz, nur symbolisch miteinander verbunden. Heute zählte diese Verbindung leider kaum mehr etwas und Trochian fragte sich, wann diese Tradition endgültig verschwinden würde. Die blauen Wüstenlöwen hingegen durften sogar weitere Ehen eingehen.
Er hatte sich diese Vereinigung immer als etwas besonders Romantisches vorgestellt. Dessen ungeachtet waren seine Heiratspläne eher unter merkwürdigen Umständen zustande gekommen. Schon vor Monaten war in aller Heimlichkeit ein Kontakt über Diener der Herrscherin mit ihm hergestellt worden. Die einzig Beteiligten waren Windar und natürlich Fanai und ihre Untergebenen. Nicht einmal ihr Ehemann Risotatus war in das Arrangement eingeweiht. Das besorgte Trochian, aber man hatte ihm versichert, dass der Herrscher die Entscheidung Fanais mittragen würde. Schließlich, so hieß es, hätte sie völlig freie Hand bei der Auswahl eines Gemahls für ihre Tochter.
Man könnte auch behaupten, dass Trochian keine Wahl blieb. Wie konnte er den Wunsch abschlagen, ohne das Herrscherhaus zu beleidigen? Selbst wenn er begründete Zweifel hatte? Er hatte längst aufgehört, darüber nachzugrübeln. Sogar Windar hatte ihm geraten, der Dinge zu harren, die da kommen mochten. Eine stumme Frau würde ihm nicht von morgens bis abends Vorschriften machen. Damit hatte er sich schlussendlich abgefunden.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro