Trochian der Gespaltene - Kapitel 10.2
Der Abgesannte trat aus dem Zimmer und überließ Äsnats rechter Hand die Führung. Schweigend verließen sie das Haus, marschierten ein paar Straßen entlang und kamen zu einem eindrucksvollen Gebäude. Geisun erklärte ihm dazu nur, dass es das Bürgerhaus war. Hier trugen brave Bürger ihre Anliegen vor und reichten Beschwerden ein. Beeindruckt betrat Trochian das riesige, sechs Stockwerk hohe Haus. Er hatte nie zuvor davon gehört, dass Untertanen Angelegenheiten in eigener Sache vorbringen durften. Bei Problemen wandte man sich an die Stadtwache und wenn diese Interesse zeigte, klärten die Soldaten simple Sachverhalte. Nur in wichtigen Fällen leiteten sie die Anliegen an den Statthalter weiter.
Nach Betreten des Gebäudes kamen sie in einen kleinen Saal, von dem haufenweise Türen und Gänge abgingen. In der Mitte saßen vier Frauen, die alle schwarze Roben übergeworfen hatten und mit dem Rücken zueinander arbeiteten. Vor ihnen waren Schreibtische aufgebaut mit Papierstapeln, von denen sie immer wieder einzelne Papiere nahmen und etwas darauf kritzelten. Vor den Tischen standen Leute brav hintereinander in Schlangen und warteten, dass eine der Frauen ihnen einen Zettel gab, nachdem sie ihr Begehren genannt hatten. Trochian hörte, wie sie sich über Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder beschwerten. Die Angestellten gaben ihnen die nötigen Dokumente und kurze Richtungsanweisungen. Ungläubig beobachtete er die Szene.
Geisun stellte sich nicht an. Zielsicher begab er sich zu einem kleinen Podest, von dem aus er eine gute Sicht hatte und früher oder später eine der Frauen ihn sehen musste. Unverwandt schaute er abwartend in ihre Richtung. In der Zwischenzeit rannten Boten, die ebenfalls schwarz gekleidet waren, aus den Gängen und Türen zu den Tischen, nahmen Stapel von Papieren mit und brachten neue. Diese Laufburschen unterschieden sich von den Frauen, weil sie alle verschiedenfarbige Bänder um ihre Handgelenke gewickelt hatten. Trochian fragte sich, was die Farben bedeuteten, aber konnte kein Muster erkennen. Es war ein ständiges hin und her.
Nachdem die Frau, die ihm am nächsten saß, drei Papiere bekritzelt hatte, schaute sie auf. Erschrocken blinzelte sie Geisun an, dann nickte sie kurz. Sie nahm ein rotes Blatt, kritzelte etwas darauf und winkte einem Boten, der kein buntes Band trug, zu sich heran. Dieser brachte das Schriftstück zu seinem Begleiter, der es sich sichtbar an den Gürtel hängte und sich sofort wieder in Bewegung setzte.
Geisun führte ihn nicht in die Gänge, die von den meisten Bürgern aufgesucht worden waren. Stattdessen lief er geradewegs in den prunkvollsten und größten Flur. Am Ende gab es eine ausladende Treppe, die nach oben und in den Keller wies. Geisun wählte den Weg in das Kellergeschoss und als sie die Stufen runter gestiegen waren, kamen sie in Gewölbe, in denen Unmengen an Papier gelagert wurden. Wachen saßen hier an Tischen, aber behelligten sie nicht weiter. Trochian fiel auf, dass sie ebenfalls schwarz gekleidet waren. Genau wie die Boten, die mit rotgrauen Armbändern herumrannten. Die Laufburschen schienen überhaupt überall im Gebäude unterwegs zu sein. Wobei er sich jetzt fragte, ob unterschiedliche Farben für verschiedene Bereiche zuständig waren. Geisun und Trochian durchquerten eine Tür und dahinter standen sie in einem dunklen mit Fackeln beleuchteten Raum, von dem abermals mehrere Gänge abgingen. Äsnats rechte Hand schlug zielsicher eine Richtung ein und führte ihn wortlos weiter. Sie kamen immer wieder an Zellentüren vorbei, manche hatten Gitterstäbe, durch die man die karg eingerichteten Zellen sah. Vergitterte Fenster wiesen auf die Straße, und aufgrund des einströmenden Lichtes erkannte Trochian sogar den einen oder anderen Gefangenen.
Schließlich stoppten sie vor einer Gefängniszelle und Geisun bedeutete ihm, zu schweigen. Dann öffnete er die Tür mit einem Schlüssel. Der Aufseher blieb stehen und beobachtete, wie sein Führer den Insassen ansprach. Der Abgesandte hielt den Atem an – er hatte diesen Mann nie persönlich getroffen, aber in seinem Traum war er der Dragoner. Ob Geisun wusste, dass der Gefangene ein Verfolgter war? Wie hatte es ihn in diese Zelle verschlagen? Würde es Trochian möglich sein, ihm zur Flucht zu verhelfen?
Äsnats Vertreter sprach nur kurz mit dem Mann, dann trat er zur Seite und erlaubte ihm, einen ungestörten Blick auf den Dragoner zu werfen. Der Gefangene sah den Aufseher desinteressiert an. Geisun hatte ihn gefragt, wie er heiße, worauf er keine Antwort erhalten hatte. Dennoch wunderte sich Trochian über das Unglück, wie der Mann in Äsnats Fänge geraten war.
Vermutlich blieb ihm nicht viel Zeit. Er hatte Risotatus nur gesagt, dass er drei Leute in seinem Traum erkannte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand mitbekam, dass es sich dabei um den Dragoner handelte? War eine Einmischung möglich?
Er würde behaupten, dass er Äsnat nicht getraut hatte und sich nachts alleine her schleichen habe wollen, um den Mann zu befragen. Ein vager Plan entstand in seinem Kopf, den Häftling zu befreien. Als Geisun zu ihm schaute, verneinte er, dass er den Dragoner kannte. Äsnats rechte Hand sagte etwas äußerst Abfälliges zu dem Gefangenen, dann kehrte er zu dem Aufseher zurück und verschloss die Zellentür. Dieses Mal merkte sich Trochian jede Abbiegung, während er seinem Führer schweigend folgte.
Auf direktem Weg marschierten sie zurück zu Äsnats Haus. Ein Diener öffnete und führte sie in einen Salon. Dort warteten sie eine Weile, bis der Gelbe sich wieder zu ihnen gesellte.
„Und?", fragte der sofort.
„Leider habe ich ihn noch nie gesehen. Tut mir leid", erklärte Trochian. Er wusste zwar nicht, warum er sich bei Äsnat entschuldigte, aber dieser Mann hatte eine Art an sich, der man sich besser unterordnete. Außerdem wollte er den Gelben lieber nicht zum Feind haben.
„Oh schade. Und ich dachte wir hätten eine Spur. Tja, dann mein Freund, kann ich euch jetzt sagen, dass wir eine verschlüsselte Nachricht zugespielt bekommen haben," erklärte Äsnat. Er holte einen Zettel aus der Tasche und las vor:
Verdammte Josuan und Massua Tiguadade, Faniso, Oranos und Gindo aus Fagadasien mit Dieben Waf und Sinara, Verdammten Bennoli, Ateras, Katu, Suaso, Semio, Tonyar und Nassia aus Zinoka auf Flucht. Ziel liegt östlich. Josuan und Nassia sind von der Gruppe getrennt worden. Nassia ist die Prinzessin Areli. Erwarte Anweisungen.
Das war die Nachricht, aber darüber hinaus war ein kleiner Lageplan bei der Nachricht, damit wir das Lager hätten finden können, aber sie waren nicht mehr dort, als wir ankamen."
Äsnat ließ die letzten Worte im Raum stehen und beobachtete Trochian genau, ebenso hatte Geisun ihn kaum eine Sekunde aus den Augen gelassen.
„Und sagt dir das was?", fragte der Gelbe.
Der Aufseher sah seinen Gegenüber abschätzig an und erwiderte vorsichtig: „Wenn ihr keine Anweisungen von Risotatus habt, wieso glaubt ihr, könnte ich euch weiterhelfen."
„Du weißt also etwas. Wieso wird nicht offiziell nach dieser Gruppe gesucht? Das verstehe ich nicht", stellte Geisun fest.
Trochian erwiderte darauf nichts.
Der Gelbe nickte und erkundigte sich unschuldig: „Was meinst du, Geisun? Spielt er uns was vor?" Überrascht sah der Abgesandte zu ihm. „Was soll das Äsnat. Was hätte ich für einen Grund euch zu belügen?", fragte er besorgt.
„Gute Frage, Trochian. Sag du es mir!", dieses Mal grinste der massige Mann ihn überheblich an und der Aufseher warf einen Blick auf den wahren – gefährlichen – Nasik.
„Was macht ihr nun mit eurem Gefangenen", lenkte der Abgesandte das Gespräch auf etwas unverfänglichere Themen.
Äsnat sah ihn abfällig an. „Morgen wird er gefoltert und dann erfahren wir schon, was wir wissen wollen. Meine Zeit mit euch ist jedenfalls unnütz gewesen. Nun denn, reist einfach weiter und tut, was immer ihr tun müsst. Oder habt ihr noch eine Nachricht für Risotatus, sein Berichterstatter hängt hier noch irgendwo herum?", zischte er gefährlich. Trochian schüttelte nur den Kopf. Da drehte Äsnat sich unwirsch um und verließ ohne einen weiteren Gruß den Raum. Geisun nahm den Aufseher kurz ins Visier, dann folgte er seinem Herrn.
Der Abgesandte ließ sich selbst hinaus, nicht einmal die Diener kümmerten sich um ihn. Er verlief sich mehrere Male, bis er zuletzt zu seiner Herberge zurückfand, wo Windar ihn erleichtert begrüßte. „Trochian, da bist du ja endlich. Ich habe mich schon gefragt, ob ich dich suchen muss. Die zwei schienen mir nicht von der harmlosen Sorte zu sein", rief er befreit.
„Das stimmt", antwortete er lächelnd. „Aber die Angst vor Risotatus war bei Ihnen größer als, dass sie ihre Möglichkeiten mit mir ausgeschöpft hätten und Druck auf mich ausgeübt hätten. Ich schien ihnen nicht der Mühe wert. Aber mir kommt das gerade mehr als recht. Du wirst nicht glauben, was ich alles erfahren habe. Die Prinzessin und Josuan wurden von der Gruppe getrennt und rate mal, wen die zwei Halunken in ihren Kellern gefangen haben?" Er zögerte eine bedeutungsschwere Pause hinaus, dann rief er: „Den Dragoner! Und wie es scheint, wissen sie das überhaupt nicht!" Triumphierend sah Trochian zu Windar.
„Und was nützt uns das? Ihr wollt ihn doch nicht da herausholen?", erkundigte sich der Magier argwöhnisch. Dann seufzte er aber, als er seinen entschlossenen Gesichtsausdruck sah und versuchte ihn von seinem Plan abzubringen. „Das ist viel zu gefährlich und es ist vorherbestimmt, dass er die anderen trifft, also schafft er das auch ohne uns. Wir sollten uns vielleicht eher um Nassia und Josuan kümmern. Oder was meint ihr? Ich habe doch schon erwähnt, dass ich hier in der Nähe von einem Außenposten weiß, der uns vielleicht weiterhelfen kann. Vor allem wenn Nassia und Josuan sich von der Gruppe getrennt haben, kann man uns dort vielleicht sagen, wie wir sie finden können."
Aber Trochian wollte nichts von der Thronerbin hören. Die konnten sie später suchen. „Was ist wenn der Dragoner nicht alleine dort rauskommt? Was wenn wir ihn da heraus holen sollen? Vielleicht hat er auch Informationen für uns?", gab der Abgesandte zu bedenken.
„Was, wenn eure Hilfe erst später benötigt wird und ihr jetzt dem Feind viel zu früh offenbart, dass ihr ein Eingeweihter seid?" Windar kam mit guten Argumenten um die Ecke, aber das hatte Trochian erwartet.
„Und warum bin ich dann auch ein Traumseher? Wenn ich überhaupt nicht wichtig bin, warum hat mir dann jemand diese Träume geschickt? Jemand muss auch die Elbin finden und das kann ich vielleicht nur mit der Hilfe des Dragoners. Du weißt ganz genau, dass ich hier nicht ruhig sitzen werde. Also gib lieber gleich auf, außerdem ist es gar nicht so gefährlich", erwiderte Trochian und sah Windar belustigt an. Sein Magierfreund war schon immer der Vorsichtige der beiden. Am Ende würde sein Freund ihm ohne zu zögern helfen, das wussten sie.
Zusammen heckten sie einen Plan aus. Am späten Nachmittag trafen sie in der Stadt ihre Reisevorbereitungen und passierten dabei das Bürgerhaus, wo Trochian alleine außen an den Zellen vorbei lief, um nach dem Dragoner zu Ausschau zu halten.
Er fand ihn in einer der letzten Verliese, wo er teilnahmslos gegen die Wand gelehnt vor sich hinstarrte. Er bemerkte ihn nicht einmal. Trochian sprach den Mann nicht an und lief weiter, um am Ende des Platzes ein Stück Brot zu kaufen. Er merkte sich aber die Zelle, in die der Dragoner eingesperrt war: sechste von neun auf dieser Seite. Er kehrte zu Windar zurück und gemeinsam beendeten sie ihre Einkäufe. Sie marschierten in die Herberge und bezahlten den Wirt damit sie früh am nächsten Morgen gleich aufbrechen konnten. Dann aßen sie Abendbrot und legten sich abwechselnd schlafen, um die vierte Stunde nicht zu verpassen.
Mitten in der Nacht weckte ihn Windar und sie tranken einen von den Zaubertränken, die der Magier immer und überall mit sich herumschleppte. Dieser spezielle Trunk machte sie für eine kurze Zeit unauffindbar, falls man doch nach ihnen suchte und sich Spione an ihre Fersen geheftet hatten. Gemeinsam mit ihren Pferden verließen sie die Herberge, aber entdeckten glücklicherweise niemanden, der sie beschattete. Also hatte der Gelbe tatsächlich das Interesse an ihnen verloren. Die Straßen waren größtenteils leergefegt und wenn doch einmal Geräusche von Nachtschwärmern zu hören waren, versteckten sie sich sofort. Sie brachten die Pferde zu einem Wirtshaus, danach richteten sie ihre Schritte gen Bürgerhaus.
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